Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2865]

Michael Keller
an Bullinger
Augsburg,
29. März 1547

Autograph: Zürich StA, E II 346, 218 (Siegelspur) Ungedruckt

[1] Keller liegt krank im Bett. Doch weil Georg Frölich nach Konstanz und vielleicht auch nach Zürich reist, nutzt er die Gelegenheit zum vorliegenden uneleganten Brief Er will Bullinger mitteilen, dass sowohl die politische als auch die religiöse Zukunft von Augsburg auf der Kippe steht, ja dass jederzeit mit dem Schlimmsten zu rechnen ist! Denn wenn dann Kaiser Karl V. den Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen besiegt hat, wird es im Reich und besonders in den Reichsstädten, die sich ihm ergeben haben, zu solch einer Unterdrückung kommen wie noch nie zuvor. Kein Verständiger, einschließlich Georg Frölich, bezweifelt das. [2] Sollte Gott mit [den Protestanten] wegen deren Missetaten und Undankbarkeit solches vorhaben, dann möge Bullinger seine Tür für Johannes Haller; Keller und andere Kollegen offenhalten! Denn auch wenn die Religionssache in Augsburg wieder gut geregelt würde, wird dennoch der Kaiser unter dem Vorwand des im Reich einzuhaltenden Friedens die Religionsangelegenheit so festlegen, dass man nicht nur den Priestern den Einlass in die Städte erneut gewähren muss, sondern auch allen erlauben muss, sich der päpstlichen Faktion anzuschließen. Und selbst wenn [den Protestanten] eine Zeit lang die Predigt des Evangeliums zugestanden wird, was nützt das? Denn welcher Gottesfürchtige könnte dulden, dass unter seiner Aufsicht Christus und der Teufel derart vereint werden? Bullinger weiß, was Keller meint. Die Augsburger Pfarrer sind besorgt! Der Rat ist korrupt, und dementsprechend geht er mit ihnen um. [3] Der Herr erbarme sich! Bullinger verzeihe etwaige Ungeschicklichkeiten. [4][P.S.:]Bullinger wird dies vielleicht ausführlicher aus Hallers Brief [Nr. 2867]erfahren. Er soll sich von niemandem eines anderen belehren lassen!

5 Gemeint ist der von einigen kurfürstlichen Befehlshabern unternommene Streifzug gegen das fränkische, zum Bistum Bamberg gehörende Territorium des gefangenen Markgrafen Albrecht II. Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach. Nach der Besetzung von Hof an der Saale am 10. März wurden Schlösser und Dörfer bis Münchberg (beide Ortschaften in Oberfranken, Bayern) gebrandschatzt; s. Voigt, Moritz 341; Moritz von Sachsen PK III 301, Nr. 421, Anm.
6 Die am 28. März begann; s. dazu Nr. 2862, Anm. 58.
7 Die am 28. Februar begonnen hatte; s. Nr. 2817, Anm. 4.
8 Der 1547 Bürgermeister war.
1 Vorliegender Brief ist vermutlich auf den 30. März zu datieren; vgl. Nr. 2867,12. 14-17.


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S. Quandoquidem frater noster communis Georgius Loetus 2 , archigrammateus, Constantiam et forte subinde Tigurum petiturus esset, 3 committere nolui, quin has meas impexas graviterque in lecto decumbens 4 ad te darem, hoc potissimum argumento motus, quod res cum prophana 5 tum et religio ipsa hic ita nutent, ut in diem variam et perniciosam mutationem variationemque expectemus. Nam superato a caesare 6 electore 7 ea tyrannis in imperio, praecipue in his civitatibus, quae se caesari dederunt et quas etiamnum multo milite vi tenet, subsecutura est multis retro saeculis nunquam vel visa vel audita; 8 id quod nemo prudentum, etiam Loetus ipse, inficiari potent!

Proinde, si dominus ob nostra peccata, praesertim detestandam ingratitudinem, sic in nos animadvertet, fac, ut ianua tua Hallerum, me et alios symmystas citra iacturam tamen tuam agnoscat. Nam si res religionis hic foelicissime instituetur, tum in hunc finem caesar caussam religionis pro communi pace in imperio servanda confirmabit, ut nimirum sacrificuli denuo intromittantur non solum, sed ad pristinam papisticam factionem libere adspirare permittantur. 9 Nobis quoque annunciatio evangelica forte ad tempus libera sit, sed quis piorum Christum et Belial 10 sic coniungi suo patrocinio sustinebit? Habes, quid velim. Anxii sumus! Magistratus corruptus est; ideo fraude et dolo omnia corruptissime a agunt nobisque verba dant.

Dominus nostri misereatur! Ineptias boni consulas, oro. 29. marcii 47., Augustae. Raptim.

Tuus in domino M. Cellarius.

b Haec fortassis ex Hallen literis 11 fusius accipies. Neminem 12 tibi aliud persuadere sinas, oro ! b

[Adresse auf der Rückseite:] Venerando in Christo domino in. Heinrichio Bullingero, Tigurinorum episcopo praecipuo, fratri et domino suo suspiciendo.

a Am Rande nachgetragen.
b-b Am Rande, neben der Unterschrift, nachgetragen.
2 Georg Frölich (Laetus).
3 Siehe dazu Nr. 2858, Anm. 4. — Frölich kam nicht bis nach Zürich.
4 Keller litt an der Gicht; s. HBBW XVI 254,77f; XVIII 308,103.
5 res prophana: das Gemeinwesen.
6 Karl V.
7 Johann Friedrich I. von Sachsen.
8 Anspielung auf Mt 24, 21 par.
9 Am 17. Januar 1537 waren in Augsburg die Messfeiern völlig abgestellt und darauthin die "Pfaffen" aus der Stadt verwiesen worden. Zuvor, im Juli 1534, war
die Messe nur teilweise abgeschafft und in acht Kirchen der Stadt weiterhin geduldet worden; s. Bodenmann 158f. 230, Anm. 164. 166 und 168.
10 Teufel. —Anspielung auf 2Kor 6, 15.
11 Nr. 2867.
12 Vermutlich denkt Keller an Claudius Pius Peutinger (s. Nr. 2759, Anm. 8; Nr. 2769, Anm. 12), der damals seine Söhne in Zürich in Sicherheit gebracht hatte, wo diese studierten; s. HBBW XVIII 89,39— 90,40 und Anm. 26; 175,4-8; 178,52-55. — Siehe ferner Nr. 2867, Anm. 12.