Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2773]

Ludwig Lavater
an Bullinger
Straßburg,
26. Januar 1547

Autograph: Zürich ZB, Ms F 39, 716f a (Siegelspur) Ungedruckt

[1]Es gibt kaum etwas mitzuteilen, aber der Bote [...]soll nicht ohne Brief nach Zürich gehen. Lavater weiß durch Richard Hilles, dass Bullingers Schweigen auf wichtige Amtsgeschäfte zurückzuführen ist. [2] Er erhielt für seinen Vater [Haus Rudolf] ein Handbuch mit Anredeformeln, dessen einfache Redewendungen diesem zweifelsohne besser gefallen werden als die an den Höfen üblichen gekünstelten Formulierungen. Das Buch enthält gute rhetorische Anweisungen und lehrt, wie man je nach Stand und Amt einen jeden anreden sollte. Diesbezüglich sei Lavater eine Bemerkung gestattet: Die pompösen Titulierungen, zu denen Kaiser Karl V. in seinen Briefen an die Eidgenossen greift, dienen wohl nur dazu, Letztere zu blenden. Der Kaiser hat nur eines im Kopf: Die Kräfte der Schmalkaldener aufzusplittern, um sich ihrer besser bemächtigen und die Herrschaft [des Papsttums] wieder aufrichten zu können! [3] Gewiss sind die Zürcher über die Kapitulation von Frankfurt und über den Friedensvertrag zwischen Herzog Ulrich von Württemberg und dem Kaiser schon bestens informiert. Dies sollte sie dazu veranlassen, über ihre künftige Strategie nachzudenken. Landgraf Philipp von Hessen hat zahlreiche Truppen gesammelt, und der Verräter Herzog Moritz von Sachsen soll vom Kurfürsten Johann Friedrich von Sachsen vertrieben worden sein. [4]In Straßburg liegt nun eine Garnison im Einsatz. Auf den Festungsanlagen wurde das Geschütz installiert. Man bereitet sich auf eine Belagerung vor. Spanier, die Kriegsbeute mit sich führten, konnten abgefangen werden. [5] Ohne Gottes Hilfe ist aber Deutschland verloren und den Türken preisgegeben! Angesichts der in den Niederlanden tobenden spanischen Inquisition wollen viele, und nicht zu Unrecht, lieber Untertanen der Türken als des Kaisers sein. Und doch wird weiterhin behauptet, dass die Religion nicht dessen Anliegen sei! [6]Der schlimme Krieg in Deutschland nimmt Lavaters Hausherrn [Matthias Zell]dermaßen mit, dass man der Ansicht ist, er werde bald sterben. Zudem wird vermutlich das Straßburger Gymnasium aufgelöst, da wegen des Krieges die Aussichten schlecht sind. Johannes Sturm, der von seiner Gesandtschaft zurückgekehrt ist, konnte endlich wieder seinen Unterricht aufnehmen. Er diktiert derzeit eine Schrift, in der die sophistischen Trugschlüsse widerlegt und die Grundlagen der Rhetorik dargestellt werden. [7] Lavater hatte früher gebeten, man wolle ihm doch mitteilen, wie lange er in Straßburg studieren dürfe, sodass er sein Studium besser organisieren könne. Leider erhielt er keine Antwort darauf was bereits böse Folgen hat! Hätte er gewusst, dass er so lange in Straßburg bleiben würde, hätte er bei Justus Velsius den neubeginnenden Unterricht über die "Politik" des Aristoteles und bei Christian Herlin die Vorlesungen über die Grundlagen der Arithmetik besucht. Er verzichtete aber darauf weil er Angst hatte, die entsprechenden Bücher umsonst zu erwerben. Bis vor kurzem absolvierte er mit großem Gewinn den Unterricht der obersten Klasse und genießt jetzt eine gute Ausbildung in der Rhetorik und Dialektik. Er möchte nun an den Lehrveranstaltungen über Euklids [Elemente] teilnehmen. Nach Kriegsende hofft er, noch von einer neuen Akademie profitieren zu dürfen. Bullinger soll sich dafür bei seinen Eltern [Hans Rudolf und Anna, geb. Röichli] einsetzen! [8] Bis vor Kriegsausbruch genoss die Wittenberger Universität dank der täglichen Lehrveranstaltungen Philipp Melanchthons einen sehr guten Ruf Könnte Lavater diesen Philosophen doch irgendwann auch einmal hören! Er befürchtet jedoch, dass der Krieg die so berühmten Melanchthon und Joachim Camerarius [d.Ä.]dermaßen erschöpft, dass es ihnen nicht mehr möglich sein wird, ihre Lehrtätigkeit wie früher auszuüben. [9] Lavater würde öfters über die Lage der

a Die Verso-Seite des Blattes, das auf der Recto-Seite mit der Seitenzahl 716 versehen ist, wurde irrtümlicherweise als 718 nummeriert.


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Stadt und der Kirche Straßburgs schreiben, doch weiß er nicht, was Bullinger interessiert und ob seine Berichterstattungen Zürich erreichen würden. [10]Bullinger bleibe der Kirche solange wie möglich erhalten! [il]Grüße von Zell. Lavater lässt seine Eltern, sowie Anna [geb. Adlischwyler], die Kinder und Bullingers ganzes Hauswesen grüßen.

S. D. Cum, quid scriberem ad te, nihil haberem, tamen ne tabellarius 1 vacuus veniret ad vos, has dedi literas. Mirarer te ad me nihil scribere, nisi novissem ex d. Richardo 2 te saeverioribus negotiis ita occupatum esse, ut liberum non sit bonas horas scribendo consumere.

Accepi formulam grec literarum 3 ad patrem 4 , verum mihi dubium non est patrem meum simplici illa 5 magis quam aulica et fucata gaudere. Nec video, si conferam ad praecepta meliorum rhetorum, quid desit. Continet enim nomen, vite conditionem et dignitatem, 6 et, ut dicam libere, quod sentio, multum vereor, ne imperator Carolus 7 magnificis titulis Helvetiis imponat, ita ut credant eum ex animo loqui, cum interim hoc unum quaerat, ut distractis Regni 8 viribus incautos opprimat et impiam antichristi 9 tyrannidem restituat.

Scriberem de turpi Francfordie 10 et ducis Wirtenbergensis 11 deditione, et pacis conditionibus, quas legi, nisi putarem vobis haec omnia quam notissima esse. 12 Et merito excitare vos debent, ut, quid vobis agendum sit, circumspecte cogitetis. Landgravius 13 magnas copias collegit; quo ducturus sit, ignoramus. Proditor Mauritius 14 , quod satis compertus est, patriis sedibus a duce Fridericho 15 pulsus est. 16

Presidium nostre civitati est impositum, 17 et quamvis timore et dolis plena sint omnia, ad obsidionem se parant 18 , munitiones tormentis bellicis occuparunt. Caeperunt aliquot Hispanos praeda onustos.

1 Unbekannt. — Wohl auch der Beförderer von Richard Hilles' Brief desselben Tages (Nr. 2772).
2 Richard Hilles.
3 Siehe dazu unten Anm. 6.
4 Hans Rudolf Lavater.
5 illa formula.
6 Es muss sich um ein Handbuch (Formelbuch) gehandelt haben, in dem die in einem Brief empfohlenen Anreden (grec) aufgelistet waren. Zu denken ist etwa an Fabian Frangk, Ein Cantzley und Titel büchlin, darinnen gelernt wird, wie man Sendebriefe förmlich schreiben und einem jdlichen seinen gebürlichen Titel geben sol, Wittenberg 1531 (VD]6 F2272), von dem es mehrere Ausgaben gab, u.a. eine aus dem Jahr 1540, die in Straßburg gedruckt wurde (VD]6 F2282); oder an Heinrich Gessler, Formulare und teütsch Rethoric, wie man einem iegclichen, was stadts würde und eren der ist, schreiben sol. Nüwe regel
der Rethoric, der sich das gemein teütsch land jetz lauffend gebraucht, Straßburg 1519 (VD]6 G1896).
7 Kaiser Karl V.
8 Gemeint sind hier die Schmalkaldener.
9 Gemeint ist das Papsttum.
10 Siehe Nr. 2743, Anm. 40; Nr. 2761,28-30.
11 Ulrich von Württemberg. — Zu Württembergs Friedensvertrag mit dem Kaiser s. Nr. 2746, Anm. 21.
12 Tatsächlich war dies der Fall; s. Nr. 2763,3-7.
13 Philipp von Hessen.
14 Herzog Moritz von Sachsen.
15 Johann Friedrich I. von Sachsen.
16 Diese Meldung trifft nicht zu; s. Nr. 2761, Anm. 19.
17 Siehe dazu auch Bucers Brief aus Straßburg an Oswald Myconius, ca. 25. Januar 1547 (PC IV/1 583, Nr. 539; Henrich, Myconius BW 933, Nr. 1048).
18 Subjekt sind die Straßburger Behörden.


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Nisi deus fessis rebus opem ferat, iam actum est de Germania; via enim Turcis aperitur. Et plerique Turcis non immerito quam caesari malunt parere. Hispanica inquisitio iam in Inferiori Germania habetur. Adeo imperatori enim b nostro religio curt non est! 19

Motus hi bellici et degeneres Germani ita excruciant animum domini mei 20 , ut non diuturnam huius vite usuram accepturum putemus. Iam quod castra Musarum 21 attinet, vereor ne dimissuri 22 sint scholam, cum nullus foelixe huius belli exitus pateat. D. Sturmius 23 , qui hactenus bellicis negotiis occupatus fuit, ad diu intermissum legendi munus reversus est. Et nuper coepit dictare librum de elenchis sophisticis, 24 de collocatione 25 et de quaestione 26 : Tractatus ad omnes ad vite partes perutiles. Huius absentia plurimum semper schole incomodat.

Memini me superioribus temporibus ad te scripsisse, 27 ut si fieri posset, tempus, quod peregrinationi studiorum conceditur, vel saltem tempus, quo mihi Argentine manendum est, signasses, ut possem studiorum ordinem melius instituere et viderem, quid quoque anno mihi discendum esset, ne varietate rerum impedirem poilus meipsum, quam promovere possem. Id quoniam ||718 neglexisti, iam tandem video, quantum mali dederit. Potuissem enim audire initium politicorum Aristotelis a doctissimo d. d. Justo Velsio 28 et arithmeticae principia a Christiano Herlino 29 . Sed quoniam putabam me absolvere non posse, nolui libros mihi parare et initium tantum audire. Hucusque fere audivi lectiones prime classis 30 . Iam ampliorem rhetorice et dialectice fructum et usum consequtus. Mox me Euclidem cum aiis nonnullis spero auditurum. Postquam infaustum hoc bellum compositum fuerit et nova aliqua academia instituta, spero et te parentibus 31 monitorem fore, ut eius usum aliquem habeam. 32

b Über der Zeile nachgetragen.
c in der Vorlage infoelix; möglich ist auch, dass Lavater vorhatte, infoelici s belli zu schreiben.
19 Ironische Aussage.
20 Matthias Zell, bei dem Ludwig wohnte; s. HBBW XVIII 145f. 372; und unten Z. 58.
21 Gemeint ist das Straßburger Gymnasium.
22 Als Subjekt sind die Straßburger Behörden vorauszusetzen.
23 Johannes Sturm, der spätestens am 4. Januar 1547 von seiner Gesandtschaft nach Frankreich wieder nach Straßburg zurückgekehrt war; s. HBBW XVIII 453f, Anm. 23.
24 Widerlegungen sophistischer Trugschlüsse. — Siehe dazu Anton Schindling, Humanistische Hochschule und freie Reichsstadt. Gymnasium und Akademie in Straßburg 1538-1621, Wiesbaden 1977, S. 199f.
25 Darunter ist die rhetorische Disposition der Worte und Gedanken zu verstehen. — Sturm veröffentlichte im Jahr 1548 eine Abhandlung über diese Thematik (als dritten Teil seiner Dialektik); s. VD16 S9968.
26 Als Terminus in der Rhetorik bezeichnet "quaestio" das Thema oder den Hauptpunkt einer strittigen Frage.
27 Bezug auf HBBW XVI 393,52-394,59.
28 Vgl. schon HBBW XVI 72,90f.
29 Mathematikprofessor in Straßburg, gest. im Oktober 1562.
30 Die oberste Klassenstufe.
31 Hans Rudolf Lavater und Anna, geb. Röichli.
32 Vgl. schon HBBW XVI 393,43-56. —Lavater blieb bis etwa Mai 1547 in Straßburg


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Paulo antequam infoelix hoc bellum exarsit, studio Philippi Melanchthonis optime instituta fuit schola Witenbergensis, nam legendo quotidie studiosos exercuit. 33 Utinam et clarissimum hunc philosophum possem aliquando audire! Vereor tamen ne infoelix haec tempestas magnos huius saeculi viros, Phihippum et Camerarium 34 , ita fatiget, ut postea, quantum velint et cupiant, suscipere non possint.

De nostris rebus et ecclesia saepius scriber[em]d ad te, sed quae scire cupias, quaeque a me accipias, ignoro.

Praecor deum optimum maximum, ut labenti ecclesiæ te quamdiu foelicissime conservet!

Salvum te cupit d. Matthias 35 . Meo quoque nomine uxori tue honestissimae 36 , hiberis dulcissimis 37 totique familie parentibusque meis salutem dicere ne dedigneris. Argentorati, ex aedibus 38 d. Matthaei Zellii, 7. calendis februarii anno 1547.

Tuus ex animo Lud. Lavatherus.

[Adresse darunter:] Clarissimo viro, Tigurine ecclesiæ antistiti, Henrico Bullingero, patri suo colendissimo. Tiguri.

d Textverlust durch Verklebung.
und studierte danach in Paris und Lausanne weiter; s. HBBW XV 576f, Anm. 23.
33 An der Universität Wittenberg war noch bis Mitte Oktober 1546 der Lehrbetrieb aufrechterhalten worden. Am 6. November wurde die Universität geschlossen. Als Herzog Moritz gegen Wittenberg zog (s. dazu HBBW XVIII 376, Anm. 25), begannen die Menschen aus der Stadt zu fliehen. Melanchthon verließ die Stadt am 11. oder 12. November 1546; s. ebd., S. 334, Anm. 3; Heinz Scheible, Melanchthon rettet die Universität Wittenberg,
in: Aufsätze zu Melanchthon, Tübingen 2010, S. 257.
34 Joachim Camerarius d.Ä., Professor in Leipzig.
35 Matthias Zell.
36 Anna, geb. Adlischwyler.
37 Zu deren Namen s. Nr. 2735, Anm. 10.
38 Zell wohnte direkt hinter dem Straßburger Dom, heute Nr. S der Rue des Frères; s. Hans Georg Rott und Stephen F. Nelson, Straßburg. Die Täuferstadt im 16. Jahrhundert, in: Jean Rott, Investigationes historicae, Bd. 2, Straßburg 1986, S. 107.