Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2797]

Oswald Myconius an
Bullinger
Basel,
6. Februar 1547

Autograph: Zürich StA, E II 336a, 271 (Siegelspur) Zusammenfassung: Henrich, Myconius BW 937f, Nr. 1054

[1]Myconius liegt krank darnieder. Jeder will von ihm wissen, ob nun die Fünf Orte wirklich Bullinger und Rudolf Gwalther wegen Verletzung des [Zweiten Kappeler]Landfriedens bestrafen wollen. Doch kann er keine genaue Auskunft darüber geben. Es belastet ihn, immer etwas anderes und im Laufe der Zeit stets etwas Schlimmeres darüber zu hören. Bullinger hatte zwar [in Nr. 2757] Gwalthers "Endtchrist" erwähnt, berichtete aber nichts über sich selbst. Falls man ihn wegen derselben Sache belangt, wird er sich wohl zu verteidigen wissen. Gerade kam Isaak Keller mit Bullingers Brief [Nr. 2788]. Dies ermöglichte eine Nachfrage über die Angelegenheit, zumal der Brief keine Auskunft darüber gibt. Keller behauptet, dass die Sache erledigt sei. Wie schön! Gott sei Dank! [2]Die Lage in Schwaben ist furchtbar! Konstanz ist besonders zu bedauern, jedoch auch die Helvetier, deren Machtlosigkeit hier klar ersichtlich wird. Denn wenn die Helvetier den Spaniern und Italienern erlauben, den Bodensee zu überqueren und Konstanz zu besetzen, erlauben sie diesen, ihren Boden zu betreten und sie von dort aus anzugreifen. Gott scheint fest vorzuhaben, die Eidgenossen zu bestrafen! [3]Vom Hof des französischen Gesandten [Antoine Morelet du Museau oder François de La Rivière] kommt die Mitteilung, dass Emanuel Philibert, der Sohn Herzog Karls III. von Savoven, mit der Unterstützung des portugiesischen Königs Johann Ill, ein Heer von etwa 70'000 Spaniern aufstellt, um damit Savoyen zurückerobern zu können. Auch [Philipp von Spanien], der Sohn Kaiser Karls V., sei dabei. Karl III. von Savoyen hat gewiss vor, sein ihm im deutschen Reichsteil besetztes Territorium wieder für sich zu beanspruchen und dort Besatzungstruppen zu stationieren, um einen Aufstand zu verhindern. Dies ist der Preis, den Deutschland zahlen muss, weil es dem wortbrüchigen Genter [Karl V.] erlaubt hat, fremde Truppen bei sich einzuführen! [4]Dass der Kurfürst Johann Friedrich seit seiner Rückkehr nach Sachsen Gott auf seiner Seite hat, ist gut bekannt. Bullinger wird aber nicht erfahren haben, dass Herzog Moritz von Sachsen den Bürgern von Leipzig befohlen hat, alles Gold und Silber zur größeren Sicherheit in die Festung zu schaffen; dass er danach diese Gegenstände

3 Vgl. Nr. 2783 bei Anm. 4.
4 Er wurde 1546 zum Oberbürgermeister gewählt. — Das Amtsjahr der Lindauer Bürgermeister (bis 1551 gab es je einen Ober- und Unterbürgermeister) dauerte jeweils bis in die Mitte des folgenden
Kalenderjahres; s. Geschichte der Stadt Lindau im Bodensee, hg. v Karl Wolfart, Bd. 2. Lindau 1909. S. 323 (Liste der Bürgermeister). — Das vorliegende Gerücht ist falsch.


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an sich riss, Leipzig verließ und dort neun Fähnlein sowie seinen Bruder August und einige Adlige zurückließ. Am 14. Januar begann die Belagerung durch den Kurfürsten. Der Fluss [Elster?] wurde umgeleitet. Am 18. fügte der Kurfürst den zwölf schon vorhandenen Geschützen 20 weitere hinzu. Was danach geschah, ist nicht bekannt. Moritz wartet auf kaiserliche Verstärkung. Der Kurfürst ist frohgemut; ebenso dessen Söldner, die ihren Sold erhalten. Soeben kam eine aus Belgien stammende Adlige [Anne t'Serclaes], die im Auftrag ihres adligen englischen Mannes [John Hooper] berichtet, dass Moritz wirklich festgenommen sei! [5] Über Landgraf Philipp von Hessen gibt es eine derart erfreuliche Nachricht, dass Myconius diese kaum zu glauben wagt. Doch kann er sie Bullinger nicht verschweigen: Philipp soll bis an die 10'000 Söldner, die in Süddeutschland angeworben worden und für das große, sich bei Köln sammelnde kaiserlich Heer bestimmt waren, umgebracht haben! [6] 1m Gegensatz zur letzten Nachricht (die auch den Straßburgern unbekannt ist) sind die Mitteilungen über den Kurfürsten verbürgt. Straßburg scheint standhaft bleiben zu wollen. Sultan Suleiman steht unmittelbar vor einem Angriff König Franz I. macht wie bisher weiter. Papst Paul III., den einige für tot erklären, soll sich nun gegen den Kaiser gestellt haben. Die Böhmen sind zerstritten und weigern sich, gegen den Kurfürsten zu ziehen. [7] Der Herr bereite dieser schlimmen Lage ein Ende und verleihe Ausdauer! [8]Gruß. Bullinger möge vorliegenden mit Mühe im Bett verfassten Brief gut aufnehmen. Gwalther erweise sich mutig!

S. Omnes veniunt ad me decumbentem 1 rogantes, quid sit, quod feratur Quinquepagicos 2 postulare te et Gvaltherum, ut suo iure agant vobiscum ut cum violatoribus pacis communis 3 . Ego respondere non possum, quia ea de re ex vobis nihil hactenus accepi. Perturbant itaque me valde vehementer, dum ille hoc, alius illud narrat et semper posterius infelicius est. De solo Gvalthero tu meministi propter Antichristum ipsius, 4 de te ipso autem nihil, nec interim causa narratur, curnam et te postulent. Si utriusque causa est eadem, non difficilis erit defensio, modo sit jus et iusticia; sin tu causam habes peculiarem, eam quia nescio, dicere nihil valeo. Hec autem postquam hucusque scripsi, Isaacus Cellarius 5 intervenit cum tuis, in quibus ubi nihil invenio de tragoedia ista, rogo, numquid ipse aliquid certi queat referre. Maxime respondit. Pacata igitur narravit esse omnia. 6 Exultavi quamvis in lectulo et gratias egi domino; nam res talis visa erat mihi, ut ex qua non solum evangelium periturum nobis fuisset, sed etiam foederis nostri gloria. In gratiarum actione manebo itaque, dum tu me iusseris aliter.

Ex Suevia video omnia esse multo miserrima. Et Constantiam quidem deploro, 7 non propter ipsam modo, sed etiam propter Helvetios, quorum

1 Myconius war krank; vgl. auch unten Z. 55f.
2 Die Fünf (katholischen) Orte der Eidgenossenschaft.
3 Der Zweite Kappeler Frieden von November 1531. — Hier wird die durch Gwalthers "Endtchrist" entfachte Reaktion der Innerorte angesprochen; s. Nr. 2757, Anm. 11.
4 Nämlich am 18./19. Januar; s. Nr. 2757,7f.
5 Der zusammen mit Johannes Oporin gerade aus Zürich zurückgekommen war und Myconius Bullingers Brief Nr. 2788 vom 2. Februar übermittelte.
6 Eine Übertreibung. Der Zwist zog sich noch mindestens bis 1548 hin. Allerdings hatte der Zürcher Rat Bullinger und Gwalther beruhigt und ihnen seine Unterstützung versprochen, als er sie am 29. Januar verhört hatte; s. Nr. 2767,97-100; Nr. 2827,12-17; Bächtold, Rat 99.


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infelicitatem hic magis intueor quam alibi unquam. Nam si a permiserint, ut lacum 8 transeant Hispani et Itali et civitatem occupent, quid aliud permiserunt quam viros iniquissimos in suum territorium ingredi? Et quis eiiciet eos, imo quis prohibebit, ne perrecturi sint et ad vos et alios Helvetios? Deus hoc introitu faciet contra nos h aliquid, quod non vidisse poenitebit.

Venit ad me, ex aula credo legati 9 Galli 10 , ducis Sabaudie filium 11 congregasse ex Hispania exercitum ad 70'000 usque pecuniam subpeditante rege Portugallie 12 . Adesse quoque ibi filium cesaris 13 . Prevolat rumor, quod reddere velint ducem suo regno. 14 Sed quid hic cesaris filius, nisi ut Germaniam occupatam vendicet ac subsidia imponat, ne quando possit rebellare? Hoc est praemium Germanic, quod exercitum alienum permisit introduci a Gandavo 15 periuro, etc.

De electore 16 nosti, ut dominus magnifice cum eo fuerit, postquam rediit in Saxoniam. Unum illud forsitan nescis de Mauricio 17 : Ipsum edixisse suis civibus Lipsis, ut, quicquid haberent argenti et auri, facti infective, omne id in arcem inferrent, quo a milite praesidiario 18 melius servaretur. Ea omnia vel maximam saltem partem ipse postea avexit et erupit. Presidium relictum est 9 signorum cum fratre 19 et nobilitate. Ianuarii 14. coepta est obsidio et flumen 20 aversum. 18. primum adductis bombardis ad 20 praeter 12 priores

a Über der Zeile nachgetragen.
b Am Rande nachgetragen.
7 Bezug auf Bullingers Mitteilung in Nr. 2788,15-18.
8 Den Bodensee.
9 Vielleicht aus dem Haus (dem Rosshof) auf dem Nadelberg, das sich der damals vermutlich noch abwesende (s. HBBW XVIII 295, Anm. 14) Antoine Morelet du Museau im Mai 1546 gekauft hatte; s. HBBW XVI 368f, Anm. 37. In Frage käme aber auch der Gesandte François de La Rivière, der damals ebenfalls in Basel residierte; s. Rott, Représentation 301.
10 Franz Ï.
11 Emanuel Philibert, Sohn Herzog Karis III. von Savoyen. — Emanuel Philibert fungierte im Schmalkaldischen Krieg als oberster Befehlshaber über die Kavallerie des Kaiserhofes; s. Mameranus, Exerc. 8.
12 König Johann III. von Portugal.
13 Philipp II. von Spanien, Sohn Karls V.
14 Nämlich das savoyische Territorium, das Bern im Winter 1536/37 besetzt hatte.
15 Gemeint ist der in Gent geborene Karl V. — Hier wird auf dessen Wahlkapitulation gegenüber den Fürsten vom 3. Juli 1519 angespielt, in der Karl V. sich verpflichtet hatte, ohne Vorwissen, Rat und Bewilligung der Reichsstände kein fremdes
Kriegsvolk ins Reich zu führen; s. RTA-JR I 870 [13], Nr. 387; Quellen zur Geschichte Karls V., hg. v Alfred Kohler, Darmstadt 1990, S. 55.
16 Kurfürst Johann Friedrich I. von Sachsen.
17 Moritz von Sachsen. — Die hier in Z. 31-39 mitgeteilten Nachrichten hat Myconius wörtlich aus dem letzten Abschnitt des an ihn gerichteten Briefes von Bucer vom ca. 25. Januar 1547 übernommen (Text in PC IV/1 584, Nr. 539; Zusammenfassung in Henrich, Myconius BW 933, Nr. 1048).
18 Der Besatzungssoldat; s. Kirsch 1778 (hier ein kollektiver Singular).
19 Herzog August von Sachsen (1526— 1585). —Moritz verließ Leipzig schon am 5. Januar. noch vor Beginn der Belagerung; s. Georg Voigt, Die Belagerung Leipzigs 1547, in: Archiv für die Sächsische Geschichte, hg. v Karl von Weber, Bd. 11, Leipzig 1873, S. 270-272. 310. —Zu der Besatzung, die er dort zurückließ, s. Johann Jacob Vogeln, Leipzigisches Geschicht-Buch oder Annales, Leipzig 1714, S. 165.
20 Vermutlich ist die Elster gemeint. Die


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coepit 21 oppidum gravius urgere. Quid autem factum postea, nescitur. Mauricius cum paucis copiis auxilia expectat cesaris. 22 Elector mirifice erectus et confidens est; miles quoque: solutus est enim. Dum hec scribo, venit mulier ad me nobilis egrotum 23 invisens ex Belgico orta 24 que dixit ex mandato mariti, nobilis Angli 25 , Mauricium esse ca-||271v ptum, et vere captum! 26

De Hesso 27 feruntur quedam, que referre non audeo propter gaudium inde captum. Vereor enim, ne non sit verum. Apud te tamen dicam: Aiunt usque ad 10'000 perempti c ab eo de his, qui in Superiore Germania conducti Coloniam voluerint proficisci ad exercitum magnum 28 , qui illic dicitur congregatum. 29

De electore vera sunt omnia. De Hesso dubito; de quo nec Argentina certi habet aliquid. Argentina ipsa sic agit, tanquam in domino velit persistere. Turca 30 in foribus est. Gallus pergit. Et papam 31 dicunt esse contra cesarem, de cuius vita dubitatur adhuc. De Boemis adhuc audimus scissos esse et negare auxilia contra electorem. 32

Dominus, queso, finem faciat rebus tam adflictis pro ipsius bona, et nobis largiatur, ut queamus in sese fortiter perdurare usque in finem. 33 Dominus est et deus namque, qui verba vite habet aeternae. 34

Vale et hec qualiacunque boni consulito. In lectulo scripsi enim, non sine difficultate. Gvaltherum iube cogitare, propter quem patiatur, et esse bono animo! Is enim vicit mundum. 35 Dabit etiam, ut ipse quoque victor evadat. Basilee, 6. februarii anno 1547.

Tuus O. M.

c In der Vorlage perempta. Korrigiert in Anlehnung an das daraufhin gebrauchte conducti. Damit werden die milites oder militares näher bestimmt.
Nachricht ist fragwürdig. — Zur Belagerung von Leipzig s. Nr. 2757, Anm. 76.
21 Subjekt ist der Kurfürst.
22 Siehe dazu schon Nr. 2761, Anm. 35. Die Hilfstruppen von Markgraf Albrecht II. Alcibiades hatten Sachsen (Zwickau) bereits am 24. und 25. Januar erreicht; s. Voigt, aaO, 138.
23 Gemeint ist der kranke Briefschreiber; vgl. oben Z. 1.
24 Anne t'Serclaes; vgl. die Stelle in Nr. 2798 bei Anm. 8.
25 John Hooper.
26 Ein Gerücht.
27 Philipp von Hessen.
28 Das Heer, das der Kaiser seit Ende 1546 am Niederrhein aufstellen ließ. Es stand unter dem Befehl des kaiserlichen Statthalters von Zeeland, Jobst von Cruningen; s. Werner Storkebaum, Graf Christoph
von Oldenburg (1504-1566). Ein Lebensbild im Rahmen der Reformationsgeschichte, Oldenburg 1959, S. 92.
29 Zu ähnlichen falschen Gerüchten über den Landgrafen s. schon Nr. 2774,321 und Nr. 2782,34f.
30 Sultan Suleiman I.
31 Paul III. — Er war damals bald 79 Jahre alt und wurde immer wieder für tot erklärt; s. schon HBBW XVII 144. 193; XVIII 138 und Anm. 50.
32 Vgl. dazu auch eine Nachricht vom 4. Februar 1547, derzufolge die Böhmen sich weigerten, über die Grenzen hinaus gegen die deutschen Fürsten zu ziehen; s. Moritz von Sachsen PK III 207, Nr. 274.
33 Phil 4, 1; Apk 2, 10.
34 Joh 6, 68; Apg 5, 20.
35 Joh 16, 33; Apg 1, 8.


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[Adresse darunter:] D. Heinricho Bullingero, viro doctissimo piissimoque, fratri ac domino in Christo observando suo. Zu[rich]d