Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2872]

[Bullinger]
an Oswald Myconius
Zürich,
4. April 1547

Autograph: Zürich StA, E II 342, 170 (Siegelabdruck) Zusammenfassung: Henrich, Myconius BW 955, Nr. 1070

[1]Auch wenn die zwei Briefe [HBBW XIX, Nr. 2855 und 2859] von Myconius keine Antwort erfordern, will Bullinger wenigstens mitteilen, dass sie gut angekommen sind. - [2]Myconius fand es lustig, dass er in einem an ihn gerichteten Brief [HBBW XIX, Nr. 2850]aufgefordert wurde, sich selbst dessen Inhalt zu erzählen. Gewiss ist dies ein deutliches Zeichen für Bullingers Arbeitsüberlastung! Im Gegenzug aber kann auch Bullinger über Myconius lachen, zumal dieser seinen letzten Brief [HBBW XIX, Nr. 2859]auf den "44."März datiert hat, als ob er im ersten Jahrhundert leben würde, wo nach Ansicht einiger [antiker Autoren] die Monate länger und die Tage kürzer gewesen seien. Der Brief war selbstverständlich vom 24. März. Wie schnell können solche Fehler passieren! -[3]Bullinger kann sich kaum vorstellen, dass Landgraf Philipp von Hessen etwas Böses im Schilde führt. Natürlich kann man sich in

1 Dieses Brieflein wurde von Traugott Schieß als P.S. des am 12. Dezember 1547 von Blasius verfassten Briefes (Nr. 3093) angesehen. Doch aus dem Vergleich seines Inhaltes mit Nr. 2877,38- 40, wird deutlich, dass vorliegendes Brieflein ursprünglich mit einem anderen Brief gesandt wurde und dass Letzterer (angesichts der vier bis sechs Tage, die es damals für eine Briefübermittlung zwischen Chur und Zürich bedurfte) nicht nach dem 6. April verfasst worden sein konnte. Bei dem gleichzeitig mit dem vorliegenden Brieflein gesandten Brief
könnte es sich um das vom 20. März datierte Schreiben der Kommissare des Gotteshausbundes und der Schulherren von Chur (HBBW XIX, Nr. 2852) gehandelt haben oder auch um einen heute nicht mehr erhaltenen Brief Blasius' an Bullinger von Anfang April 1547.
2 Siehe dazu oben Anm. 1.
3 Vgl. HBBW XIX 425,14-16; 427,13-15; 439,16f.
4 Venedig war damals den deutschen Protestanten zugetan; s. HBBW XVIII 242, Anm. 34.


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den Fürsten und allgemein in den Menschen täuschen. Bullingers Freund Johannes Pistorius teilte ihm aber brieflich [mit HBBW XIX, Nr. 2815] etwas Vertrauliches mit, das Grund zur Hoffnung gibt. -[4]Das Schiff aus indien [=Amerika]beflügelt die Fantasie! Was hat denn Kaiser Karl V. mit den. Indern zu tun? Solche Märchen erdichten diejenigen Kaufleute, die vor dieser halbverwesten Leiche auf die Knie fallen! Viel plausibler scheint es, dass mit den Schiffen lauter Seuchen eingeschleppt werden. -[5]Bullinger fürchtet, dass Straßburg sich ergeben hat, doch wartet er auf eine entsprechende Nachricht von Myconius. - [6] Den empfohlenen Engländer [John Hooper]hat Bullinger gezwungenermaßen in sein Haus aufgenommen, denn es war nicht leicht, eine geeignete Unterkunft für ihn zu finden. Bullinger schreibt "gezwungenermaßen ", nahm ihn aber gerne bei sich auf; zumal [Hooper] ein aufrichtiger Mensch zu sein scheint. Er wird wohl bei Hans Jäckli unterkommen, dem ehemaligen Schultheißen, der nun Kämmerer des Großmünsterstifts ist. Dieser wohnte früher gegenüber von Myconius und lebt jetzt im Haus zum Engel, gegenüber dem einstigen Wohnort Zwinglis. Vor Ostern werden die Hoopers wohl nicht umziehen. -[7] Vadian berichtete am 28. März [mit HBBW XIX, Nr. 2864] von einem Brief aus Nürnberg, in dem stand, dass die Truppen. von Herzog Moritz von Sachsen nach der Niederlage bei Rochlitz an einem anderen Ort unter Verlust von 8'000 Reitern und Fußsoldaten erneut geschlagen wurden, dass Truppen des Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen Bamberg besetzt haben und dass der Kurfürst mit einem bestens gerüsteten Heer der kaiserlichen Streitmacht entgegenzieht. Soweit Vadian. Wenn das nur stimmen würde! -[8]Myconius seien diese beiden jungen Zürcher empfohlen. Der eine, [Johannes], ist der hoffnungsvolle Sohn von [Heinrich] Buchter. Er und [Markus Wüst]werden voraussichtlich bei [Konrad Wolfhart], dem Kostgeber von Josias Simler, wohnen. Falls nötig, soll Myconius sie väterlich ermahnen. -[9]Gruß.

S. D. Binas 1 a tua humanitate recepi, quibus nihildum respondi. Et quamvis in iis nihil sit, ad quod respondere oporteat, volui tamen significare ilias mihi bona fide redditas.

locaris et rides, 2 quod scribens ad Myconium 3 Myconio dicere iusserim Myconium, quod tamen dixeram Myconio. 4 Sed hinc potes colligere, quam implicatum rne reddant multa eaque varia negotia. 5 Quid vero de te dicam, annon et ipse rideam, cum legam postremas tuas 44. martii esse datas, haud dubie in anno aliquo primi seculi, in quo putant nonnulli 7 longiores fuisse menses et dies breviores. Verum agnosco erratum et scio 44. positum pro 24. rnartii. Et facilis quidem est lapsus in rebus huiusmodi.

De Hesso 8 nondum pronuncio. Aegre enim credo virum illum aliquid alere monstri. 9 Quodsi fallit rne mea spes, non fallet rne tamen, quoad vixero,

1 Myconius' Briefe vom 21. und 24. März (HBBW XIX, Nr. 2855 und 2859).
2 Bezug auf HBBW XIX, Nr. 2859,[1].
3 Gemeint ist Bullingers Brief an Johannes Gast (und Myconius) vom 19. März (HBBW XIX, Nr. 2850).
4 Bezug auf HBBW XIX 427,[3].
5 Der Grund dafür ist komplexer: mit seinem Brief Nr. 2850 beabsichtigte Bullinger, an Gast zu schreiben. Gegen Schluss dieses Briefes merkte er aber, dass er nicht mehr die Zeit haben würde, auch Myconius zu schreiben. So bat er Gast,
den Brief auch Myconius zu zeigen. Schließlich adressierte er den Brief sowohl an Gast als auch an Myconius.
6 Gemeint ist Myconius' Brief an Bullinger vom 44. [sic] März 1547 (HBBW XIX, Nr. 2859).
7 Einige antike Autoren; s. dazu Pauly/Wissowa XVII 605 (s.v. Jahr).
8 Landgraf Philipp von Hessen.
9 Vgl. Adagia 2, 4, 98 (ASD 11/3 394, Nr. 1398). - Warum viele Besseres vom Landgrafen erwarteten, wird in HBBW XIX 42-44 dargelegt.


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princeps aut homo ullus. Scripsit quaedam sub fide silentii d. bannes Pistorius 10 , intimus meus, unde rursus bene sperare incoepi. 11 Dominus sarciat, quae desunt nobis.

Navis Indica 12 videtur attulisse materiam überein fabulandi (non enim dicam mentiendi) a . Quid enim negotii Carob 13 cum Indis? Sed ita magnifica crepunt 14 mercatores, 15 qui Carolum, putridum cadaver, 16 adorant. Ego potius Indicis navibus advectas crederem multas pestes!

Metuo, ne Argentina sese dediderit, 17 sed expecto tuas literas.

Anglum illum 18 per te mihi commendatum coactus sum in meas recipere edes. Aegre enim comodum hospitem invenit. "Coactus" tamen dico ex phrasi; nam libenter et ex animo illum quia syncerus esse videtur, recepi. Nanciscetur hospitem, opinor, d. bannem Jäckli 19 , qui praetorem 20 urbis agit, iam vero collegii nostri camerarius 21 est, vicinus ohm tuus ex opposito. 22 Iam agit in aedibus S. Angeli 23 ex opposito aedium Zvinglii felicis memoriae. Verum ante festum 24 non migrabunt 25 ad ipsum.

a Klammern ergänzt.
10 Am 18. Februar, mit Brief Nr. 2815 (HBBW XIX, 316-318).
11 Vermutlich wegen der von Pistorius übermittelten Nachricht über die durch den Landgrafen unternommene Verstärkung der hessischen Festungen; s. HBBW XIX 317,[2].
12 Anspielung auf HBBW XIX, Nr. 2855,[5], und 2859,[6], wo Myconius voneinander abweichende Berichte über einige aus Indien (gemeint ist Amerika) kommende, mit Gold beladene und für den Kaiser bestimmte Schiffe mitgeteilt hatte.
13 Kaiser Karl V.
14 Seit der Spätantike belegte Form für "crepant"; s. Stotz IV 173, Nr. 101.1.
15 Zu Bullingers Skepsis gegenüber den Aussagen der Kaufleute s. schon HBBW XVIII 421.
16 Vgl. HBBW XVIII 297,19; 375,16; 452,5; XIX 130,15; 143,78.
17 Straßburg hatte sich am 21. März 1547 (Datum des Fußfalls und Vertrags) dem Kaiser ergeben; s. HBBW XIX, Nr. 2822, Anm. 16.
18 John Hooper: vgl. HBBW XIX, Nr. 2859. 2861. Aus HBD 35,5-7, geht hervor, dass Hooper und seine Frau Anne t'Serclaes am 29. März 1547 in Zürich eintrafen und für einige Tage in Bullingers Haus aufgenommen wurden. In Zürich blieben sie bis zum 24. März 1549; s. HBD 37,1f mit Anm. 1.
19 Der Metzger Hans Jäckli, geb. um 1490, gest. ca. 31. Dezember 1562. Seit 1525 immer wieder Zunftmeister Zum Widder und als solcher Ratsherr des Baptistairates (gelegentlich war er Ratsherr, auch ohne Zunftmeister gewesen zu sein); von 1541 bis 1544 und 1546 Eherichter; 1546 Schultheiß. Dem vorliegenden Brief zufolge mindestens von April 1547 an bis 1553 Kämmerer des Großmünsterstifts; s. Fabian, Räte 519; Schnyder, Ratslisten 585; LL X 406.
29 Schultheiß. -So wurde in Zürich der Präsident des Stadtgerichtes bezeichnet; s. Handbuch der Schweizer Geschichte, Bd. 1, Zürich 1971. S. 549.
21 Kämmerer.
22 Myconius wohnte in Zürich "iuxta officinam bombardarum", d.h. neben dem Zeughaus (also ganz in der Nähe des heutigen Züghusplatzes); s. MiscTig. 114 (Vita Rodolphi Collini); Zürcher Stadtplan von Jos Murer (1576).
23 Das Haus Zum Engel, heute Kirchgasse 24, ehemals ein Chorherrenhof; s. dazu Vögelin I 341 mit Anm. 15, wo aber die Assekuranznummer nicht 184b, sondern richtig 182, Große Stadt, lauten muss; vgl. Adrian Corrodi-Sulzer, Häuserregesten der Zürcher Altstadt, Zürich Stadtarchiv VII.330, Schachtel 17. Es liegt gegenüber der alten "Schulei" (heute "Helferei"), wo Zwingli ab 1525 gewohnt hatte; s. Vögelin I 335.


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||v. Haec 28. martii totidem verbis ad me dedit d. Vadianus 26 : "Nostri heri literas e Neroberga acceperunt, quibus significatur post cladem illam Rochlicensem 27 Mauritii 28 copias alio rursum loco profligatas octo milibus equitum et peditum desideratis. 29 Ferunt et Bambergam occupatam ab electoris copiis. 30 Certum est [in]structissimo b exercitu electorem adorsurum caesaris exercitum, quantuscunque tandem sit futurus." Haec ille. 31 Quod, ut verum esset c , modis omnibus cupio, ita de veritate eius admodum dubito!

Commendo tibi hos nostros adulescentes. Alter Buchten 32 nostr[i] filius 33 est optimae spei. 34 Divertent, opinor, ad herum Josiae 35 . Tu ergo, si quid videris i[psos]d peccare, veluti filios admone, etc.

Vale. Tiguri, 4. aprilis 1547.

[Ohne Unterschrift.]

[Adresse darunter:] Praestantissimo viro d. Osvaldo Myconio, fratri et domino suo colendo. Basel. 36

h Hier und unten Text teils im engen Einband verdeckt. -
c In der Vorlage esse. -
d Ergänzt aus Johann Jakob Simlers (1716-1788) Abschrift in Ms. 63, 190.
24 Gemeint ist Ostern (10. April 1547).
25 Hooper und seine Frau.
26 Mit Brief Nr. 2864 (HBBW XIX 457f).
27 Am 2. März 1547 hatten die Truppen des Markgrafen Albrecht II. Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach bei Rochlitz eine Niederlage gegen die Truppen des Kurfürsten Johann Friedrich I. von Sachsen hinnehmen müssen; s. HBBW XIX 379, Anm. 35; 422, Anm. 33.
28 Herzog Moritz von Sachsen.
29 Ein falsches Gerücht.
30 Anspielung auf den Streifzug kurfürstlicher Befehlshaber gegen das zum Bistum Bamberg gehörende Territorium des Markgrafen; s. HBBW XIX 458, Anm. 5.
31 Bullingers Zitat ist wortgetreu.
32 Heinrich Buchter, der Nachfolger von Kaspar Megander als erster Archidiakon am Großmünster; s. HBBW XV 481f, Anm. 12; 535, Nr. 2247.
33 Johannes Buchter, gest. 26. Mai 1566. Er war vom 4. März 1539 bis zum 18. Juli 1541 Schüler in Kappel; s. Zürich StA, E 114/i, S. 33; E I 17/1, f. 265v. Zu Crucis (14. September) 1541 wurde er ins Großmünsterstift aufgenommen und erhielt ein Stipendium bis Crucis 1548; s. Zürich ZB, Ms Car C 44, S. 922, Nr. 27; Ms F 95, Nr. 28; Zürich StA, G II 39.2, Studentenamtsrechnungen des Jahres
1548/49. Daher kann er nicht, wie in Pf- Zürich 226 angegeben, schon 1547 ordiniert worden sein, sondern frühestens im Herbst 1548. Zu seinem Lebenslauf s. ebd. und Zürich StA, G I 179, 51r.
34 Der Gebrauch des Wortes "alter" lässt erkennen, dass sich damals noch ein zweiter Zürcher zum Studium nach Basel begab. Es handelt sich um Markus Wüst (Turpilius); s. M-Basel 49, Nr. 31f. Er war für das im Sommer beginnende Schuljahr 1544 bis kurz vor seiner Abreise nach Basel Hauswart ("custos") an der obersten Gelehrtenschule des Großmünsters (d.h. am Lektorium). Ab dem Sommer 1545 war er zudem auch Lektor; s. Zürich StA, G II 39.2, Einträge zu den Jahren 1544/45, 1545/46 und 1546/47. - Vermutlich war es der junge Markus, der im Frühjahr 1546 die Tatian-Ubersetzung von Konrad Gessner zu Georg Frölich nach Augsburg gebracht hatte; s. HBBW XVI 300,102.
35 Josias Simler, der damals zusammen mit Huldrych Zwingli d.J. bei Konrad Wolfhart (Lycosthenes) wohnte; s. zuletzt HBBW XIX 177 und Anm. 11.
36 Vorliegender Brief wurde (s. oben Z. 35-37) von den Zürcher Studenten Johannes Buchter und Markus Wüst übermittelt.