Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2960]

Bullinger
an Ambrosius Blarer
[Zürich],
22. Juli 1547

Autograph: St. Gallen Kantonsbibliothek Vadiana, Ms 35, 254 (Siegelspur) Teildruck und zusammenfassende Ubersetzung: Blarer BW II 641f, Nr. 1459

[1]Bullinger hat Blarers vertraulichen Brief vom 18. Juli [Nr. 2955] am 22. Juli empfangen. Er schickt die Kopie des Antwortschreibens der Konstanzer an [König Heinrich IL] von Frankreich dankend zurück. Seiner Ansicht nach haben die Konstanzer besonnen und umsichtig gehandelt, da es besser ist, wenn sie selbst, ohne Hilfe einer fremden Garnison für ihren Schutz sorgen. Sobald nämlich eine Stadt Fremde anwirbt, erregt sie Misstrauen sowohl bei Freunden als auch bei Feinden. Blarer möge darauf achten, dass Kaiser Karl V. Konstanz nicht mit List in seine Gewalt bringt und die Regierung der Stadt einem seiner Gefolgsmänner anvertraut. Die Geschichte von Troja, wie Vergil sie erzählt, ist eine treffende Warnung. Vor dem Kaiser muss man sich in Acht nehmen. Er ist ein böser und listiger Mensch, der mit Konstanz gewiss keine Ausnahme machen wird. Den Reichsabschied wird er der Stadt aufzwingen, genauso wie auch all den anderen Städten. - [2] Der Reichstag beginnt am 1. September. Dabei soll es erstens um den Erhalt von Ruhe, Frieden, Recht und Ordnung, zweitens um einen Ausgleich in der Religionsfrage und drittens um die Verteidigung des Reichs gehen. - [3] Das erste Ziel soll mit dein [vom Kaiser neubesetzten]Kammergericht erreicht werden. Dieses wird all die um ihre Einkünfte gebrachten Geistlichen wieder in ihre Rechte einsetzen und Entschädigungen anordnen. Das zweite Ziel will man mit dem Konzil oder auch mit Hilfe eines ähnlichen Buches wie dem [Wormser Buch], das vor Jahren in Regensburg entstand, erreichen. Dann wird die Lage [der Protestanten] noch schlimmer als früher! Das dritte Ziel soll man dank eines großen Reichsbundes verwirklichen; ein Bund, dem Teufel, Baal [d.h. Papsttum], Mönche und Pfiffen, die blutrünstigen Geschlechter der Könige Ahab, Jerobeam

33 Als unselig, traurig machend zu verstehen.
34 Damit wird nicht nur auf Textilien, sondern auch auf die als Lumpen bezeichneten Kaufleute selbst angespielt.
35 Vgl. oben Anm. 21.
36 Beide Lager.


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und Atalja, Österreich wie auch das Burgund angehören sollen. Dieser Bund wird wohl mehr Unfrieden und Aufruhr stiften als die Hydra Köpfe hat. Gottes Zorn über das Reich ist groß, weil sich dieses so undankbar gezeigt hat. - [4] Im Umgang mit dem Kaiser ist höchste Vorsicht geboten, da er ein offener Feind Gottes und ein Mörder von Christi Zeugen ist! Er steht nicht im Dienste der Wahrheit. Was ihn kennzeichnet, ist spanische Hinterlist und antichristliches Vorgehen, mit denen er den Städten und Fürsten viel versprochen, aber nichts gehalten hat. -[5]Man bitte Gott um Gnade. Gruß an Sebastian Schertlin, Thomas Blarer und Konrad Zwick.

Fürgeliebter herr und fründ, uwer trüw schryben, 18. iulii uußgangen 1 , hab ich 22. desselben monats empfangen. Schick üch üwer copiam der antwort, dem Fr[antzosen]2 gaben, wider. Dancken üch zum höchsten. Mins verstandts 3 ist von den uwern in so verworner sach nitt unwyßlich noch unbedachtlich gehandlet. 4 Dann 5 wo ir darzu kummen mogend, das ir selbs und alein 6 üwer statt inn- und uffenthaltend 7 , so stadt es rächt. Sobald jr frömbde darin lassend, ist angst und nodt vorhanden von fründen und finden. Lugend 8 aber eigentlich 9 , das üch der keyser 10 nitt ettwan 11 mitt list und betrug üwer stat in sinen gwallt bringe, und darin setze, wer imm geliebt.

Creditis avectos hostes aut ulla putatis

Dona carere dolis Danaum? Sic notus Ulysses? 12 Jr habend mitt einem listigen, bösen, glatten 13 , betruglichen menschen Zil handlen. Dorumb lügend für üch! Ich besorg, ich besorg, er werde mitt üch nüt besonders'4 14 machen: Jr werdint des rychsabscheid wie andere geläben 15 müssen.

Der rychstag gadt an 16 1. septembris. Da wirt man fürnemlich handlen von 3 articklen:

1. Von ruw, frid, gericht und rächt tütsches landts.

2. Von verglichung des gloubens und einer reformation.

3. Von schutz und schirm tütscher nation. 17

1 Brief Nr. 2955.
2 König Heinrich II. von Frankreich. - Zum hier erwähnten Brief s. Nr. 2955, Anm. 12.
3 Mins verstandts: Meiner Meinung nach; s. SI XI 991. -Vgl. aber Bullingers Kritik an dem hier erwähnten Schreiben der Konstanzer in Nr. 3062,42-47.
4 In Anspielung auf Nr. 2955,17-19.
5 Denn.
6 D.h. ohne Hilfe einer auswärtigen Garnison.
7 inn- und uffenthaltend: erhalten und beschirmt; s. SI 111232.
8 Schaut. 9 genau (hin).
10 Karl V.
11 irgendwann.
12 Vergil, Aeneis, 2, 431.
13 schmeichelnden.
14 nüt besonders: keine Ausnahme.
15 befolgen.
16 gadt an: beginnt.
17 Bullinger paraphrasiert hier Ausschnitte aus einem in Augsburg am 14. Juli verfassten Brief, der an einen Zürcher oder an den Zürcher Rat gerichtet war. Er fertigte sich davon Auszüge an, die heute in Zürich ZB, Ms A 43, 419, aufbewahrt werden. - Dieser Auszug ist Teil einer Sammlung von drei weiteren Auszügen aus Briefen, die nicht an Bullinger gerichtet waren. Die Sammlung besteht aus zwei Blättern oder vier Seiten (Ms A 43,


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Der 1. artickel wirt mitt dem kamergericht 18 uußgericht. Das wirt alle bißdschaff 19 äppt und pfaffen ynsetzen, 20 kosten und schaden heysen inen erlegen 21

Der 2. wirt mitt dem consilio 22 zerächt geleit oder mitt einem sölichen buch, wie zu Regenspurg vor jaren 23 ward fürgebracht a . Erunt posteriora primis deteriora! 24

Der 3. wirt mitt dem grossen pundt vervolkom-|| 254v. net! 25 In den pundt werdent gefasset 26 Belial 27 und Baal 28 munch und pfaff, die blutigen hüser 29

a In der Vorlage fürgebrach.
417-420). Der erste Auszug (auf S. 417) ist einem Brief Schertlins aus Konstanz vom 6. Juli entnommen; der zweite (S. 417) dem Brief eines Unbekannten aus Konstanz vom 8. Juli. Zum dritten ist auf S. 418 das in Nr. 2959 veröffentlichte "Carmen Germanicolatinum"abgeschrieben, von dem auch in Nr. 2968, Anm. 46, die Rede ist, weil Bullinger es dem vorliegenden Brief beilegte (vgl. nämlich Nr. 2968,44-46). Das vierte Exzerpt ist der schon oben erwähnte Auszug aus einem in Augsburg am 14. Juli geschriebenen Brief. Auf der sonst leer gebliebenen Versoseite des zweiten Blattes (S. 420) vermerkte Bullinger für sich die in diesen Auszügen vorkommenden Themen: "Landtgraff gefangen vomm Keyser. Das Schmalkaldisch bad. Der Keyser zücht gen Augspurg. Last die regiment louffen. Beschript ein Rychstag". Angesichts der Distanz zwischen Augsburg und Zürich wird die Sammlung dieser Auszüge frühestens am 19.120. Juli und spätestens am Abfassungstag (22. Juli) des vorliegenden Briefes entstanden sein.
18 Karl V. strebte eine Neuordnung des Kammergerichts nach eigenen Vorstellungen an; s. Rabe, Reichsbund 125.
19 Scherzhafte, entstellte Form für Bischof (s. SI IV 1762), ein Wortspiel mit "Bißt [frißt] d'Schaf [die Schafe]" in Anlehnung an Joh 10, 12.
20 Die Rede ist von den Geistlichen, die wegen der Reformation zum Teil um ihre Territorien, Güter und Einkommen gebracht worden waren.
21 bezahlen; s. SI III 1187.
22 Diese Schreibung verbirgt eine Pointe; s. HBBW XV 191,14; XVI 169, Anm. 19; XIX 78,4. - Auf dem "geharnischten Reichstag" von Augsburg drängte der
Kaiser den protestantischen Reichsständen einen problematischen Konzilskonsens auf: Sie sollten sich zur Annahme der künftigen Konzilsbeschlüsse bereit erklären; s. Martin Heckel, Martin Luthers Reformation und Recht, Tübingen 2006, S. 264.
23 1540/41. -Beim Buch handelt es sich um das so genannte "Wormser Buch" von Dezember 1540 (Text in BucerDS 1X/1 323-483), auf dessen Basis die Regensburger Religionsgespräche geführt worden waren; s. HBBW XI 195, Anm. 33.
24 Vgl. Mt 12, 45.
25 Kaiser Karl V. wurde im Januar 1547 von seinem Bruder König Ferdinand I. zu einer monarchischen Reichsreform angeregt, die er auf dem Reichstag von Augsburg (s. dazu Nr. 2952. Anm. 6) energisch vorantrieb (s. dazu schon Nr. 2927, Anm. 10). Es ging um die Idee eines Reichsbundes nach Art des Schwäbischen und des Schmalkaldischen Bundes, in dem alle Reichsstände zusammengefasst werden sollten. Karls Reichsreformpläne hatte zum Ziel, die kaiserliche und habsburgische Machtposition im Reich auf Dauer zu stabilisieren und die Interessenspolitik des Hauses Österreich und seiner Länder voranzutreiben. Mit der Einsetzung eines universalen Kaisertums wollte der Kaiser die Einheit der Kirche wieder herstellen; der Widerstand gegen das Reichsoberhaupt. den die Reichsstände mit Hinweis auf ihr evangelisches Bekenntnis gerechtfertigt hatten, sollte gebrochen werden. Die angestrebte Reichsreform kam jedoch nicht zustande, da die Stände eine solche Zentralisierung der Macht ablehnten; s. Rabe, Reichsbund 125-127, 136-176, 273-294; Volker Press, Die Bundespläne Kaiser Karls V.


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Achabs 30 , Jerobeam 31 und Atthali 32 , Österrych, Burgund, etc. Der wirt me unfrid und uffrür bringen, dann Hydra habe köppff gehept. 33 Nun wolhin 34 ! Ich sich 35 , das der zorn gottes groß ist über Tütschland propter ingratitudinem.

Fürgeliebter herr und bruder, ich erman üch zum höchsten zu bedencken, wie und was jr mitt dem keyser handlind, qui est ex professo hostis dei, martyrum Christi latro, qui veritatem non servat, qui ex dolis Hispanicis et artibus antichristianis compositus est, der vil den stetten und fürsten zugesagt und nüt gehallten hatt!

Wir wöllend gott umb gnad bitten. Gott mitt üch und den uwern allen. Grüssend mir h. Sebastian Schertlin, üwern bruder 36 und vetter 37 . Datum uff Mariae Magdalenae anno 1547.

Bullinger.

[Adresse auf f. [254a],v.:] Praestantissimo viro d. Ambrosio Blaurero, fratri longe charissimo suo. Constantz.