Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

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[BULLINGER AN
BARBARA MAY ] [1528, 1529]

Autographe Abschrift oder Konzept: Zürich ZB, Msc F 47, 270r. —271r. 3 fol. S., sehr gut erhalten Ungedruckt

Beantwortet ihren ratsuchenden Brief und bestärkt sie in ihrem Entschluß, nicht mehr ins Kloster zurückzukehren: das Nonnenleben sei nicht Gottes Wille, sondern nur menschliche Erfindung. Übersendet das Lobgedicht eines Zürchers auf die Stadt Bern und bittet um eine Schrift von Niklaus Manuel, tröstet sie und ihre Familie wegen des Unglücks ihres Bruders.

Jesus Christus, gottes und a Mariae son verliche 3 üch sinen göttlichen geist, daß ir inn 4 alein erckennind das einig oberist gut 5 sin damitt ir in einem guten glückseligen jar gantz selencklich 7 läbind. Amen.

a Von hier an zahlreiche Unterstreichungen und einige Randbemerkungen von J. H. Hottinger.
1 Barbara May, aus vornehmer Berner Familie, Tochter des Glado (Claudius) May, Dominikanerin im Inselkloster Bern. Am 29. September 1523 besuchten die drei reformatorisch gesinnten Geistlichen Dr. Thomas Wyttenbach, Dr. Sebastian Meyer und Berchtold Haller (s. unten S. 205, Anm. 1) das Kloster und unternahmen den mißlungenen Versuch, Barbara und andere Insassen von der Sinnlosigkeit des klösterlichen Lebens zu überzeugen. Die heftige Äußerung Hallers, die Klosterfrauen wären des Teufels, wenn sie ihr Seelenheil allein auf ihren Orden und ehelosen Stand gründen wollten, rief den Widerspruch von Frau Venner Brüggler, Barbaras Großmutter, und anderer hervor; dies führte zu einer Klage beim Rat und beinahe zur Ausweisung der drei Prädikanten (Anshelm V 24ff). Barbaras Vater, ein Förderer der Reformation, gab ihr bei ihrem Eintritt ins Kloster eine reiche Aussteuer, suchte seine Tochter jedoch bald zum Austritt zu bewegen. Nach seinem Tode im Jahr 1527 schrieb Johannes Cochläus in seiner Streitschrift «An die Herren Schultheis und Radt zu Bern widder yhre vermainte Reformation», 1528, die Tochter des Claudius sollte Gott danken, daß er sie von einem solchen Vater erlöst habe, der sie so oft zum Austritt aus dem Orden habe bewegen wollen. Mit dem Durchbruch der Reformation in Bern begannen die Dominikanerinnen ihr Kloster zu verlassen und erhielten ihre Aussteuern zurück; die erste Quittung, die nach erfolgtem Austritt dem Vogt des Klosters ausgehändigt wurde, stammt von Barbara May, datiert vom 24. August 1528. Im nächsten Jahr heiratete Barbara Ludwig Ammann, den Sohn des ehemaligen Zürcher Stadtschreibers. —Bullinger könnte Barbara May bei seinem Aufenthalt anläßlich der Berner Disputation persönlich kennengelernt haben. Die Einleitung dieses Briefes läßt jedenfalls darauf schließen, daß sie sich mehrmals brieflich an Bullinger gewandt hat. —Lit.: Gottlieb Studer, Zur Geschichte des Insel-Klosters, in: AHVB IV, 1858-1860, H. 2, S. 48-53; Pestalozzi 54. 629; A. von May, Bartholomeus May und seine Familie. Ein Lebensbild aus der Reformationszeit, in: Berner Taschenbuch 1874, Jg. 23, S. 135ff. 167f; Stammblätter der Berner Familie von May, 1967, Nr. 5, Bern StA.
2 Der Neujahrsgruß Bullingers am Anfang dieses Schreibens weist auf eine Jahreswende hin. Auch erwähnt er Barbaras Klosteraustritt. Weil dieser im August 1528 erfolgte (s. oben Anm. 1), muß die Entstehungszeit des Schreibens in die zweite Hälfte Dezember 1528 oder auf die ersten Tage Januar 1529 fallen. Diese Datierung wird durch die Bemerkung über Niklaus Manuel als Venner (gewählt am 7. Oktober 1528, s. unten Anm. 100) erhärtet.
3 verleihe.
4 ihn.
5 Zu diesem die Gotteslehre Bullingers geradezu beherrschenden Begriffs. Heinrich Bullinger, Das höchste Gut, übers. u. hg. v. Joachim Staedtke, Zürich 1955, S. 7-30.
6 zu sein.
7 selig (vgl. SI VII 699).


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Üwer letst warlich wyses, früntlichs und mir gantz anmütig 8 schryben 9 hat mich, geliepten und dugentrychen 10 wolgebor[en] frowen, uß der massen 11 wol gefröuwt, und so vil me, so vil geneigter ich üch mir alle zyt befind 12 . Ouch von üweren getrüwen brüderen 13 hör b , daß sy üch wol bedenckend 14 und es üch uß der maassen wol gadt. Das kan mich warlich nitt gnug und one end fröwen, besonders daß ir das kloster verlassen habend 15 . Daran söllend ir gantz ghein rüwen 16 haben, ist min ernstliche pitt, ja vil me gott dancken, daß er üch erlöst hat. Hie gedenckend jetzund der trostlichen worten Christi unsers heylands und siner apostlen. Christus spricht Mathaei 15 [9]: «Vergäbens eerend sy mich mitt menschen satzungen 17 .» Nun ist das gwüß, daß üwer klosterläben und üwer orden ein menschen satzung ist. Dann Dominicus 18 ist wol vor 400 jaren xin 19 , und hat man darvor von Christus purt 20 tusendt jar von keinem sölichen orden gewüst, ja üwer statt Bernn ist ettwas elter dann üwer orden 21 . Dorumb üch nüt rüwen sol an dem stand, der so nüw ist von menschen angerycht 22 , usset 23 gottes wort, und in dem ir gott nüt gedienet hettind, lut 24 siner worten. Imm Evangelio Luce am 17 [20f] spricht der herr abermols, das rych gottes stande nitt in 25 usseren dingen. Also Paulus zuon Römeren am 14 [17]: das rych gottes sye «fryd, fröud und grechtigheit imm heyligen geist». So ists ye nitt kutten, orden, sibenzyt 26 oder derley münchenthumbs 27 . Aber 28 spricht er Ioan. am 8 [12]: «Ich bin das liecht der wellt. Wer mir volgen wirt nitt in der finsternuß wandlen.» Item der vatter züget 29 vom himel 30 Mathaei 17 [5]: «Das ist min lieber son, imm 31 loosend 32 »; und Paulus Colloss. 2 [3]: «In imm sind alle schetz der wysheyt»; und 1. Cor. 1 [30]: «Christus ist uns von gott zur wysheyt gäben»; item Mathaei 23 [10]: Christus ist unser einiger 33 meister. So dem nun also ist und

b aus hören korrigiert.
8 angenehmes (SI IV 582).
9 Der Brief blieb nicht erhalten.
10 tugendreiche.
11 überaus.
12 finde.
13 Sie hatte acht Brüder, der älteste war Bendicht May (Schweizerisches Geschlechterbuch, Jg. 2, 1907, S. 328).
14 für euch sorgen, beistehen (SI XIII 678).
15 Vor dem 24. August 1528 (s. oben Anm. 1).
16 Reue.
17 Geboten.
18 Dominikus, Stifter des Dominikanerordens (etwa 1170-1221).
19 gewesen.
20 von Christi Geburt an.
21 Bern wurde 1191 gegründet.
22 eingerichtet (SI VI 408f).
23 ohne, außerhalb.
24 laut.
25 bestehe nicht in, beruhe nicht auf... (vgl. SI XI 540).
26 die kanonischen Horen, Gebetszeiten (SI VII 46f).
27 mönchische Sachen.
28 wiederum, weiter (SI I 40).
29 bezeugt.
30 vom Himmel herab.
31 ihm.
32 höret auf ihn.
33 alleiniger.


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Christus die einig wysheit ist, das einig liecht, der recht meister, der die seeligheit alein gipt und weist 34 worumb ers gibt, hette er doch billich 35 der örden gedacht 36 , wo sy not 37 werend zum heyl. Er hat iren aber nienen 38 gedacht, wie die heyligen gschrifft züget, die doch alles verfasset 39 , das notwendig zum heyl ist: loan. 20 [31]; 2. Timo. 3 [14ff]. So ist ouch das klosterläben nitt not zum heyl, zuo dem daß es, wie obgemellt 40 , dusent 41 jar nach Christus purt erst uffgrycht ist. Dorumb habend ghein duren 43 dran, fröwend üch üwer christenlichen fryheyt, und daß Paulus spricht 1. Cor. 3 [21]: «Alle ding sind üwer», verstadt ussere libliche ding, menschen uffsetz 44. Item 1. Cor 7 [23]: «Ir sind thür erckoufft, werdent nitt der menschen knecht.» Lieber läsend ouch das ander 45 capittel zun Collosseren [2,8ff] und das 4. cap. der Ersten c epistel Pauli zum Timotheo [1 Tim 4,1 ff]. Imm 5. cap. wil er schlechts 46 nitt, daß man junge frowen in glübd uffnemme der reinigheit 47 ; sy söllind fromm sin, kinder zühen 48 , huß hallten und nitt fuulen 49 under einem valschen schyn deß geists 50 . Läsend die ding eigentlich 51 mitt urteyl, so erfindent ir, daß das warlich nitt ein gotsdienst ist, damitt man bishar umbgangen ist, sunder das, deß man wenig ||270v. geachtet hat: glouben, liebe, unschuld, dugend, sorgsamme 52 , hushaben 53 , barmhertzigheyt, dultmut 54 , frid, kinder zühen, von sünden ston 55 , das recht 56 annemmen, lutergheyt 57 , warheyt. Wie aber die ding in klösteren geballten, ist darby 58 schyn 59 , daß man die gantzen summ 60 nun gebunden hat an götzenwerck, messen, schryen oder singen unverstandne ding, wachen, brummlen, spysen, kleider etc., alles ussere ding, deren doch die seel nitt besonderbars erfröwt 61 ist, noch gott vereeret, dann es was nitt sin gebott, noch der nechst erbesseret 62 ,
c vor Ersten gestrichen and [er].
34 weiß.
35 billigerweise.
36 die Orden erwähnt.
37 nötig.
38 nie, nirgends (SI IV 761f).
39 umfaßt, enthält.
40 obenerwähnt.
41 tausend.
42 aufgestellt, gegründet, gestiftet (vgl. SI VI 4030.
43 Bedauern.
44 Anordnungen (SI VII 1529).
45 zweite.
46 einfach, schlechterdings.
47 Keuschheit (SI VI 992); öfters bei Zwingli (s. vor allem Z I 227ff).
48 erziehen.
49 faul sein, faulenzen.
50 in einem nur dem Anschein nach geistlichen Leben.
51 genau.
52 Sorgfalt, Fleiß.
53 Haushalt führen.
54 Geduld, Langmut (SI IV 5840.
55 abstehen, sich enthalten.
56 das Richtige, Gute.
57 Lauterkeit.
58 dabei (SI IV 908).
59 offenbar (SI VIII 798).
60 das Ganze, nämlich den Gottesdienst.
61 erfreut, erbaut.
62 in besseren Zustand versetzt; gemeint ist die ökonomische Lage.


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dann er sy 63 mee 64 engallt 65 mitt ggeben 66 und stüren 67 etc. 68 , ye daß üch an dem verlassnen stand 69 nützid 70 duren 71 sol. Sinnend vil me jetzund, wie ir jetzund wellend in gottes huld läben, all üweren trost, hertz, mut 72 und sinn in dem einigen gott setzen, der alles erschaffen hat, der sinen son, unseren herren Jesum für unns ggeben hat, der ouch üch mitt seel und lib 73 erschaffen hat; daß ir ja den selben alein anrüffind, üch imm alein übergäbind und bittind mitt dem propheten David imm 5. Psal. [9]: «O gott, leyt mich in diner grechtigheit, mach mir dine wäg richtig 74 und lycht». Flissend üch 75 , daß ir niemands beleidigind, daß ir yederman, so vil an üch stadt, guts thügind, das die armen üwer geniessind 76 , daß ir üweren lib dem geist underthügind 77 und üwerem herren Jesu nachvolgind in demut, güte, liebe, gedullt, verzyhung, reinigheyt, zucht und erbergheyt 78 : so wirt alle hochfart, zorn, haß, uffsatz 79 raach und was unrecht ist, niergend 80 by üch bliben. Habend ir die hoch gaab 81 von gott, so blibend also 82 gott stiff 83 und stät 84 mitt hertzlichem anbauten 85 : 1. Corinth. 7 [7f]; habend ir sy nitt, so thünd das üch aber gott mitt sampt sinen apostlen heist Mathaei 19 [4ff], 1. d Corinth. 7 [1ff], 9 [5], 1.Timoth. 3 [1ff], 4 [3ff], 5 [9ff], Titum 2 [4], Hebraeos 13 [4]. So ir dann also in gotsforcht läbind, so werdint ir gott vil baß 86 gefallenn, dann hettind ir trissig wyler uff 87 ! Nemend min trost und instruction imm besten an, dann ichs uß getruwem früntlichem gmüt gethon hab.

Hie antwurtend jetzund selbs, was ir thun wellind; ob ir das Wygerhuß 88

d 1 aus 2 korrigiert.
63 dessen (SI VII 1014).
64 mehr.
65 hatte Nachteile, Kosten (SI II 279).
66 Schenken.
67 Spenden (SI XI 1286. 1360).
68 denn er (der Nächste, der Mitmensch) hatte deswegen mehr Kosten mit Schenken und Spenden etc.
69 nämlich als Nonne.
70 nichts.
71 reuen.
72 Gemüt, Wille (SI IV 581).
73 Leib.
74 gerade (SI VI 464).
75 trachtet fleißig danach (vgl. SI I 1211).
76 einen Nutzen von euch haben.
77 unterwerfen (SI XIII 403).
78 Ehrbarkeit.
79 Feindschaft, Haß (SI VII 1537).
80 in keiner Beziehung.
81 Ergänze: der Jungfrauschaft, der Enthaltsamkeit (vgl. 1 Kor 7,7).
82 so, nämlich jungfräulich.
83 ohne Wanken.
84 beständig (SI XI 1818).
85 Beharrlichkeit.
86 besser.
87 als wenn ihr dreißig Schleier aufhättet!
88 Ein Haus mit diesem Namen ist in der Stadt Bern nicht bekannt. Die in der Reformationszeit manchmal erwähnte Familie Wyo, Wyen, Wyger in Bern (vgl. ABernerRef, Reg.) war zu unbedeutend, um als Namensgeber und Besitzer eines Hauses zu gelten, das die Tochter des reichen Glado May erwerben wollte. Möglicherweise bezeichnet das Wort hier einfach ein «Weierhaus», d. h. ein Herrenhaus oder Schloß mit Wasser umgeben (vgl. SI II 1735). Es liegt nahe, dabei an das Schloß Holligen vor den Toren Berns zu denken, das damals noch ein Weierschloß und Eigentum der Familie von Diesbach war. Näheres läßt sich nicht


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kouffen und ein Bernner werden wellind. Lügend 89 und verantwurtends wyslich.

Deß mechtigen uuszugs halb und erlicher 90 lüten ins feld verordnet sind wir ouch sust berycht 91 worden, aber nitt so häll alls ir das gethon 92 . Loben den allmechtigen gott, daß er die sinen nitt verlaast. Gloub ouch, er werde ein eerliche, hochverrümpte 93 statt Bernn fürhin 94 erbauten (wo sy by imm bstond 95 , alls ich nitt zwyfflen)96 wie bishar, und sy mitt grossen eeren und gut begaaben etc. Ich schicken üch hie ein lied, ist der statt Bernn ze lieb gemachet von dem handel 97 ||271r. von einem Zurycher 98 , und bitten, ir wellind mir umb das helfen 99 , das Venner Walter 100 hiervon gemachet hat 101. 88f

ermitteln; jedenfalls kam das Schloß nicht in den Besitz von Barbara May (freundliche Auskunft von Dr. H. Specker, Bern StA).
89 Sehet zu.
90 ansehnlicher.
91 unterrichtet.
92 Da der Brief von Barbara May wahrscheinlich in der ersten Hälfte Dezember oder schon im November geschrieben wurde, wird sie darin über die Unruhen im Berner Oberland berichtet haben, vgl. Hermann Specker, Die Reformationswirren im Berner Oberland 1528. Ihre Geschichte und ihre Folgen, Freiburg i. d. Schweiz 1951. — ZSKG, Bh. 9.
93 hochberühmte.
94 in Zukunft.
95 bleibt.
96 wie ich nicht zweifle.
97 Sache.
98 Weder das Lied noch der Verfasser lassen sich ermitteln. Wohl hatte der seit März 1528 in Bern wirkende Zürcher Johannes Rhellikan (s. unten S. 215, Anm. 55) im November 1528 ein Siegesgedicht über die erfolgreiche Niederwerfung des Oberländer Aufstandes geschrieben (der Text bei de Quervain 261 f), es ist jedoch unwahrscheinlich, daß Bullinger der Berner Patriziertochter ein lateinisches Gedicht hätte zukommen lassen. —Möglicherweise handelt es sich hier um jenes Gebetslied, das die ältere Tradition, wahrscheinlich fälschlich, Niklaus Manuel zuschrieb: «Ein Lied und gebeth uber das, Laß uns nit undertrucken, als ettlich den Frommen von Bern Ire Lüt hattent unghorsam gmacht. Das got durch sins Bunts willen Sig und oberhandt den Frommen von Zürch und Bern verlyhen wölle», 1528, gedruckt bei C. Grüneisen, Niclaus Manuel. Leben und Werke eines Malers und Dichters, Kriegers, Staatsmannes und Reformators im sechzehnten Jahrhundert, Stuttgart und Tübingen 1837, S. 451-453; s. noch ebenda S. 229 f; vgl. Rochus von Liliencron, Die historischen Volkslieder der Deutschen vom 13. bis 16. Jahrhundert, Bd. III, Leipzig 1867, S. 573.
99 dazu verhelfen.
100 Niklaus Manuel, 1484-1530, Maler, Dichter, Kriegsmann und Politiker, Förderer der Reformation. Seit 1510 Mitglied des Großen Rates, 1523-1528 Landvogt zu Erlach. Am 14. April 1528 wurde er in den Kleinen Rat gewählt, am 7. Oktober mit dem Amt des Venners der Gerberzunft betraut; damit erreichte er den dritthöchsten Rang im Staate. Im Oberländer Aufstand 1528 war er Bannerhauptmann und Kommandant von Thun, im Ersten Kappeler Krieg Venner bei den von Bern geschickten Truppen. In den Jahren 1528 bis 1530 betraute man ihn häufig mit verschiedenen heiklen Missionen. Eine wichtige Rolle spielte er als Vermittler zwischen den Glaubensparteien. — Lit.: Jean-Paul Tardent, Niklaus Manuel als Staatsmann, Bern 1967. —AHVB 51 (mit ausführlicher Bibliographie).
101 Es gibt zwei dichterische Werke, die dabei in Frage kommen könnten. Einmal das erwähnte Gebetslied (Anm. 98), das jedoch von der literaturgeschichtlichen Forschung aus sachlich-formalen Gründen nicht als Manuels Werk angesehen wird (s. Grüneisen, aaO; von Liliencron, aaO; Manuel, aaO). Zweitens das sog. Interlachnerlied: «Ein nüw Lied von der uffrur der landtlüten zu Inderlappenn in der herschafft Bern in üchtlandt, beschehen imm MDXXVIII jar», gedruckt bei von Liliencron, aaO, S. 573-576 und Ad. Fluri, Mathias Apiarius, der erste Buchdrucker Berns (1537-1554), in: Neues Berner Taschenbuch auf das Jahr 1897, S. 210 bis 216. Als Verfasser wird Manuel vermutet (s. von Liliencron, aaO; Theodor von Liebenau, Notizen über historische Lieder und Dichter schweizerischer Schlachtlieder, in: ASG I, 276-279; Ad. Fluri, Das Interlachnerlied, in: Neues Berner Taschenbuch auf das Jahr 1904, S. 259-265). Zurückhaltender äußert sich Bächtold (Manuel CCXIV). — Bullingers Angabe bestätigt jedenfalls, daß Manuel tatsächlich Verfasser eines Liedes über den Oberländeraufstand


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Es ist ouch mir üwers bruders 102 faal von hertzen leyd. Imm und üch allen widerfaart, das der prophet Salomon in Sprüchen am 3. cap. [12] spricht: «Wen gott liebet, den heimsucht er zun zyten». So ist ouch sellten fröud one leyd 103 ; beschicht von gott, daß wir sinen 104 nitt vergessind etc. Iren grutz ist mir träffenlich e 105 angnäm, embüten inen ouch hiemitt minen willigen dienst, minen früntlichen grutz und was ich inen liebs, eer und guts vermöchte 106 . Also ist ouch min pitt, ir wellind mir frow Catherinen 107 , üwere schwester früntlichen grützen etc.

Ich dancken ouch üwer müy 108 und arbeyt, besonders günstige 109 frow, daß ir üch so vil habend bemüyen mögen und mir biß in die langen nacht schryben. Kan wol verston, das ir vil mögend umb minet willen dulden, ouch mitt sömlichem 110 ein rechten gunst zuo mir tragend; derhalben ir mich allwägen alls ein guten fründt finden werdent, also ouch, daß ich mich nitt bald 111 mitt gunst, liebe und guthet 112 wirt überwinden"113 lassen"114 etc.

Das ir mir schrybind, der radt üch von mir ggeben sye trostlich und eerlich, fröwt mich nitt ein wenig, dann ich üch gern das radten wellte, das üwer nutz, fug 115 und eer. Wyters schrybens halben wundert mich alein; dann thund ir wie ich, so schlahend ir vil an 116 in abwäsen 117 , die üch doch in bywäsen 118 vor f fröüd und vile der hendlen g nitt mee zuo sinn kummend, zuo dem, das die

e von hertzen gestrichen, träffenlich darübergeschrieben.
f-g von vor bis hendlen übergeschrieben.
101f war; die Vermutung, daß das «Interlachnerlied» von ihm stammt, gewinnt somit viel an Wahrscheinlichkeit.
102 Gemeint ist wahrscheinlich Jakob May, etwa 1493-1538, der als abenteuerlustige und kriegsliebende Natur galt und 1527 als einer der wenigen Überlebenden nach der erfolglosen Belagerung von Neapel aus päpstlichen Diensten heimgekehrt war. Er wurde ein überzeugter Anhänger der Reformation, nahm am Zweiten Kappeler Krieg als Hauptmann teil und gab seines Unmutes wegen der Haltung Berns vor der Truppe offen Ausdruck; er stellte sich hinter den Feldprediger Franz Kolb (s. unten S. 215, Anm. 54), der in einer erbitterten Predigt die Berner beschimpft hatte (s. HBRG III 213-215; von May, aaO, S. 158 bis 161. 17Sf; Stammblätter der Familie von May, aaO). Bullinger lernte ihn sicherlich während der Berner Disputation kennen; er widmete ihm eine (verlorengegangene) deutsche Schrift, die er in seinem Schriftenverzeichnis unter folgendem Titel aufführt: «De universa ratione scripturae sanctae ad lacobum a Madiis Bernensem» (HBD 14, 27 f; Zimmermann 232). — Welches Unglück die Familie May und besonders den Bruder Barbaras zu dieser Zeit getroffen hat, läßt sich nicht feststellen.
103 Kirchhofer 149.
104 ihn.
105 außerordentlich.
106 Demnach kannte er mehrere Mitglieder der Familie May.
107 Catharina May, Gattin des Heinrich von Hünenberg (Stammblätter der Berner Familie von May, aaO). Bullinger lernte sie wahrscheinlich während der Berner Disputation kennen.
108 Mühe.
109 wohlwollende, mir gewogene.
110 solchem.
111 nicht leicht, nicht so schnell (SI IV 1195).
112 Guttat, Wohltat.
113 übertreffen (Lexer II 1680).
114 ich werde mich nicht leicht an Geneigtheit, Liebe und Gutes-Tun (der Adressatin gegenüber) übertreffen lassen.
115 etwas Angenehmes (SI I 700).
116 so plant ihr viel (SI IX 386).
117 Abwesenheit.
118 Anwesenheit.


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gschrifft wolbedacht, yffrig und wys ist. Daß ir ouch sprächind, ir wellend imm nachsinnen, thund ir wyslich, dann man spricht: «Wol besinnen verhont 119 nie ghein sach 120 .» Aber zum ersten thuon, und darnach radt suchen oder besinnen ist ein dorheyt. Dorumb Salustius [!]sprach: «Ein yedes ding soll mitt ryffem radt vorbetrachtet werden und, so es dann erraten 121 , sol es unverzogen dappfferlich zehand genommen werden.» 122 Besähend ouch die welt nun wol; sy last sy anesähen und doch nitt schnell erduren 123 . Alle wellt ist vallsches voll, dorumb thund ir imm recht 124 und zum wysisten, daß ir üch imm end in gottes willen ergäbend. Dann wer in gott vertruwt, wirt nitt ze schanden, spricht sin heyliger prophet Isaias [49, 23].

Zum letsten ist min trungenliche 125 früntliche pitt, ir wellend min schryben guoter meinung empfahen, dann, so es zuo dem üweren gelegt, ist es gar kleinfüg 126 . Gedenckend, daß man spricht, die lüt, so glich nitt wol reden könnind, syend gar nitt ze betriegen geschickt h 127 , sunder die früntlichosten, alls die vil hefftiger imm hertzen und der thaat syend dann die wort lutend 128 .

Hiemitt dancken ich üch aller eeren und alles guts, embüt 129 mich das ze widergellten 130 , wie ich könde und mir müglich. Gott sye mitt üch.

h vor geschickt gestrichen nitt.
119 verdirbt (SI II 1365).
120 Der Spruch läßt sich nirgends belegen.
121 beschlossen (SI VI 1602).
122 De coniuratione Catilinae I.
123 prüfen, erforschen (SI XIII 1298f).
124 tut ihr recht daran.
125 dringliche (Grimm II 1457).
126 geringfügig (SI I 701).
127 geeignet.
128 Vgl. Wander I 345.
129 erbiete.
130 vergelten.