Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2690]

[Ambrosius Blarer]
an Bullinger
[Konstanz,
24.125. November 1546]

Autograph: Zürich StA, E II 357a, 613 (Siegelfragment) Teildruck und zusammenfassende Ubersetzung: Blarer BW II 536f, Nr. 1374

[1] Blarer teilt vertraulich mit, dass Landgraf [Philipp von Hessen] sich ganz unerwartet als völlig zaghaft und mutlos erwiesen hat und dadurch alle Stände [des Schmalkaldischen Bundes]

34 Granvelle soll beim Entschluss des Herzogs Moritz von Sachsen, sich auf die Seite des Kaisers zu schlagen, eine wichtige Rolle gespielt haben; s. Venetianische Depeschen II 86, Nr. 37. Außerdem hatte er kurz zuvor, am 12. November, mit dem päpstlichen Nuntius Girolamo Verallo in Lauingen verhandelt; s. Pastor V 588f.
36 Hans Vogler d.J.
37 Johannes Haab und Hans Rudolf Lavater.
38 Hans Escher vom Luchs.
39 Wolfgang Lavater.
40 Vgl. Nr. 2684,71-74.
41 Anna, geb. Adlischwyler.
42 Zu diesen s. Nr. 2604, Anm. 25.
43 Antistes.
1 Aus den Angaben unten in Z. 28-36 geht hervor, dass der Brief während des Donaufeldzugs des Schmalkaldischen Krieges verfasst wurde, nämlich kurz nachdem die Schmalkaldener ihr Lager im etwa 150 km von Konstanz entfernten Giengen an der Brenz verlassen hatten. Laut dem Bericht des sich damals im Lager aufhaltenden Zürcher Gesandten Heinrich Thomann geschah dies am Vormittag des Montag, 22. November (Zürich StA, A 177, Nr. 148). Aus der falschen Angabe unten Z. 28f geht ferner hervor, dass der Brief nach Dienstag, dem 23. November, geschrieben wurde. Da Blarer bei der Abfassung des Briefes noch nicht wusste, dass das Heer bereits im 11 km nördlich von Giengen gelegenen


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verunsicherte und betrübte. Er befürwortete nämlich einen Friedensvertrag mit Kaiser [Karl V.] und veranlasste deshalb ein Schreiben an eine wichtige Persönlichkeit [Markgraf Johann von Brandenburg-Küstrin] am kaiserlichen Hof und dies, obwohl alle ihn inständig baten, davon abzusehen. [2]Besonders Kurfürst [Johann Friedrich von Sachsen]versuchte, dem Landgrafen Mut zuzusprechen, und verwies dabei auf seine eigene Standhaftigkeit. Denn obgleich ihm der Verlust seines Landes bevorstünde und der Feind schon weite Teile davon besetzt hat, sieht er weiterhin seine Aufgabe in [Süddeutschland] und hat alles Übrige Gott anvertraut. Jedoch vergebens. Philipp blieb verzagt und meinte, dass alle so schön von Gott sprächen, er aber [Gottes Beistand nicht merke]. Der Landgraf sagte zudem, dass er nicht gegen seinen Schwager, Herzog Moritz [von Sachsen], ziehen wolle, obwohl er und alle Stände zuvor versprochen hatten, nicht auseinanderzugehen, solange der Kurfürst nicht wieder sein Land erhalten hätte. [3]Unterdessen brach aber diese große Kälte ein, so dass man am Dienstagabend [23. November]das Lager auflösen musste. So ist das [schmalkaldische Heer] zuerst abgezogen. Die Kaiserlichen setzten nach und griffen an. Die [Schmalkaldener] schlugen sogleich zurück und konnten dank des vom Landgrafen eingesetzten Geschützes den Feind zurückdrängen. Viele der Angreifer wurden getötet, während die [Schmalkaldener] keine Opfer beklagen mussten (nur ein Reiter kam um sein Pferd). Nun ziehen sie in das zu Ulm gehörende Heidenheim. [4] Wie wahr ist doch, dass man den Fürsten nicht vertrauen kann [Ps 146, 3]! Der Mensch ist unbeständig wie das Wasser! [5]Bullinger soll dies für sich behalten. Auch wenn man bald darüber reden wird, sollen die Leute im Unklaren gelassen werden.

In höchstem vertrauwen zog ich euch an, 2 das gott der herr ain wunder erschrockeliche schwachait an dem landtgrauffen 3 hat sechen lassen, und im hertz und mut genommen, das er alls gantz verzagtlich gehandelt, das 4 es allen andern stenden 5 hoch beschwerlich und ain grosß hertzlaid gewesen ist. 6 Dann er ist dahin kommen, das er mitt allem ernst getrachtet hat, ain vertrag mitt dem kaiser 7 ze machen und desshalb ainem treffelichen grossen herren an des kaissers hof 8 geschriben, sich ettlicher articul 9 vernemmen

Heidenheim an der Brenz eingetroffen war (s. unten Z. 351), und zwar noch vor dem Abend des 22. November (s. Thomanns zweiten Brief dieses Tages an Zürich aaO, Nr. 149), wird vorliegendes Schreiben auf den 24. bzw. 25. November zu datieren sein.
2 Zu dieser Sache vgl. Blarers ausführliche Darstellung in Nr. 2698,3-38.
3 Philipp von Hessen.
4 so dass.
5 Gemeint sind die Stände des Schmalkaldischen Bundes.
6 Bei der Tagung des Kriegsrates der Schmalkaldener im Lager von Giengen (s. Nr. 2689, Anm. 9) wurde am 10. November auch über etwaige Verhandlungen mit dem Feind diskutiert. Der Landgraf schlug Friedensverhandlungen vor, denen einige Stände offen gegenüberstanden; s. dazu Walter Möllenberg, Die
Verhandlungen im schmalkaldischen Lager vor Giengen und Landgraf Philipps Rechenschaftsbericht, in: Festschrift zum Gedächtnis Philipps des Großmütigen Landgrafen von Hessen, hg. v. Verein für Hessische Geschichte und Landeskunde, Kassel 1904, S. 50-56. 61f; Mentz III 42f; PC IV/I 478f, Anm. 3; 479-481, Nr. 451. Zunächst war die Absicht, dass Jakob Sturm mit Nicolas Perrenot, Herrn von Granvelle, Franz Burchard (Burkhardt) mit Maximilian von Egmont, Graf von Büren, und Balthasar von Gültlingen mit Reichsvizekanzler Johann von Naves verhandeln sollte, ehe man schließlich Adam von Trott (s. unten Anm. 8) als Unterhändler einsetzte.
7 Karl V.
8 Markgraf Johann von Brandenburg-Küstrin, ein Lutheraner auf der Seite des Kaisers. — Der brandenburgische Oberst


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lassen, onangesechen das 10 er auff das thürest und trungelichest 11 darfur ersucht und gebetten ist worden 12 von den andern allen.

Und sonderlich hat inn der fromm, christelich churfürst 13 darfur auffs fruntlichest und flysigest gebetten, mitt erinnerung vyl und grosser ursachen; und das es im selbs vyl nöter thät nach sölichen wägen ze trachten, diewyl sein land und leut yetz zu schitern gang 14 und er nitt wisß, ob er gar darum komme, diewyl im der find schon dryn gezogen und vyl desselbigen ingenommen und noch ymmer furtrucke 15 , das zu besorgen, er müsse seins lands gar entsetzt werden 16 , noch danecht 17 , diewyl er ain ordenlichen beruff 18 erkenn, hie oben 19 ze helffen, und man deß begert, habe ers alles verschetzt 20 unnd in gottes hand gesetzt, mitt vyl derglichen worten und vermanungen, on not hie zu erzelen. Dann er ist wunder trostlich und christelicher, gottseliger wort gewesen in diser sach, aber der landtgrauff hinwider gantz erschrocken, verzagt und gar verschiben 21 . Wann man gottes und seines bistands meldung gethon, hat er gesagt: "Botz marter, 22 ir sagt wol von gott! Das ander muß ouch daby sein!"23 Hat ouch gesagt, er werde danecht wider seinen tochterman (hertzog Mauritzen 24 ) nitt ziechen, man thü im, wie man welle, unangesechen, das sich unsere stend all und er mitt inen verglichen und ainander zugesagt haben, von ainander nitt ze setzen 25 , byß der churfürst widerum restituiert seye, etc.

Allso ist nun mittenzu 26 diß kelte ingefallen, 27 das man uff zinstag ze nacht 28 usß dem feld hat müssen kelte halber. Und ist aber unser hauff 29 am ersten 30 uffbrochen. Sind inen die kaiserischen nachgeilt, verhofft, inen alls

Adam von Trott aus dem Heer des Landgrafen wurde beauftragt, sich mit Markgraf Johann schriftlich in Verbindung zu setzen; s. PA I 579f. Nr. 925 (wo eine Vollmacht zum Vertragsschluss mit dem Kaiser erwähnt wird); Möllenberg, aaO, S. 52-56; Mentz III 43.
9 Bedingungen.
10 onangesechen das: auch wenn. 13 dringlichste.
12 er darfur [= davor, dagegen] ersticht und gebetten ist worden: er ersucht und gebeten wurde, davon abzustehen.
13 Johann Friedrich I. von Sachsen.
14 Wegen des Einfalls der Truppen aus Böhmen und Herzog Moritz' von Sachsen.
15 vorrücke.
16 seins lands entsetzt werden: sein Land verlieren.
17 noch danecht: dennoch. — Zu dieser Einstellung des Kurfürsten s. auch Mentz III 45f.
18 Berufung, Pflicht; s. FNHDW III 1543.
19 in Süddeutschland.
20 aufs Spiel gesetzt; s. SI VIII 1684.
21 aus der Fassung (gewesen ist); s. Fischer II 1298a.
22 Botz marter: Ausruf der Verwunderung, des Schwurs u.ä. (mit Bezug auf das Leiden Christi); s. Grimm XII 1678 (unter 8.); SI IV 425. 1996.
23 Vermutlich bedauert dabei der Landgraf, dass es keine Zeichen gäbe für Gottes Zuneigung bzw. Beistand.
24 Moritz von Sachsen, der mit Philipps Tochter Agnes verheiratet war.
25 trennen.
26 mittlerweile; s. Fischer IV 1715.
27 Zum Kälteeinbruch s. die Verweise in Nr. 2689, Anm. 7.
28 Dienstagabend, 23. November. —Richtig: Montagvormittag, 22. November; s. Nr. 2662, Anm. 20.
29 Das schmalkaldische Heer.
30 am ersten: zuerst.


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den abziechenden schaden zuzefügen. Da habend sich aber die unsern bald widerum gewendt und die find mitt schiessen (dann der landgraf glich das gschütz, so er by im gehapt, in sy gericht hat) und mitt stechen hinder sich zuruckgetriben und der find vyl erlegt hat. Den unsern ist gar kain schad widerfaren, dann das ainem ain gaul erschossen ist worden. 31 Die unsern ziechen uff Haidenhaim, deren von Ulm. 32

Ach gott, wie war ists: "Nolite confidere in principes!"33 , etc. Es ist nichts mitt dem menschenkind, des hertz so gar 34 wie wasser wancket! 35

Bitt euch um gottes willen, lassts allso by euch belyben, dann es nitt gut so es uskeme und lautprecht 36 wurde. Ob 37 man es wol bald mummlen 38 , wurt man doch nitt wissen (in tanta mendaciorum licentia 39 ), obs war.

[Ohne Unterschrift.]

[Adresse auf der Rückseite:] An Meister Heinrich Bullinger zu Zürich, meinem fürgeliepten herren und brüder, etc. Zürich. 40