Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[3035]

Oswald Myconius
an Bullinger
Basel,
8. Oktober 1547

Autograph: Zürich ZB, Ms F 62, 380 (Siegelspur) Zusammenfassung: Henrich, Myconius BW 993f, Nr. 1109

[1]Myconius empfing am 2. Oktober den via Hartmann von Hallwyl übersandten Brief Bullingers [Nr. 3020] aus der Hand des Homburger Vogts [Martin Hagenbach]. [2]Die Propositionen Kaiser Karis V. [für den Augsburger Reichstag]missfallen Myconius. Daran merkt man nämlich, wie übermäßig ehrgeizig der Kaiser ist, und wie sehr er das Gute hasst. Kein Wunder: Er interessiert sich nicht für Wissen und Gelehrsamkeit; zudem vernachlässigt er Gott, auch wenn er dessen Namen oft im Munde führt. Den Eidgenossen wird es also bald an den Kragen gehen, wenn Gott sie nicht davor beschützt! [3]Angeblich zieht Maximilian von Egmont, Graf von Büren, mit einem neuen Heer aus den Niederlanden heran. Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel soll von den Braunschweigern erneut vertrieben worden sein. [4] Bei den Engländern gedeiht das Evangelium. Deshalb segnet sie Gott, auch in der Außenpolitik. Es scheint nämlich, als ob König Heinrich II. von Frankreich ihnen nicht den Krieg erklären wird und die Schotten den ihnen von den Engländern angebotenen Frieden annehmen werden. Dies sei verbürgt. [5]Eingeweihte behaupten immer lauter, dass König Ferdinand der nächste Papst sein wird, und dass der Kaiser ungeduldig sei, weil er baldmöglichst

2 Bis zu diesem Zeitpunkt kannten sich Bullinger und Naogeorg nur über Drittpersonen (Georg Frölich und Johannes Haller); vgl. HBBW XVII 67,22-27. 429f,62-69; XVIII 88. 100. 155. 432,48— 50. — Hier liegt der erste von insgesamt zehn erhaltenen Briefen Naogeorgs an
Bullinger vor, die alle zwischen 1547 und 1560 verfasst wurden. Ein Brief Bullingers an Naogeorg ist nicht erhalten geblieben.
3 Vgl. 1 Petr 5, 8.
4 Vgl. 1 Petr 5, 4.


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Augsburg verlassen will, um nach Straßburg, oder gegen die Eidgenossen, oder auch nach Italien zu ziehen, und dies nicht um der Religion willen, sondern um Herrscher über ganz Europa zu werden! - [6] Als Herzog Christoph von Württemberg, Graf Georg von Württemberg-Mömpelgard, Hans von Heideck und andere Adlige zusammen mit einem Augsburger Buchhalter [...] und den beiden Basler Oberstzunftmeistern [Marx Heidelin und Blasius Schölli]bei Tisch saßen und sich über Verschiedenes unterhielten, sagte der Augsburger: "Nun wird der siegreiche Kaiser euch, unsere benachbarten Schweizer, angreifen!"Einer der Oberstzunftmeister erwiderte: "Was sagt ihr denn von den Schweizern? Wie seltsam, dass sie euch so sehr beschäftigen! Lasst es euch aber gesagt sein, dass, falls der Kaiser sie angreift, dieser bald erfahren muss, dass sie noch rüstig sind und sich nicht wie die [deutschen Protestanten] verhalten werden! Sollte er siegen (Gott verhüte es!), würde er dennoch schwere Verluste hinnehmen müssen!"Daraufhin trat am ganzen Tisch Schweigen ein, bis jemand ein neues Thema anschnitt. Es sind also nicht alle Basler ängstlich! -[7] Unterdessen traf auch Ludwig, der Sohn des Zürcher Bürgermeisters Hans Rudolf Lavater, in Basel ein. Myconius erzählte ihm, was er über Paris weiß, auch von der dort grassierenden Pest, die, wenn sie andauert, gewiss zu einer Unterbrechung des Unterrichts führen würde. Das berichteten letzte Woche einige aus Frankreich zurückkehrende Studenten. Ludwig ließ sich davon nicht beeindrucken und behauptete, die Pest noch nie gefürchtet zu haben: Er wolle abreisen, sobald er einen Reisegefährten gefunden habe. -[8]Inzwischen hat Myconius Bullingers Brief [Nr. 3032]mit den beigelegten Schreiben [Nr. 3023 und Nr. 3017]gelesen. Die Nachricht in Brief [Nr. 3023] über die Jagd des Kaisers ist lustig. Was dort über die [niederländischen, für den Kaiser bestimmten]Reiter steht, passt zu dem, was Myconius oben über den Grafen von Büren schrieb. Die Nachricht in dem Brief von Johannes Hailer [Nr. 3017] über die erzwungene Teilnahme der [protestantischen] Fürsten an der katholischen Messe missfiel Myconius, genauso wie auch schon Haller; und wie Letzterer kann er dem Kaiser nicht trauen, denn dieser hört die Messe, duldet die Bischöfe, lässt seine Soldaten ungestraft wüten, vor allein gegen das Evangelium. Graf Georg erfuhr aus Augsburg, dass dort die Pfaffen die ärmeren Bürger bestechen, damit diese die Messe besuchen. Als sie zu einem Schuster kamen und ihm einen Taler gaben, versprach dieser, während 14 Tagen zur Messe zu gehen. Doch als er nach Hause kam, starb er plötzlich! -[9] Johannes Gast beteuert, die Ausgabe der Satiren des Persius einem bärtigen Mann namens Michael [Martin Stella](einem Drucker oder Setzer) mitgegeben zu haben. -[10]Philipp Melanchthon ist in Wittenberg, wo er bleiben will, wenn die Universität wiedereröffnet wird. Ansonsten wird er dem Rat guter Leute folgen und von dort wegziehen. Dies hat er [an Bucer]geschrieben. -[11]Grüße an Theodor Bibliander; Rudolf Gwalther und an alle Kollegen. Bullinger weiß ja, dass man beten muss. Im gegenwärtigen Elend verlieren sogar die Guten Gottes Geist, weil sie so sehr um ihr Leben, ihre Frauen und ihre Kinder fürchten. Der Herr spende Trost!

S. 2. octobris accepi, quae per Hartmannum a Hallwyl misisti 1 . Reddidit praefectus Hombergensis 2 .

Displicent proposita a caesare 3 , ut vel inde indicium accipiam, quis et qualis sit natura, nempe ambitiosus supra quam dici queat, et osor omnis

1 Bullingers Brief Nr. 3020 vom 23. September 1547; vgl. Nr. 3020,19f.
2 Martin Hagenbach, Obervogt der seit 1401 zur Stadt Basel gehörenden Obervogtei Homburg (die Schlossruine Homburg bzw. Homberg gehört heute zur Gemeinde Läufelfingen, Kt. Baselland); s. LL X 281f s.v. Homburg.
3 Karl V. - Diese Tagesordnung für den Augsburger Reichstag wurde in Hallers Brief an Bullinger vom 12. September dargelegt; s. Nr. 3005,8-46. Bullinger hatte diesen Brief mit seinem Brief Nr. 3020 an Myconius zum Lesen ausgeborgt; s. Nr. 3020,16-18.


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boni et iusti! Quod inde nimirum est: Non amat literas seu literatos, deum negligit, quamvis omnipotentem saepe nominet. Et nisi dominus nos 4 protegat, videbimus mox stupenda contra nos.

Rumor est sparsus de Burensi 5 , venire ex Belgico 6 cum novo equitatu. Verum nil nisi rumorem habeo. De Heinricho 7 volat iterum fusum a Brunsvicensibus a

In Anglia (gratia domino) b res Christi magnos facit progressus indeque benedicit illis deus etiam in externis, ut nec a Gallo 8 bellum eis inferatur et Scoti pacem optatam ipsis Angus recepturi videantur. hec vera. 9

Mussitant nunc apertius rerum scn, quod pontificatus grec grec 10 sit traducendus. Festinare dicitur in omnibus caesar, ut quamprimum ab Augusta discedat vel Argentinam vel contra nos vel in Italiam, non religionis ergo, sed ut dominus flat Europae. 11

Sederunt hic in mensa simul Christophorus dux 12 , Georgius comes 13 , Heidegkius 14 aliique vin nobiles, Augustanus item quaestor 15 c et tribuni urbis nostrae duo c16 . Inter multa, quae conferebant, Augustanus ait: "Age proximi nunc Schwitzen, quos caesar victor petet!"Hic ex tribunis alter: "Was sagend ir von Schwitzeren? Sy ligend üch seltzam an! 17 Nun wil üch daß gseyt han: Kumpt der keyser, wir wend imm mit der hilf gottes selicher maß engegen gan 19 das er und die sinen müssind innen werden-, 20 das wir noch lebend!

a In der Vorlage Brusiensibus. -
b Klammern ergänzt. -
c-c Am Rande nachgetragen.
4 Die Eidgenossen.
5 Maximilian von Egmont, Graf von Büren.
6 "Belgien", damals etwa den nördlichen Teil Frankreichs, Belgien und den südlichen Teil der Niederlande umfassend.
7 Herzog Heinrich d.J. von Braunschweig-Wolfenbüttel. - Ein falsches Gerücht; s. schon Nr. 3017,42-44.
8 König Heinrich II. von Frankreich.
9 Vgl. Nr. 3030,40-42, und Nr. 3064.
10 König Ferdinand I. Vgl. auch Nr. 3017,40f; Nr. 3020, Anm. e; Nr. 3021,59-62. - Myconius bezieht sich hier auf einen Brief Martin Bucers an ihn und an Francisco de Enzinas vom 26. September 1547 (Zusammenfassung in: Henrich, Myconius BW 990, Nr. 1105; Druck und spanische Übersetzung in: Enzinas BW 284-286, Nr. 35e).
11 Die Mitteilungen dieses und des vorigen Abschnitts sind als Notiz von Myconius' Hand auf Bullingers Brief vom 23. September zu finden (s. Nr. 3020, Anm. e) und entstammen einem Brief aus Straßburg vom 29. September.
12 Christoph von Württemberg, der sich Anfang
Januar 1547 nach Basel zurückgezogen hatte; s. HBBW XIX 158, Anm. 9.
13 Georg von Württemberg-Mömpelgard, in Basel seit etwa dem 20. Januar 1547; s. Nr. 2943, Anm. 8.
14 Hans von Heideck. Zu diesem, seinem Wohnort und anderen Flüchtlingen in Basel s. Paul Burckhardt, Basel zur Zeit des Schmalkaldischen Krieges, in: BZGA 38, 1939, S. 91. Er sollte Basel erst im August 1549 wieder verlassen; s. dazu Johannes Gast an Bullinger, 17. August [1549] (Zürich StA, E II 366, 126).
15 Einer der drei Augsburger Einnehmer des Jahres 1547: Joachim Langenmantel. Hans Schweiglin und Paul Wittelspeck; s. Hermann Kellenbenz, Die Finanzen der Stadt Augsburg 1547, in: Civitatum communitas. Studien zum europäischen Städtewesen (FS Heinz Stoob), Teil 2, Köln/Wien 1984, S. 523.
16 Die beiden Basler Oberstzunftmeister Marx Heidelin (s. HLS VI 349) und Blasius Schölli (s. HLS XI 182).
17 Zu verstehen: Seltsam, wie sehr diese euch beschäftigen!
18 wollen.


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Und ob erd schon gsigen wurd (da gott vor sy 21 ), so wend wir imm ein solich loch in die sinen machen, das es innen als bald gerüwen müß als 22 uns! Wir werden, ob 23 gott wil, nit handlen, wie ir und üwers glichen 24 gehandlet hand 25 !" His ita dictis silentium factum est in tota mensa, donec tandem novum argumentum quis induxerat. Hoc tibi, ut videas non omnes nos timoris esse filios.

Inter haec venit filius 26 consulis Lavateri 27 . Narravi ego, quae certo novi ex Parisiis, inter alia de peste illic grassante. Si perget, uti caepit, scholam dissipabit. Ita retulerunt studiosi venientes ex Gallia superiore septimana 28 . Quicquid autem ego apud Lavaterum de peste dicerem, fortiter contempsit, adserens nunquam se illam timuisse, se paratum ad iter, tantum inveniat comitem. 29

Legi tuas 30 interim, et quas 31 adiunxisti. In alteris 32 placuit, quod est de caesaris venatione scriptum, et quod habent de equitibus (videtur consonum his, quae scripsi 33 de Burensi) e . In literis Hallen 34 displicet (quod et ipsi Hallero) de principibus missae adstare propemodum coactis, qui tamen hactenus aliud didicerunt! Cum eodem 35 sentio, dum caesari non fidit. Audit 36 missam, episcopos admittit, impune peccant milites, maxime contra evangelium!

d Am Rande nachgetragen. -
e Dieses und das nächste Klammerpaar ergänzt.
19 selicher maß engegen gan: dermaßen entgegentreten.
20 innen werden: feststellen. 21 sei.
22 als bald ... als: ebenso ... wie.
23 wenn.
24 Gemeint sind die deutschen Protestanten bzw. der Schmalkaldische Bund.
25 habt.
26 Ludwig Lavater, der sich kurz zuvor, am 5. Oktober, nach Basel begeben hatte; s. Nr. 3032,1-3.
27 Der "stillstehende" Bürgermeister Hans Rudolf Lavater.
28 Die Woche vom Sonntag 25. September bis Samstag 1. Oktober.
29 Siehe dazu Nr. 3032, Anm. 2. -Ludwigs Reisegefährte nach Paris wurde der Bas- 1er Johann David, Ritter des Heiligen Grabs (gest. 30. Oktober 1567), dessen Bruder Jakob David als Goldschmied in Paris wirkte; s. die von Johann Wilhelm Stucki verfasste Biographie Ludwig Lavaters in: Ludwig Lavater, Nehemias, Zürich 1596 (VD16 L 827), f. 133v.: Beat Rudolf Jenny, Sancta Pax Basiliensis. Neue Quellen und Hinweise zu Sebastian Münster und seiner Kosmographie, insbesondere zu den Beiträgen Hans David
und Sigismund Arquer, in: BZGA LXXIII, 1973, 51-53 mit Anm. 35. 39. - Lavater, der in Basel bis am 16. November blieb (s. Nr. 3079,1-3), traf am 29. November 1547 in Paris ein, wo es laut seinem Brief an Myconius vom 21. Dezember 1547 (Henrich, Myconius BW 1008, Nr. 1123) keine Pest gegeben haben soll.
30 Brief Nr. 3032 vom 5. Oktober.
31 Nämlich ein Brief von Ambrosius Blarer und ein anderer von Johannes Haller; s. dazu unten Anm. 32 und Anm. 34.
32 In Blarers Brief Nr. 3023 vom 29. September 1547, den Bullinger am 5. Oktober Myconius zum Lesen ausgeborgt hatte (s. Nr. 3032, Anm. 6), da hier eine Anspielung auf Nr. 3023,6-12 (zur angeblich vorgetäuschten Jagd des Kaisers) und ebd. Z. 16-22 (zu den kaiserlichen Reiterknechten), vorliegt.
33 Oben in Z. 8f.
34 Johannes Hallers Brief Nr. 3017 vom 20. September, den Bullinger ebenfalls am 5. Oktober Myconius zum Lesen gesandt hatte (s. Nr. 3032, Anm. 6), da hier auf Nr. 3017,9-13, angespielt wird.
35 Hallero. -Vgl. Nr. 3017,19-29.
36 Subjekt ist der Kaiser.


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Quid igitur ei fidas? Ad Georgium comitem scriptum est ex Augusta pfaffos conducere civium pauperes, ut adeant missam. 37 Venisse ad sutorem quendam 38 ac dedisse coronatum 39 , ut per dies 14 sibi obsequatur. Miser accipit, venit domum et moritur subito!

Gastius iurat se misisse Persium 40 cum viro, nescio an impresore, an compositore 41 , Michaele nomine, 42 barbato.

Philippus 43 est Witenbergae. Expectat instaurationem scholae 44 - quae si instaurabitur, illic manebit; sin aliter, consilio bonorum sedem mutabit. Hec ex ipsius literis. 45

Vale in Christo cum Theodoro 46 , Rodulpho 47 , fratribus bonis omnibus. Orandum esse nobis ipse nosti. Mirum est enim in hac calamitate, ut f spiritus in bonis etiam vins propemodum extinguatur, 48 adeo vite, uxoribus et liberis suis timent. 49 Dominus nos consoletur! Amen. Basileae, 8. octobris anno 1547.

Tuus O. Myconius.

[Adresse auf der Rückseite:] D. Heinricho Bullingero in domino suo. Tig[uri]g .