Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2898]

Francisco de Enzinas
an Bullinger
[Basel],
8. Mai 1547

Autograph: Zürich StA, E II 366, 34 (Siegelspur) Druck: Boehmer, Dryander 414-416, Nr. 28; Druck und spanische Übersetzung: Enzinas BW 234-23 8, Nr. 31; Teildruck: CO XII 518f, Nr. 904

[J]Enzinas konnte eine Zeitlang nicht schreiben, weil er die vergangene Woche 1 wegen einer sehr ärgerlichen Angelegenheit 2 in Straßburg verbrachte, als gäbe es nicht schon genügend Streit auf dieser Weit! Er hätte Bullinger vieles über seine privaten Sorgen und über die verworrene politische Lage mitzuteilen. So Gott will, wird er sich bald darüber persönlich mit Bullinger unterhalten! 3 -[2]Hier will er nur Folgendes ansprechen: In Basel befindet sich zur Zeit ein "Belgier"4 namens Valérand [Poullain]5 , ein leichtfertiger und hinterlistiger Mensch.

1 Der 8. Mai war ein Sonntag.
2 Vermutlich im Zusammenhang mit der Poullain-Affäre: Anfang 1547 hatte Jacques de Bourgogne, Herr von Falais, Valérand Poullain damit beauftragt, drei adelige Frauen aus "Belgien"(s. dazu unten Anm. 4) nach Basel zu führen. Auf dem Weg verliebte sich dieser in eine der Weggefährtinnen, und zwar in die minderjährige Isabelle de Haméricourt, dame de Willercies. Beide versprachen sich in Straßburg die Ehe. Als Falais davon erfuhr, bewog er Isabelle, das Eheversprechen in Abrede zu stellen. Poullain bestand hingegen auf dessen Gültigkeit, woraufhin ihn Falais wegen übler Nachrede anklagte. Poullain führte Gegenklage. Mit dem Urteil vom 12. Mai 1547 wurde das Verlöbnis aufgelöst, ohne dass eine der Parteien verurteilt worden wäre; s. AK VI 468-470. 609-611, Nr. 14; Jean Calvin, Lettres a Monsieur et Madame de Falais, hg. y. Françoise Bonali-Fiquet, Genf 1991, passim; Henrich, Myconius BW II 961, Nr. 1077; Paul Wernle, Calvin und Basel bis zum Tode des Myconius, Tübingen 1909, 5. 59-62; Denis, Pays rhénans 247-249. - Falls der in Enzinas BW 200f, Nr. 25a, veröffentlichte, undatierte Brief Falais' an Enzinas, in dem dieser (wenn möglich) nach Straßburg gebeten wurde, in Zusammenhang mit dem hier erwähnten Aufenthalt in Straß
burg stünde, wäre er auf die zweite Hälfte von April 1547 anzusetzen.
3 Vgl. Nr. 2907.
4 Mit "Belgien" bezeichnete man ein Gebiet, das sich vom nördlichen Teil Frankreichs über das heutige Belgien bis hin zum südlichen Teil der Niederlande erstreckte.
5 Valérand Poullain, geb. um 1520, gest. im Oktober 1557 (so Bopp-Il 641) in Frankfurt a.M., aus dem niederen burgundischen Adel (s. BSHPF VII 170). Im Jahr 1527 erhielt er das Bürgerrecht von Lilie (Dép. Nord). Schüler von Mathurin Cordier; Studium in Löwen. 1540 Priesterweihe. Etwa Anfang Oktober 1543 bei Bucer in Straßburg (Brief an Farel vom 6. Oktober 1543 "ex aedibus Bucerianis", CO XI 621-623). Durch Bucers Vermittlung ab Ende Mai 1544 Erzieher der Söhne des Grafen Heinrich von Nieder-Isenburg; ab September 1544 bis Januar 1545 im Dienst der französischen Fremdengemeinde in Straßburg. Danach Reisen an den Niederrhein, nach Flandern und England. Am 6. Januar 1548 Heirat mit einer Frau (s. Poullain an Enzinas, 6. Februar 1548, Enzinas BW 370: "Hodie mensis est quod uxorem duxi"), deren Name unbekannt ist, die aber mit Margarete Eiter, der späteren Gattin von Enzinas, und mit Anne t'Serclaes, der Frau von John Hooper, verwandt war (s. AK VI 579f, zu Nr.


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Er hat mit einer schlimmen Affäre ganz Basel in Aufruhr versetzt. Die angesehensten Männer in Basel (wie Oswald Myconius und der Bürgermeister 6 ) und in Straßburg (wie Martin Bucer oder Peter Martyr Vermigli) kennen ihn unterdessen. Er war von Jacques de Bourgogne, Herrn von Falais, beauftragt worden, ein adliges Mädchen 7 aus "Belgien" nach Basel zu bringen. Als sie während der gefährlichen Reise völlig auf ihn angewiesen war und bei niemand anderem Rat holen konnte, hat er sie mit schönen Worten bezirzt. Jetzt schändet er ihren Ruf mit falschen Aussagen! Schuld an dem ganzen Trubel ist sein verdorbenes Wesen wie auch der nun in Zürich lebende Engländer [John Hooper], der Poullain schon zu Beginn der Affäre den Kopf völlig verdreht hat. -[3]Sollte Poullain also nach Zürich kommen, dann seien die Zürcher vor ihm und seinen Kungeleien gewarnt! Er ist geschwätzig, geistig gewandt und imstande, unvorsichtige Menschen zu blenden. Hätte der Briefbote [...] noch warten können, würde Myconius Poullain noch treffender ais Enzinas beschreiben. Myconius sagt oft in Bezug auf Poullain, dass er niemals ein Christ geworden wäre, wenn Christen solche unsteten Wirrköpfe wie dieser sein müssten! -[4]Bei Enzinas' Empfehlungsschreiben für Hooper [HBBW XIX, Nr. 2861] ist Folgendes zu beachten: Enzinas hat darin nur die Glaubensauffassungen Hoopers gelobt. Über dessen Lebensweise hat er sich nicht geäußert. In Zusammenhang mit der genannten Affäre wurde es ihm nämlich immer klarer, dass Hooper nicht so integer ist wie angenommen (während der Lebenswandel von dessen Frau [Anne t'Serclaes]ganz im Gegenteil nur Ruhm verdient!). Genug aber davon. Mehr dazu mündlich. - [5] Enzinas schickt hiermit die "[Christliche, rechtmessige und bestendige]Appellation [und Protestation]" (les [abgesetzten]Kölner Erzbischofs Hermann von Wied 9 . Er erhielt sie von Peter Medmann, der Bullinger grüßen lässt und unterdessen vielleicht schon in Straßburg ist. Der Erzbischof wurde abgesetzt. Der Administrator [Adolf III. von Schaumburg]stiftet nur Unruhe. 10 Enzinas wird Bullinger etwas sehr Bemerkenswertes über den betagten Erzbischof 11 erzählen. -[6]Gruß.
6). lin April 1549 begleitete er Bucer nach England. 1551 Pfarrer der französischsprachigen Flüchtlingsgemeinde in Glastonbury (Somerset) bis zu deren erzwungener Auflösung 1553. Nach Aufenthalten in Antwerpen und Wesel konnte er Anfang März 1554 mit Erlaubnis des Frankfurter Rates die aus Glastonbury geflüchtete Gemeinde dort ansiedeln. Infolge von Streitigkeiten gab er am 22. September 1556 sein Amt auf. Von ihm sind mehrere Schriften überliefert. - Lit.: Friedrich Clemens Ebrard, Die französisch-reformierte Gemeinde in Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 1906, S. 49-96; Karl Bauer, Valérand Poullain. Ein kirchengeschichtliches Zeitbild aus der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, Elberfeld 1927; Bopp-I 419f, Nr. 4035; Bopp-Il 640f, Nr. 4035; BBKL VII 871f (mit Lit.).
6 Theodor Brand, noch his Sonntag vor Johannes Baptista (19. Juni 1547) in diesem
Amt; s. Fabian, Räte 421; Gast, Tagebuch 302, Anm. 1.
7 Isabelle de Haméricourt, dame de Willercies, gest. 13. Oktober 1580. - Lit.: Denis, Pays rhénans 246, Anm. 4.
8 Seit dem 29. März 1547; s. Nr. 2872, Anm. 18.
9 Die Schrift war im Januar 1547 erschienen. Bullinger hatte schon davon ein Exemplar mit Peter Medmanns Brief vom 4. Februar erhalten; s. HBBW XIX, Nr. 2793 und Anm. 4.
10 Die kurfürstliche Kanzlei hatte für Schaumburg den Titel "administrator" vorgeschlagen, da dieser "weder vom Domkapitel zum Kurfürsten und Erzbischof gewählt worden war, noch die Regalien erhalten hatte" (Hansgeorg Molitor, Das Erzbistum Köln im Zeitalter der Glaubenskämpfe, 15 15-1688, Köln 2008, S. 165).
11 Er war damals 70 Jahre alt.