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Autograph: St. Gallen Kantonsbibliothek (Vadiana), Ms 35 (VBS VI), 222r.-222a,v. (Siegelspur) Teildruck und zusammenfassende Ubersetzung: Blarer BW II 571-574, Nr. 1397
[1]Bullinger war seit Mittag geschäftehalber unterwegs, und als er um drei Uhr zum Bürgermeister
[Hans Rudolf Lavater?]gelangte, zeigte dieser ihm den vom Konstanzer Rat übersandten
[Hohentwieler]Vertrag [zwischen Herzog Ulrich] von Württemberg [und Kaiser Karl
V.]. Er berichtete ferner, dass der Konstanzer Bote [...] bald abreisen würde. Als Bullinger
heimkehrte, fand er Blarers Briefe [Nr. 2762 und Nr. 2763] vor, auf deren wichtigste Angelegenheiten
er nun sogleich eingehen will. —[2]Bullinger beklagt schon lange, dass es auch in
[Zürich bzw. in den Vier Orten der Eidgenossenschaft]nicht so steht, wie es eigentlich stehen
sollte. Es mangelt an Aufrichtigkeit, an Gottes- und Nächstenliebe: Man zeigt sich nicht bereit,
für andere Gefahr und Tod in Kauf zu nehmen und erweist sich dabei nicht nur als menschlich
[schwach], sondern auch als schlecht. Ja, sogar auch Bullinger ist nicht so, wie er sein sollte.
Doch bei der Ausübung seines Amtes mahnt er klar und deutlich (genauso wie dies auch
Blarer ihm gegenüber getan hat), dass man im Dienste der Wahrheit stehen sollte. Allerdings
ist es ihm noch nicht gelungen, einen gemeinsamen Widerstand gegen den Kaiser zu erwirken.
Sollte dieser aber die [Eidgenossen]angreifen, wird man wohl etwas unternehmen müssen. Ob
es dann nicht zu spät ist, wird sich zeigen. — [3] Gerade weil alle arm dran sind, meinte
Bullinger [in einem nicht erhaltenen Brief an Blarer vom 22. Januar], dass die Konstanzer
ihre Hoffnung auf Gott setzen sollten. Er spürt dennoch, dass die Zürcher Ratsherren den
Konstanzern wohlgesinnt sind. Daher sollten Letztere ihre Enttäuschung [in Bezug auf den im
Namen der vier protestantischen Orte verfassten Brief der Zürcher]klar und offen bekunden.
Vermutlich werden sie auf diese Weise eine ausführlichere Erklärung erhalten, als Bullinger
sie erhielt. Was ihn anbetrifft, erwartet er nichts von den [Vier Orten], da er genau weiß, wie
es im letzten [Zweiten Kappeler]Krieg und wiederum jetzt, während des [Schmalkaldischen]
Krieges in Deutschland, zugegangen ist. Demzufolge hat er sich entschlossen, zu bitten und zu
mahnen, so gut er kann, sei es öffentlich oder privat. Ergibt sich daraus etwas Positives, so
will er dies auf Gottes Wirken zurückführen. Wenn nicht, wird ihm dabei deutlich, dass Gott
vorhat, die Seinen zu strafen. —[4]Selbst wenn die Eidgenossenschaft Konstanz im Stich ließe,
gäbe es doch keinen Grund, sich dem Bischof [Johann von Weeze] zu unterstellen! Denn auch
so müssten die Konstanzer leiden. Genau dies würde Bullinger [wenn er an Blarers Stelle
wäre] seinem Rat verdeutlichen, auch dann, wenn die Aussichten, gehört zu werden, gering
sind. Sollte er Erfolg haben, wäre dies Gott zuzuschreiben. Wenn nicht, würde er diesem trotz
allem vertrauen, denn das gegenwärtige Leiden ist begrenzt und die ewige Belohnung gewiss.
Und sollte Gott dennoch seinen Willen durchsetzen können, müsste man auch dann lernen, ihm
zu vertrauen. —[5]Bullinger spürt wohl, wie sehr und zu Recht Blarer betrübt ist. Doch da die
Welt sich nicht anders verhält, muss auch Gott entsprechend handeln. Er gebe einem jeden die
Kraft, sein Amt im Vertrauen auf ihn bis zum Ende auszuüben. —[6]Gemäß Blarers Wunsch
wird sich Bullinger erneut beim Zürcher Rat für die Konstanzer einsetzen, da ihm bewusst ist,
dass Konstanz nur einen Steinwurf näher am Kampfort als Zürich liegt. —[7]Der [unbekannte]
Reiter [der durch den Thurgau ritt] mag wohl recht haben mit seiner Vorhersage, dass esBriefe_Vol_19-179 arpa
bald zu einer blutigen Auseinandersetzung am Rhein kommen wird! —[8] Tatsächlich ist der
[Hohentwieler]Vertrag skandalös. Herzog Christoph [von Württemberg] wie auch Graf Georg
[von Württemberg-Mömpelgard] und andere haben sich unterdessen nach Basel zurückgezogen.
—[9]Es stimmt, dass die Zeit der Makkabäer mit den von Antiochus [IV. Epiphanes]
verübten Verfolgungen angebrochen ist. Doch auch [die Erlösung] wird bald darauf folgen!
Doch zuvor müssen Gottes Kinder noch erprobt werden, wie es in Dan 11 steht. Dann erst
wird Gott den Antichristen stürzen. —[10]Bullinger hat so viele Geschäfte zu erledigen und
Briefe zu verfassen, dass er kaum zum Atemholen kommt und vieles versäumt. Blarer möge es
ihm also nicht verübeln, wenn er nicht alles schreibt. Zudem ist er auch nicht über alles
informiert. An der [Tagsatzung] zu Baden wurde beschlossen, dass die Reisläufer, die, nachdem
es verboten wurde, doch noch in den Krieg [nach Deutschland] gezogen sind, wie folgt
bestraft werden sollen: Ein Hauptmann mit 100 Gulden, ein Leutnant oder Fähnrich mit 50
Gulden, ein gewöhnlicher Soldat mit fünf Gulden. Allen sollen die Waffen entzogen werden.
Allerdings haben die Zürcher noch nicht über die Sanktionen gegen ihre Söldner befunden.
Das wird sich wohl noch ändern. In Zürich muss nämlich dem Gesetz zufolge (das stets gültig
ist) ein Reisläufer an Ehre, Leib und Gut bestraft werden. Deshalb wurden auch die nach
Frankreich gezogenen Söldner schwer gestraft. Würde man nun [die nach Deutschland gezogenen]
Söldner ungestraft lassen, würden auch die nach Frankreich [gezogenen Söldner]
einen Erlass ihrer Strafe fordern. Und dann wäre das Gesetz entkräftet! Daher befürworten
einige Sachkundige, dass man weiterhin am Gesetz festhalte und lediglich die [nach Deutschland
gezogenen Söldner]leichter bestrafe. Man muss nämlich ständig darauf achten, dass die
Befürworter des Reislaufens in Zürich ihren Behörden nicht noch größere Probleme bereiten.
— [11] Gott möge den Konstanzern das Herz stärken, damit diese nicht vom rechten Weg
abkommen! Die Äußerung des Zürcher Rats, er werde tun, was er verantworten könne, empfindet
Bullinger nicht als unangebracht, zumal die Konstanzer in ihrem Schreiben keine konkreten
Anfragen formuliert hatten. Er wundert sich daher, dass die Konstanzer daran so sehr
Anstoß nehmen. Bullinger schrieb schon darüber in dem Brief [nicht erhalten], den er vorgestern
dem Konstanzer Boten [...] anvertraut hat. —[12] Bei all dem hofft er, dass man in
Konstanz wie auch in Zürich alle Erwartungen allein auf Gott setzen wird. Daneben kann man
wohl auch angemessene Mittel anwenden, über die Bullinger sich bereits in seinem vorgestrigen
Brief geäußert hat. Es wäre ferner gut, wenn die Konstanzer den Zürchern frei mitteilten
(sei es brieflich oder mündlich), was sie genau an der Haltung der Vier Orte bemängeln, ja
wenn sie solches auch Basel, Bern und Schaffhausen wissen ließen, dies jedoch den anderen
Orten gegenüber vorerst verschwiegen. —[13]Wenn man schon dem Ende nahe ist, sollte man
bis zum Schluss sein Bestes tun! Auch in Zürich herrscht Unruhe, da die Fünf Orte die
Bestrafung Bullingers und besonders Rudolf Gwalthers wegen dessen "Endtchrist"fordern.
Beide warten darauf vom Rat vorgeladen zu werden, sind aber getrost im Herrn.
—[14] Den beigelegten Brief [Vadians] wie auch die zuvor übersandten Briefe [Baldassare
Altieris und John Burchers] soll Blarer bald zurücksenden. Grüße.
Gnad und frid. Fürgeliebter herr und brüder, ich bin sid mittentag nitt daheym, sunder geschafften halb dauß 2 gewäsen, und alls ich von andern sachen wägen zü den 3 3 zum herren 4 kumm, last er mich sahen des Wirtenbergers 5 vertrag, von üwern herren empfangen, 6 und sagt, wie ein bott 7 von Constantz hie sye; der werde jetzund wägfertig. Als ich daruff heimm keer,
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find ich üwer schriben 8 uff dem tisch. Heb grad druff antworten 9 , so vil mir müglich, und sunderlich uff die fürnemmen puncten.
Das es by uns 10 nitt stande, wie es billich sölt und mins erachtens stan sölte, das man one allen valsch 11 alein uff gott vertruwen und in der liebe gägen den nächsten wandlen sölte, hilff und radt thün, ouch mitt gefaar und verlurst unsers läbens, ist nun lange zyt von mir klagt — dass es nitt ist, und wir nitt nun 12 fleisch oder blüt, sunder ouch boßhafft sind, wie an andern orten meer (das mir nun leid gnüg ist) a ; insonders das ouch ich selbs nitt bin, wie ich sin söte. Doch in dem, das min ampt antrifft, verman ich (alls ir mich vermanent) offentlich und sunderlich, by der warheit vest zü verharren und der warheit ze hälffen. Hab aber die sach noch dahin nitt bringen mögen, das man gmeinlich sich dem keyser 13 widersetzen wöllen. Acht wol, so er uns anhebe 14 , näher ze kummen, werde ettwas fürgenommen. Wie ferr 15 aber das gelangen 16 mög, kan ich nitt wüssen.
Lieber herr und brüder, wir 17 sind ouch lüt wie ander arm lüt. Dorumb hab ich üch zügeschriben, 18 üwer sachen uff gott ze buwen. Ist nitt minder 19 , ich kan by minen herren anders nitt dann ein gar güten willen zü den üwern spüren. Und wollt, was üwer herren irrte und bedurte 20 , das sy das fry herus den unsern schribind, 21 dardurch sy 22 gruntlichen bericht und grund verstündint. Acht wol und billich, man wurde 23 sich gen inen wyter und meer dann gägen mir uffthün. In unser eignen sach buwen ich nüt uff uns. Weiß, wie es gangen ist in dem vorigen krieg 24 und wie es jetzund gadt in Germania mitt disem ||222v. krieg. Hab deßhalb min sach also gemacht und gestellt: Was ich kan und mag publice und privatim, thün ich mitt hätten, bitten, warnen, manen. Beschicht neißwas 25 dappffers, weiß ich, dass es gott gewürckt; wo
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nitt, hallt ich, gott süche uns umb unser sünden willen. Weiß imm 26 dann nitt wyter ze thun, dann mitt gottes gnad by der warheit ze verharren, lib und laben daran setzen.
Und wenn schon nitt ein Eydgnoschafft der frommen statt Constantz zusetzt 27 , und ir alein gelassen werdent, wöllend ir darumb under des bischoffs 28 joch? Ir müssend doch hernach ergers lyden. Das wöllt ich den minen fürhallten. Wo 29 ichs erheben 30 möcht, gott die eer; wo nitt, wölte ich doch das min daran setzen. Müste ich dann wychen, wurde gott nitt schlaffen und üch verlassen. Sind 31 wol getrost imm herren! Wenn wir das unser thünd und kein volg hernach gadt, wirt mans hernach finden. 32 Ob 33 gott wil, werdent wir entschuldiget, und wirt unser lyden nitt eewig waren. Und gange aber glich 34 , wie gott wölle, soll unser hertz in imm allwäg starck sin. Wenn er glich alles fleisch ze schanden macht, 35 blipt doch der geist in imm 36 uffracht.
Ich kan wol in üwerm schryben spüren, dass ir vast 37 bekümert sind, und nitt unbillich 38 . Ir sähend aber, dass imm die wallt nitt anders thüt 39 . So kan dann gott ouch nitt anders handlen, dann wie er handlet. So lassend uns rächt trost in imm suchen, bätten, unsern radt gaben, unser ampt biß ins end than und inn walten lassen.
Ich wil von nuwem an 40 min bests mitt minen herren handlen, wie ir begärt. Dann ich weiß, dass imm also ist, wie ir sagend: Das ir nun eins steinwurffs naher zur walstatt 41 habend. Hab mich ouch von 42 den gnaden gottes in die sach ergaben 43 .
Ze sorgen, der rüter 44 sye nitt vanus yates, dann ichs darfür hab 45 , sy und wir werdent einandern amm Rhyn imm blüt und wasser finden, inen und uns oder unsern sünden zur straaff. Gott erbarm sich unser! ||222a,r. Der wirtenbergisch vertrag ist ein ellender vertrag. Hertzog Christoff 46 , ouch graff Jörg 47 47 sind ze Basel und ander meer.
Es sind frylich der Machabeyer zyt, 48 nämlich das Antiochus 49 noch marteret. Bald wirt das ander 50 ouch kummen. Doch das vorhin, die gottes sind,
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wol probiert 51 werdent (bes ächt Danielis 11. cap, 52 ) b , so wirt der herr alein den antichrist abthün. 53
Des schribens ist so vil, dass ich darin erstick; die geschafft ouch so vil und manigfallt, das ich vil vergiß und daran erlig 54 . Dorumb verargend mir flirt 55 , dass ich ettwan underlaß, ettliche stuck 56 ze schryben. 57 Mag ouch nitt alles wüssen. Mitt den kriegslüten stat es also: Welche über das verbott 58 in gemeinen herrschafften hinwäg geloffen, sind jetzund ze Baden 59 gestrafft: Der houptmann 100 gulden, lütinampt und fenrych 50 gulden, der gemein knächt 5 gulden, und biß uff gnad 60 one weer 61 und eer. Min herren habend die iren nitt gestrafft. 62 Acht aber wol, es werde mitt der zyt denocht ettwas beschähen; mag doch ouch wol abtrochnen 63 . Unser gelägenheit 64 stat also: Wir habend gemeine satzungen. Wer zü fürsten, herren, standen loufft, sol gestrafft werden an eer, lib und güt. Daruff sind schwerr straaffen gevolgt uff die, dem Franzosen 65 zügeloffen; 66 und stand noch ettlich in den straffen. Das gsatzt ist noch nie uffgehept. Söllt man nun gar one alle straff ouch dise knecht gan lassen, wurdent die französischen mittschlieffen 67 ; das brachte uns eine gantze zerrüttung 68 . Dorumb die verstendigen vermeint, die schwer straff blyben ze lassen, und mitt der zyt ettwas disen 69 uffzelegen, traglichs und rings 70 ; alein dass nitt ein gantze zerstörung volgte. Iniquum petendum, ut aequum feras, 71 dann dann wir habend ye gar groß versuchung und unrüw von den frantzösischen 72 ; wachst uns ye lenger ye mer uff den halß. etc.
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Der allmächtig gott wölle üch das hertz sterken, das ir üch nienan 73 begäbind in die fulen richtungen, gange c rächt wie c gott wöll. Das min herren geschriben, ze thun, was sy verantworten konnend, 74 bedunckt mich nut ungebürlichs. Nun habend doch die üwern, ||222a,v. das ich wüß, nut gruntlichs, namhaffts an sy begärt durch ir schryben. Nimpt mich wunder, worumb ir üch des beschwarend; doch hab ich üch vorgestern by üwerm botten 75 wyter geschriben. 76
Doch, wie dem allem, wölte ich, man sahe by üch, üch und uns, alein uff gott. Wider gebürliche mittel bin ich nitt. Dorum, wo die üwern dise mittel, von denen ich vornächt 77 geschriben hab, zü handen Nämend, were nitt böß, 78 oder das die üwern fry herus geschriben oder muntlich geworben hattend, wie und was inen mangle an den unsern, ouch das sy sölichs noch wyter langen lassind an Bern, Basel und Schaffhusen, 79 und das man der andern orten diser zyt geschwige.
Lieber brüder, ist es dann schon amm end, 80 so lassend uns rächt unser bests thün bis in das end. Wir habend hie ouch unsere unruw, dann die 5 Ort begärend strang von minen herren, dass sy uns, insonders Waltherten 81 , straaffind von wägen des getruckten Endtchrists. Wartend wir, wenn man uns für radt beschickt 82 , aber lassend uns getrost sin in dem herren.
Disen hie yngeschloßnen brieff 83 verschafft mir sampt den andern, üch hievor zugesandt, 84 bald wider. Gott mitt üch und den üwern allen. Die grüssend mir. Datum Zürych, 24. ianuarii ze 4 urn nach mittag 1547.
Tuus totus et ex animo.
[Ohne Adresse.]