Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

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Joachim Vadian
an Bullinger
St. Gallen,
30. Dezember 1547

Autograph: Zürich StA, E II 351, 9 (Siegelspur) Druck: Vadian BW VI 587, Nr. 1512

[1] Vadian wurde durch Johannes Stumpfs Brief 2 über das Problem mit Ägidius Tschudi unterrichtet. 3 Man sollte also nun Menschen verschonen 4 , die sich alles andere ais behilflich erwiesen haben! Vadian glaubt zu wissen, dass Tschudi ein Cousin väterlicherseits des Abtes [Georg Tschudi] von Kreuzlingen ist, 5 mit dem er ein brüderliches Verhältnis hat. Zudem ist er seit jener Zeit 6 als er [äbtisch-st. gallischer] Obervogt von Rorschach war, sehr befreundet mit Abt [Diethelm Blarer von Wartensee]7 von St. Gallen. Demnach wurde ihm schon seit Langem Zugang zu allen Räumlichkeiten dieser Abtei gewährt, und so durfte er deren Bibliothek wie auch das sich in Wil befindende Depositorium 8 nicht nur einmal inspizieren. Auch wurde ihm erlaubt, die Bibliothek des Klosters Pfäfers 9 zu benutzen. Auf diese Weise konnte er schon längst alle mittelalterlichen Quellen dieser Klöster mit der Erlaubnis von deren Äbten einsehen! Er hegt von Natur aus ein großes Interesse für die Geschichte im Allgemeinen (wenn er dieses nur auch für die Heilige Schrift bekunden würde!), auch wenn er sich wünschte, dass andere als er sich dem Mittelalter widmeten. Er hat Vadian stets freundlich behandelt und diesem immer wieder seine Hilfsbereitschaft versichert, so dass er ihn wohl nicht abweisen würde, wenn dieser sich nun bei ihm für Stumpf oder irgendeinen anderen einsetzte. Vadian denkt aber, dass es besser wäre (Bullinger möge sich darüber nicht ärgern 10 ), wenn Stumpf selbst Tschudi anschreiben würde. Deshalb legt er Stumpf den Entwurf 11 einer möglichen

1 Der vorliegende Brief wurde in Vadian BW VI (wegen Vadians mehrdeutiger Datierung "3. calendas ianuarias anno 1547") unter dem "30. Dezember 1546" veröffentlicht. Dieser Irrtum wurde später auch dessen Herausgebern bewusst; s. Vadian BW VII 129, Anm. 1. Ein Vergleich des vorliegenden Briefes mit Nr. 3096,[4], und mit Vadians Brief an Johannes Stumpf vom 30. Dezember 1547 (Vadian BW VII 128f, Nr. 93) erlaubt es, den vorliegenden Brief zweifelsohne dem Jahr 1547 zuzuordnen.
2 Johannes Stumpfs Brief an Vadian ist nicht erhalten, Vadians Antwort darauf (vom gleichen Tag wie vorliegender Brief) aber schon; s. oben Anm. 1.
3 Siehe dazu Nr. 3096,[4] und Anm. 10.
4 Hier sind hauptsächlich Mönche gemeint.
5 Georg war von 1545 bis 1566 Abt des Augustinerklosters St. Ulrich und Afra in Kreuzlingen; s. Helvetia Sacra IV/2 287f. Zuvor war er als Koadjutor derselben Abtei tätig und wirkte mit allen Kräften der Einführung der Reformation in
Kreuzungen entgegen. Im November 1538 nahm sein Verwandter Ägidius an der von ihm organisierten Rückführung der Reliquien des hl. Othmar teil; s. Christian Sieber, Begegnung auf Distanz. Tschudi und Vadian, in: Aegidius Tschudi und seine Zeit, hg. y. Katharina Koller-Weiss und Christian Sieber, Basel 2002, S. 122 und Anm. 50.
6 1532/33; s. Sicher, aaO, S. 108, Anm. 6.
7 Welcher seit 1530 Abt der dortigen Benediktinerabtei war.
8 Das Depositorium der Statthalterei Wil; s. Sieber, aaO, S. 115, Anm. 25.
9 Diesem Benediktinerkloster stand seit 1517 (und bis 1549) Johann Jakob Russinger als Abt vor; s. Helvetia Sacra 111/i 1018-1020.
10 Bullinger wünschte sich nämlich, dass Vadian selbst Tschudi anschreiben würde; s. Nr. 3096,[4].
11 Veröffentlicht in Vadian BW VII 139- 150, Nr. 103. Dieser eigenhändige Entwurf Vadians ist in Zürich ZB, A 69, Nr. 109, 5. 291ff, erhalten. - In seinem Begleitbrief


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Antwort bei, mit der es diesem bestimmt gelingen wird, Tschudis Arger zu besänftigen. Denn durch ein solches Schreiben wird Tschudi wohl begreifen, wozu Stumpf fähig wäre, wenn er (Tschudi) seinen Unmut mit der Feder bekundete, statt sich in Zurückhaltung zu üben. Wenn ihm aber ein anderer als Stumpf schreiben würde, könnte er zu dem Gedanken verleitet werden, dass [die Protestanten] in Angst und Verlegenheit geraten seien, und er könnte sich sogar Von einer Polemik wer weiß was erhoffen. Stumpf verhindert dies aber, wenn er Vadians Rat befolgt. 12 -[2]Bullinger und den Seinen wie auch all den Kollegen wünscht Vadian ein ganz gutes neues Jahr im Herrn.
an Stumpf vom 30. Dezember fügte Vadian den Rat hinzu, Stumpf solle bei der Abfassung seines Briefes darauf achten, dass Tschudi ja nicht merke, dass andere ihm dabei geholfen haben; s. Vadian BW VII 128f.
12 Stumpf verfasste daraufhin z.T. anhand von Vadians Entwurf einen kürzeren Brief, von dem sich eine Kopie in Zürich ZB, A 69, Nr. 110, befindet, und der in Vadian BW VII 150-152 teilweise veröffentlicht wurde. - In einem Brief an Vadian vom 3. Januar 1548 zeigte sich Bullinger
skeptisch gegenüber dem Erfolg eines solchen Schreibens an Tschudi, was Vadian wiederum am 10. Januar bedauerte (Vadian BW VI 691-694, Nr. 1585f). - Tschudis unmittelbare Reaktion auf diesen Brief ist nicht bekannt. Feststeht, dass er weiterhin freundlichen Kontakt mit Protestanten (darunter Stumpf und Bullinger) pflegte; s. Jakob Vogler, Egidius Tschudi als Staatsmann und Geschichtschreiber, Zürich 1856, S. 112ff. 142f. 204-208. 241. 273. 277-279.


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Anhang Vergessene und neu entdeckte Briefe