Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[3079]

Oswald Myconius
an Bullinger
Basel,
19. November 1547

Autograph: Zürich ZB, Ms F 62, 378 (Siegelspur) Zusammenfassung: Henrich, Myconius BW 1002f, Nr. 1118

[1]Ludwig Lavater blieb bis zum [17. November, dem]Tag nach dein Othmarstag, in Basel, denn es gab Gerüchte sowohl über einen Krieg [in Frankreich]als auch über einen Pestausbruch in Paris, infolgedessen die dortige Universität geschlossen wäre und die Professoren wie auch die Studenten weggezogen seien. Lavater, der den Eindrückt erweckt, zuverlässig und besonnen zu sein, wurde dadurch verunsichert. Doch um. ja keine Zeit zu verlieren, wollte er keinesfalls nach Zürich zurückkehren, nachdem man sich dort so lange über den Ort seines Weiterstudiums beraten hatte. Zunächst zog er Tübingen, Wittenberg und Straßburg in Erwägung. Myconius riet aber davon ab. Dann dachte er an Toulouse. Doch Myconius riet auch davon ab, zumal dort nur dumme und rückständige Doktoren wirken, die keinen Unterricht in der Rhetorik und der Dialektik anbieten, damit die Jugend ja nicht wie in Deutschland in das

8 Karl V.
9 König Ferdinand I.
10 Maria von Ungarn, Statthalterin der Niederlande, traf am 23. November in Augsburg ein; s. Nr. 3031, Anm. 53.
11 Heldinnen. Hier abschätzig. - Laut Creutznachers Diarium 311-313 trafen zusammen mit Maria noch etliche hochrangige Frauen in Augsburg ein, in Begleitung von dem oben kurz danach erwähnten Maximilian von Egmont, Graf von Büren. Allerdings wird die Ankunft dieser Gesellschaft nicht mit Ewald Creutznacher auf den 20., sondern auf den sonst mehrfach belegten 23. November
(s. Nr. 3031, Anm. 53. Anm. 60) anzusetzen sein.
12 Johann Friedrich I. von Sachsen.
13 Philipp von Hessen.
14 Man befürchtete damals einen Angriff des Kaisers auf die Eidgenossenschaft; s. Nr. 3076,[8] und Anm. 16.
15 Vgl. schon Nr. 3029,8-22; Nr. 3070,48f. - Vermutlich wurde Frölich gerade zu dieser Zeit gebeten, sein Haus zu räumen, um es Fremden (die zum Reichstag kamen) zur Verfügung zu stellen; s. Nr. 3084,11f.
16 überreichen; s. Fischer I 280.


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Ketzertum" gerät. Dies berichtete vor einem Jahr mit vollem Ernst ein Rechtsgelehrter [...] aus Toulouse in Basel. Lavater entschied sich schließlich für Orléans. Bei seinem Abschied bat er Myconius, Bullinger davon zu benachrichtigen, damit dieser dies auch seinem Vater [Hans Rudolf] mitteile. -[2] Während seines Basler Aufenthalts wohnte Lavater im Gasthaus "Zur Krone ", wo auch kaisertreue Adlige logierten. Dabei wurde ihm bewusst, wie sehr diese Leute die Eidgenossen hassen und was für Schweine sie sind. Ganz nachdenklich sagte er einmal, es scheine ihm, als ob diese Leute, die derart unanständige Gotteslästerer sind, die Frömmigkeit und das Gute hassen und Trunkenbolde sind, wohl mühelos von den Eidgenossen besiegt werden können, falls sie diese angriffen, wenn nur Letztere ihrem Beispiel nicht folgten und Gott vor Augen behielten. -[3]Der Adlige [Friedrich] von Reifenberg erhielt neulich einen Brief mit dem Rat, Basel zu verlassen, da es zu einem Angriff auf die Schweizer kommen werde. Ein Bürger [...] aus Neuenburg am Rhein, der zur [Martini]messe kam, beklagte sich darüber, dass er acht Soldaten bei sich aufnehmen musste. Auch aus Rheinfelden und den [übrigen drei] Rheinstädtchen [Säckingen, Laufenburg und Waldshut] kommen ähnliche Gerüchte. Ein Jugendlicher [...], der in Basel die Schule besucht und vor wenigen Tagen aus seiner Heimat im Kinzigtal zurückkam, erzählte, wie dort alle ausposaunen, dass sie die "Milchfresser"[d.h. die Eidgenossen] niedermachen werden. Da merkt man doch, wie diese Leiche [Kaiser Karl V] die unbekümmerten, ja sogar naiven Eidgenossen allmählich umzingelt! Und plötzlich wird er sie von allen Seiten angreifen und sie sich unterwerfen! Myconius ist besorgt über die Sicherheit, in der viele sich wiegen, über deren abgestumpften Verstand, ihre Geldgier, und über den Hass, den sie gegen Christus hegen. Man bete unaufhörlich! -[4]Gruß, auch an Rudolf Gwalther. -[5][P.S.:]Bullinger möge Verständnis dafür haben, dass Myconius seinem Unmut Luft machen musste.

S. Duravit hic Lavaterus 1 usque ad proximum post Othmari 2 propter varios, qui advenerant, rumores nunc de hello nunc de peste Parhisiis saeviente 3 deque schola clausa et lectoribus absentibus, studiosis dispersis. Haec in dubium coniecerunt iuvenem, meo videre 4 valde bonum et syncerum. Statuerat autem semel non redire hoc maxime tempore in patriam (ex quo multae consultationes, quonam esset abeundum) a , ne tempus terere cogeretur. Cogitarat de Tubinga, Witenberga, Argentina 5 . Dissuasi, quantum in me erat. In mentem venit Tolosa. Iterum dissuasi, quod illic non fiant nisi dolle 6 doctores et barbari. Nam omnes bone literae bonaeque disciplinae, inprimis dialectica et rhetorica, inde exulant hanc ob causam, ne iuventus incidat in haereses, sicut videre est in Germania. Sic doctor quidam jureconsultus Tolosensis 7 in urbe nostra ante annum serio. Tandem cogitavit de Aureliano 8 et conclusit eo se abiturum, et dum valediceret, rogavit, ut hec ad te, ut patri 9 ipsius exponeres. Recepi, et nunc facio non invitus et propter ipsum, te et patrem eius. quaeso, ut boni consulatis.

a Klammern ergänzt.
1 Ludwig Lavater war mit einer Empfehlung Bullingers vom 5. Oktober 1547 nach Basel abgereist und hatte vor, in Paris weiterzustudieren; s. Nr. 3032,1-3.
2 Othmarstag ist am 16. November.
3 Vgl. schon Nr. 3035,31-36.
4 meo videre: meines Erachtens; s. schon HBBW XVII 222,11; XVIII 62,16.
5 In Straßburg hatte Lavater von Oktober
1545 bis etwa Mai 1547 studiert; s. HBBW XV 576f, Anm. 23; Nr. 2895.
6 =tolle, d.h. verrückte.
7 Unbekannt.
8 Falls Lavater über Orléans reiste, hielt er sich dort kaum auf, da er in Paris bereits am 29. November eintraf; s. Nr. 3035. Anm. 29.
9 Hans Rudolf.


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Didicit autem, dum hic est diversatus apud signum coronae 10 , quo nobiles caesariani divertunt, quanto isti persequantur odio confoederatos, deinde quales sint porci isti. Dixit enim aliquando ad me fronte seria: "Mihi videtur hommes istos nullo negocio posse vinci, si bellum meant nobiscum. Adeo sunt moribus ineptioresb , blasphemi, hostes omnis pietatis ac boni, vino semper madidi, tantum nostri caveant a tam porcinis maus et ista in eis observent et deum habeant in oculis!" Hactenus de Lavatero.

Praeter hec est nobilis Reifenbergius 11 , ad quem litern paucis ante diebus misst sic habent: "Machent üch von Basel, dann man wirt die Schwitzer angrifen!" Ex Novocastro ad Rhenum sito fuit per nundinas 12 hic civis 13 , qui cum eiulatu quaestus est mandatum sibi hospitium pro militibus octo. Ex Rhinfeldio et oppidulis quatuor Rhenanis 14 idem rumoris est. In ludo nostro est adulescens 15 , qui his diebus venit e patria Gintzgertal 16 . Dicit iactare omnes: Si wellent die milchtremmel 17 einmal glegen 18 . Vides, ut conetur nos cingere cadaver 19 paulatim nobis nescientibus, imo non credentibus, donec omnibus paratis repente ab omni parte nos invadat et obprimat. Equidem nobis timeo cum ob securitatem, quam video, tum ob stuporem, quem sentio, adde ob multorum animos avidos auri et odio laborantes Christi. Oremus sine intermissione ! 20

Vale cum Gvalthero in Christo. Basileae, 19. novembris anno 1547.

Tuus O. My.

Haec continere non potui apud me. Boni consulito.

b In der Vorlage ineptiore.
10 Das Basler Gasthaus Zur Krone, wo Myconius gerne einkehrte; s. HBBW XVII 222f, Anm. 16.
11 Der hessische Oberst Friedrich von Reifenberg (gest. 1595), der sich damals, wie auch andere protestantische Feldherren (s. dazu z.B. Nr. 3073, Anm. 40; AK VI 458f, Anm. 1), auf der Flucht vor dem Kaiser befand. Er zog sich für eine Zeitlang nach Basel zurück, und zwar offensichtlich schon 1547 und nicht erst 1548, wie dies im anonymen Aufsatz Der Abendteurer Friedrich von Reifenberg. Ein Beitrag zur Geschichte der Taunusgegenden, in: Didaskalia. Blätter für Geist, Gemüth und Publizität, hg. y. Johann Ludwig Heller, 23. Jg, Nr. 166 vom 18. Juni 1845, angegeben wird.
12 Die Martini-Messe in Basel; s. dazu Nr. 3071, Anm. 4.
13 Unbekannt. - Nachgewiesen ist, dass Hans Schirm aus Neuenburg am Rhein.
ein Bonifacius Amerbach Nahestehender (s. AK VI 371), nicht allzu lange vor dem 29. November 1547 in Basel gewesen war; s. AK VI 552, Nr. 3010.
14 Gemeint sind die Städtchen Rheinfelden, Säckingen, Laufenburg und Waldshut. Rheinfelden wird dadurch indirekt zweimal aufgezählt!
15 Unbekannt.
16 Kinzigtal.
17 Wortwörtlich "Milchfresser" (s. Johann Jakob Denzler; Ciavis Linguae Latinae, Basel 1715, S. 202 der "Clavis Germanico-Latina"), ein Schmähwort, mit dem hier nicht nur die Innerschweizer (s. SI XIV 996), sondern offensichtlich alle Eidgenossen gemeint sind.
18 niedermachen.
19 Die Rede ist von Kaiser Karl V.; s. dazu zuletzt Nr. 3062 und Anm. 17.
20 Vgl. 1Thess 5, 17.


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[Adresse auf der Rückseite:] D. Heinricho Bullingero, viro doctissimo, fratri in domino observando suo. Zü[ric]h. c