Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[3081]

[Johannes Gast]
an Bullinger
Basel,
21. November 1547

Autograph: Zürich StA, E II 366, 191 (Siegelspur) Ungedruckt

[1]Gast sieht sich gezwungen, seinem Brief [nicht erhalten]noch Folgendes hinzuzufügen: Es gibt untrügliche Indizien. dass Kaiser Karl V. einen Angriff auf die Eidgenossenschaft plant! Adlige behaupten nämlich, er werde sich der Eidgenossen genauso wie der Schmalkaldener bemächtigen. -[2]Zudem heißt es, dass Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach um die verwitwete Herzogin von Lothringen, Christine von Dänemark, wirbt. Maximilian, König Ferdinands Sohn, soll angeblich Gouverneur der Niederlande werden und [Maria], die Erstgeborene des Kaisers, heiraten, während der polnische König Sigismund II. August angeblich um eine Tochter des türkischen Sultans Suleiman wirbt. Der getäuschte Landgraf Philipp von Hessen wird von allen im Stich gelassen. Nur der Herzog von Braunschweig hält noch zu ihm und versucht alles Mögliche, um ihn freizubekommen. Die Festung Kassel wird niedergerissen. -[3] Was denn, wenn der Kaiser die Festung Hohentwiel einnimmt? Dann wäre es wohl um die Eidgenossen geschehen! Der vom Kaiser [sozusagen]gefangene Herzog Ulrich von Württemberg muss zu allem Ja und Amen sagen, weil er sich [während des Schmalkaldischen Krieges als unentschlossen]erwies, obwohl er eine mächtige Armee besaß. Er hatte Angst, die [Schlacht?] zu verlieren, und verlor schließlich sein ganzes Fürstentum! Was denn, wenn die Kaiserlichen nach und nach den Breisgau, das Elsass und die Ortschaften des Schwarzwalds besetzen und mit vereinten Kräften die Eidgenossen überfallen? Karl V. besitzt auch Truppen in Mailand, im Piemont, in Schwaben und im Burgund! Doch bleiben die Eidgenossen blind und wollen erst dann klug werden, wenn sie angegriffen werden und es vermutlich schon zu spät sein wird! Der Herr schütze sie vor den Feinden, die ihre Freiheiten bedrohen, ja gänzlich vernichten können. Wer wird sich wohl dem Kaiser widersetzen, der seine Ahnen rächen und seine ursprüngliche Heimat wieder an sich reißen will? -[4]Merkwürdig! Was haben die Venezianer und die päpstlichen Gesandten auf der Badener Tagsatzung zu suchen? -[5] In Frankfurt kam es erneut zu Seuchenausbrüchen, obwohl die gottlosen Truppen die Stadt verlassen haben. -[6]Königin Maria von Ungarn kehrt wieder heim, weil sie von ihrem Bruder, dem Kaiser, dazu aufgefordert wurde, um nicht der in Augsburg wütenden Pest zum Opfer zu fallen. Wurde dieser doch begreifen, dass die Pest überall dort ausbricht, wo er mit seinem Heer erscheint, und demnach seine Räte dazu [ermahnen], ihm Maßnahmen vorzuschlagen, die dein Frieden und dem christlichen Glauben in Deutschland und ganz Europa dienlich sind,

zu tun hatte und so Blasius kennen gelernt haben wird. - Trifft dies zu, handelt es sich bei der danach erwähnten Frau Gotthards um Regula Rordorf; s. HBBW VIII 164, Anm. 76.
7 Zu deren Namen s. Nr. 2885, Anm. 23.
8 Vgl. HBBW XIII, 322 und XVI, 130.


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SO dass man sich endlich mit vereinten Kräften dem Sultan widersetzen könnte! Will er ein besonderer Kaiser sein, muss er den Papst absetzen, die Bischöfe zu einer Reformation gemäß dem Worte Gottes zwingen, die Kirche von, den Harpyien befreien und überall in Deutschland und anderswo gottesfürchtige, gelehrte Kirchendiener einsetzen, die das Wort Christi, nämlich den Glauben an diesen allein, wahrhaftig und ohne jede Verfälschung verkündigen. -[7]Konstanz wird sich wohl mit dein Kaiser aussöhnen, da sich der Truppenführer Sebastian Schertlin am 19. November nach Basel zurückgezogen hat. Er logiert im Gasthaus "Zum [Roten] Ochsen ". -[8]Karl V. plant einen Bund, der ganz Deutschland einbeziehen soll, und dies, ehe etwas liber das Konzil beschlossen wird. Alle Reichsstände nicken zustimmend und wagen keinen Mucks gegen seine Anordnungen. -[9]Abermals Größe!

S. in domino. Cogor et hec adiicere meis literis 1 : Passim rumor est caesarem 2 velle expugnare Helvetiam. 3 Indicia non fallunt. Spargunt nobiles, der Carie werde bald mit den eidgnossen thun wie den Schmalckaldischen.

Aiunt praeterea Albertum, marchionem Brandenburgensem, 4 ambire viduam ducissam Lothringensem. Maximilianus 5 , Ferdinandi filius, gubernator erit Inferioris Germanic, cui dabunt in uxorem primogenitam 6 caesaris. Polonum 7 aiunt procari filiam Turcae 8 . Lantgravius 9 deceptus ab omnibus derelictus excepto Brunswicensi duce 10 , qui omnibus modis laborat pro illius redemptione et libera liberatione. Arcem Cassel caesareani

1 Ein nicht erhaltener Brief, auf den auch der Abschiedsgruß unten Z. 42 hindeutet, und der vermutlich auf die nicht mehr erhaltene Antwort Bullingers auf die von Gast in seinem Brief Nr. 3060 gestellte Frage zur Tanzwut reagierte.
2 Kaiser Karl V.
3 Siehe zuletzt Nr. 3078, Anm. 14; und unten Z. 10-21.
4 Albrecht II. Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach. - Damals kursierte vielmehr das Gerücht (das sich wie auch vorliegendes als falsch erweisen sollte) von einer Heirat zum einen der Prinzessin Anna von Oranien (der verwitweten Schwester Herzog Franz' I. von Lothringen) mit Albrecht Alcibiades, zum anderen der unten erwähnten Christine von Dänemark (Witwe Herzog Franz' I. von Lothringen - eine Nichte des Kaisers) mit König Sigismund 11. August von Polen; s. Venetianische Depeschen II 368f, Anm. 2; NBD X 204 mit Anm. 1. - Offenbar war noch nicht bekannt, dass der seit 1545 verwitwete Sigismund etwa Ende September 1547 Barbara Radziwill heimlich geheiratet hatte; s. Pisma historyczne, hg. y. Michal Balinski, Bd. 1, Warschau 1843, S. 45-58. - Albrecht blieb ledig, und Christine von Dänemark heiratete nicht mehr.
5 Der spätere Kaiser Maximilian IL, Sohn König Ferdinands I. -Erneut ein falsches Gerücht: Maria von Ungarn (die Schwester des Kaisers) sollte bis 1555 Statthalterin der spanischen Niederlande bleiben.
6 Maria von Spanien (geb. 1528), die ihren Cousin Maximilian am 13. September 1548 heiratete.
7 König Sigismund 11. August von Polen. - Gast hatte dieses falsche Gerücht schon am 17. März 1547 mitgeteilt; s. HBBW XIX 421,7-12. Siehe aber oben Anm. 4.
8 Sultan Suleiman I. - An welche Tochter damals gedacht war, ist unbekannt.
9 Der in Gefangenschaft liegende Philipp von Hessen.
10 Gemeint ist vielleicht Herzog Heinrich d.J. von Braunschweig-Wolfenbüttel, da dieser den Landgrafen etwa im November besucht hatte (von diesen aber abgewiesen wurde); s. Moritz von Sachsen PK III 647f, Anm. 1 zu Nr. 901. In Frage käme auch Herzog Philipp I. von Braunschweig-Grubenhagen, doch konnte sein etwaiger Einsatz zugunsten des Landgrafen nicht belegt werden.
11 Die Festung Kassel wurde auf Beschluss des Kaisers vom 31. August (und gegen die Bestimmungen der Halleschen Kapitulation; s. Nr. 3007, Anm. 5) seit dem 24. September geschleift. Bis Ende November


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Quid, si caesar obtinere posset arcem Hohenwiel 12 in perniciem totius Helvetie? Nam dux Ulricus caesaris captivus et cogitur ad nutum caesaris amen dicere, quia aliter non voluit agere, habens secum fortissimum exercitum 13 . Timuit, ne perdat certatum a , et perdidit sua timiditate totum suum principatum! 14 Quid, si sensim occuparent caesareani Brisgoiam, Alsatiam, civitates Herciniae Sylvae 15 , et demum totis viribus irrumperent in Helvetios? Habet 16 etiam sua praesidia Mediolani, in Pedemontana regione, in Suevia, in Burgundia. Sed nolumus sapere nisi icti, et fortassis tardius quam nobis commodum fuerit. Dominus nos custodiat ab iis adversariis, quae libertati nostrae officere possunt aut omnino pessundare. Caesari quis malediceret, si quid institueret contra nos? 17 Proavos 18 suos ulcisci vult et patriae terrae partem ad se iterum trahere cogitat.

Quid Veneti 19 , quid pontificii 20 acturi sunt, mirum, in Badenis comitiis 21 . Francofordiae 22 iterum pestis recrudescere incipit, et mirum, quum vacua sit militibus istis impiis.

a Lesung unsicher. Vielleicht war tenuatum [corpus] beabsichtigt.
waren die Arbeiten weit vorangeschritten; s. Moritz von. Sachsen PK III 544, Nr. 772; 604f (Anm.); 649, Nr. 904; Sascha Winter, Die Residenz und Festung Kassel um 1547. Ein Beitrag zur Stadtbildgeschichte, in: Landgraf Philipp der Großmütige von Hessen und seine Residenz Kassel, hg. y. Heide Wunder u.a., Marburg 2004, S. 120-122.
12 Die nur 30 km nordwestlich von Konstanz gelegene Festung Hohentwiel. Hier wird erneut (s. oben Z. 1-3) ein Angriff der Kaiserlichen gegen Konstanz und die Eidgenossenschaft befürchtet. - Der weiter unten erwähnte Herzog Ulrich von Württemberg musste sich im Hohentwieler bzw. Heilbronner Vertrag vom 3. Januar 1547 (s. dazu HBBW XIX 106, Anm. 21) verpflichten, dem Kaiser "Pass und Öffnung in seinem Land und seinen Festungen" zu gewähren; s. Heyd, Ulrich von Wurtt. III 472; Franz Brendle, Dynastie, Reich und Reformation. Die württembergischen Herzöge Ulrich und Christoph, die Habsburger und Frankreich, Stuttgart 1998, S. 306.
13 Herzog Ulrich hatte zu Beginn des Schmalkaldischen Krieges starke Truppen ausgehoben; s. HBBW XVII 148,10f; 191,90f; 208,14-16; 228,25-27.
14 Bezugnahme auf die zögerliche Haltung Herzog Ulrichs im Schmalkaldischen
Krieg; s. dazu Brendle, aaO, S. 300-308; HBBW XVIII 446,48.
15 Herciniae Sylvae: des Schwarzwaldes.
16 Subjekt ist der Kaiser.
17 Vgl. Nr. 3071,43f; Nr. 3079,23-34.
18 Karl der Kühne, Urgroßvater Karls V. (der im Januar 1477 bei Nancy in einer Schlacht gegen die Eidgenossen gefallen war) und Friedrich III., ebenfalls ein Urgroßvater Karls V. (der vergebens versucht hatte, mithilfe der Zürcher im Alten Zürichkrieg 1440-1450 die verlorenen Gebiete im Aargau zurückzuerlangen).
19 Von einer solchen Gesandtschaft ist schon in Nr. 3051, Anm. 4, die Rede. - Vielleicht liegt hier eine Verwechslung mit Mailand vor; s. EA IV/1d 887 n.
20 Girolamo Franco und Albert Rosin; s. Nr. 3046, Anm. 17.
21 Diese Tagsatzung begann am 22. November in Baden; s. Nr. 3065, Anm. 62.
22 Gast korrespondierte mit einem in Frankfurt wohnhaften Bürger; s. HBBW XIX 300 und Anm. 4. -Infolge der monatelangen Besatzung Frankfurts durch die Kaiserlichen kam es dort zu Seuchen mit über 2'000 Opfern; s. Melchior Ambach, Frankfurter Chronik 1546-47, in: Quellen zur Frankfurter Geschichte, hg. y. Hermann Grotefend, Bd. 2: Chroniken der Reformationszeit, Frankfurt a.M. 1888, 5. 332; Irene Haas, Reformation -


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Soror 23 caesaris redit domum admonita a caesare, ne peste corripiatur Auguste. Utinam caesar cogitaret pestem grassantem omni in loco, in quem ille cum suo exercitu venerit, sequi, hoc est, b dein admonere b etiam suos consiliarios, quo optima quaeque consulant, quae tranquillitat[i]c tum fidei christianae tum Germania, imo totius Europe profutura essent, quo tandem coniunctis viribus Turcae resisterent. Si vult unicus esse caesar, 24 necesse erit, papa[m]25 e sede sua deiiciat, episcopos ad reformationem iuxta verbum dei cogat, ecclesi[am] ab harpiis istis 26 defendat, ministros pios et doctos passim in Germania et aliis in locis constituat, quo Christi verbum, hoc est, unica illa fides in Christum, filium dei, praedicetur solide, pure, syncere absque omni fuco.

Constantiam in gratiam caesaris redituram non dubito, 27 quum capitaneus Schertlin 28 ad nos venerit die 19. novembris et apud bovem hospitio 29 sit receptus.

Faedus constituet caesar in tota Germania, 30 antequam quicquam concludatur de concilio 31 . Consentiunt omnes imperii status 32 neque audent hiscere contra praescripta caesareana.

Vale iterum. 33 21. novembris 1547.

[Ohne Unterschrift.]

[Adresse darunter:] Domino Heinrycho Bullingero suo. Zurich.

b-b Lesung unsicher. Möglich wäre auch deum admonere. —
c Hier und unten Textverlust durch Papierverlust.
Konfession - Tradition. Frankfurt am Main im Schmalkaldischen Bund 1536— 1547, Frankfurt a.M. 1991, S. 330f. — Im Oktober waren die zwölf letzten Fähnlein von Maximilian von Egmont, Graf von Büren, aus Frankfurt entlassen worden; s. HBBW XIX 300, Anm. 5.
23 Königin Maria von Ungarn. Sie blieb dennoch bis zum 3. Februar 1548 in Augsburg; s. Nr. 3031, Anm. 53. — Zur dort grassierenden Pest s. zuletzt Nr. 3070,17f; Nr. 3076,[6].
24 Zu verstehen: Will er der Kaiser der Endzeit sein.
25 Damals Paul III.
26 Die verdorbenen Geistlichen.
27 Zur Aussöhnungsbereitschaft der Konstanzer s. zuletzt Nr. 3073,4-6.
28 Sebastian Schertlin. — Siehe dazu schon Nr. 3073, Anm. 40.
29 Der Gasthof "Zum Roten Ochsen" in Kleinbasel.
30 Der Kaiser hatte vor, wieder einen Bund zu errichten, welcher (wie Gast hier richtig bemerkt) nunmehr das ganze Reich und überdies die burgundischen Erblande der Habsburger einschließen sollte. Entgegen Gasts nachfolgender Äußerung scheiterte dieses Vorhaben am Widerstand der Stände; s. Nr. 2960, Anm. 25.
31 Uber die Weiterführung des Konzils von Trient. — Siehe dazu Nr. 3005, Anm. 41; Nr. 3021, Anm. 18.
32 Dies stimmt nicht; s. oben Anm. 30.
33 Siehe dazu oben Anm. 1.