Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2399]

Wolfgang Musculus an
Bullinger
Augsburg,
30. März 1546

Autograph: Zürich StA, E II 360, 81 (Siegelspur) Ungedruckt

Heute teilte [Johannes] Haller mit, dass der nach Zürich zurückkehrende Bote [Markus ...] einen Brief mitnehmen könnte. Die [Zürcher], die Haller nach Augsburg begleitet hatten, verließen Augsburg, ohne dass Musculus etwas davon wusste. Nun aber will er die Gelegenheit ergreifen, Bullinger zu schreiben. Das [Religions]gespräch in Regensburg ist im Sande verlaufen. Der Kaiser [Karl V.] wollte nämlich, dass die Präsidenten, die alle Papisten sind, die Protokollführer nur aus dem [katholischen Lager] wählen; dass alle Teilnehmer am Gespräch sich eidlich verpflichten, niemandem etwas über die Verhandlungen mitzuteilen; und dass es am Schluss der Tagung zu keinem Bericht kommen dürfe, sondern nur zu einer Aufzählung der [Glaubenspunkte], über die man sich einigen bzw. nicht einigen konnte, und die von allen zu unterschreiben seien. Darauf ordnete [Johann Friedrich I.] von Sachsen an, dass alle die Tagung verlassen sollen, bis man sich über ein besseres Verfahren verständigt haben würde. Die Gesandten von Sachsen [Lorenz Zoch und Georg Maior] sind am 20., Bucer und [Martin] Frecht am 21. März abgereist. Bucer begab sich in Richtung Heidelberg zu [Friedrich II.] von der Pfalz. Der Spanier Juan Diaz wurde am Morgen des 27. März von [Juan Prieto], dem Diener seines Bruders Alfonso Diaz, in Neuburg [an der Donau] mit einer Axt ermordet. Die beiden Täter konnten mit dem Fuhrmann entkommen, wurden aber in Füssen abgefangen: Ein schreckliches Beispiel dafür, wie die römische Kurie die Frommen umbringt, um ihren Standpunkt behaupten zu können; als wäre es möglich, Christi Wahrheit auszulöschen. Grüße an [Konrad] Gessner und [Rudolf] Gwalther.

S.D. Significavit mihi Hallerus noster hodie a concione mea, Bullingere in domino charissime, esse hic nuncium quendam ad vos reversurum, 1 per quem, si vacet, ad te scribere possim. Quanquam nihil sit, quod necessario scribi debeat, nolui tamen occasionem oblatam negligere; nam hi, qui cum Hallero venerunt, 2 me inscio abierunt.

Colloquium Ratisbonense 3 evanuit, idque causis huiusmodi: Caesar 4 voluit, ut notarii per praesidentes eligerentur, qui tamen ex professo papistae sunt, nec pati voluit, ut aliquis a nostris deputaretur. Deinde voluit cunctas colloquio deputatas personas ad silentium iureiurando obstringere, ne quispiam illorum cuiquam mortalium significaret, quae agerentur vel acta essent in hoc colloquio, sine consensu et indultu maiestatis suae. Tertio noluit

1 Es handelt sich um Markus (Marx) [...], den Bullinger am 22. März 1546 ohne Namensnennung erwähnt hat (s. Nr. 2387,32f), und dessen Vorname aus Nr. 2403,29—31, und Nr. 2405,102, hervorgeht.
2 Haller war mit seiner Familie am 28. Februar nach Augsburg zurückgekehrt, und zwar in Begleitung eines Zürcher Reiters
namens Marx Vogel (s. Nr. 2364 und Anm. 1), der aber kaum mit dem hier erwähnten Boten identisch sein wird, obgleich dessen Vorname auch Marx lautete (s. oben Anm. 1).
3 Das Zweite Regensburger Religionsgespräch; s. Nr. 2328, Anm. 17.
4 Karl V.


Briefe_Vol_16-274arpa

quicquam actorum conscribi a notariis, sed nudos tamen articulos signari, in quibus conventum esset vel dissensum. 5 Has conditiones 6 nostri miserunt electori Saxoniae 7 , qui rescripsit, 8 ut valedicto colloquio huic domum suam quisque se recipiat, donec de forma et modo colloquendi melius constituatur. Itaque 20. huius abierunt Saxones, 9 21. Bucerus et Frechtus. 10 Bucerus abiit Haidelbergam ad electorem Palatinum 11 vocatus.

27. huius 12 Ioannes Diazius Hispanus, 13 vir doctus et pius, qui cum Bucero Ratisbonam venerat, Neuburgi inter 5. et 6. horam a ministro 14 fratris

5 Vgl. Nr. 2371,19—25. — Im April 1546 arbeitete der Katholik Eberhard Billick eine Schrift aus, die vom katholischen Standpunkt aus erklärte, wieso das Gespräch abgebrochen wurde; s. Neudecker 787—798; und Vogel 275—280.
6 Die kaiserlichen Vorschriften vom 11. Februar 1546 zum Verlauf des Gesprächs, die in Regensburg am 26. Februar zur Kenntnis genommen wurden und zur Auflösung der Tagung führten; s. Vogel 329. 430.
7 Johann Friedrich I. von Sachsen. — Der Brief der Gesandten an den Kurfürsten datierte vom 27. Februar 1546; s. Vogel 456.
8 In einem Brief datiert vom 11. März, der am 17. in Regensburg eintraf; s. Vogel 458f und Anm. 858.
9 So auch in Wolrad, Regensb. RG 339. — Die Gesandten Sachsens waren Lorenz Zoch (Czoch) und Georg Maior. 10 So auch in Wolrad, Regensb. RG 340.
11 Friedrich II. von der Pfalz. — Bucer begab sich allerdings zuerst nach Neuburg an der Donau, von wo er am 25. März über Lauingen nach Heidelberg reiste. Dort traf er Ende März ein. Am 4. April befand er sich wieder in Straßburg; s. BucerDS XV 465 (zu Nr. 16); Vogel 471f; Rott, Liste 100.
12 Am 27. März 1546. — 1546 entstanden folgende Publikationen zu dieser Begebenheit: 1. Ein deutscher Bericht von Melanchthon vom 17. April 1546, der kurz darauf ohne Druckangabe unter dem Titel "Ware historia, wie newlich zu Newburg an der Tonaw ein Spanier ... seinen leiblichen bruder ... ermördet" erschien (s. Nr. 2451, Anm. 8); 2. Eine deutsche Erzählung von Johannes Lang mit einer Vorrede vom 24. April, die in
Erfurt unter dem Titel "Ein erbermlich geschicht, wie ein Spaniölischer ... Doctor ... seinen leiblichen Bruder ermordt hat" gedruckt wurde (VD16 E3705) — von beiden Schriften gibt es weitere Ausgaben; 3. Eine von Calvin wohl im September verfasste Schrift "Histoire d'un meurtre execrable", die anonym in Genf erschien (GLN 97; Francis Higman, Lire et découvrir, Genf 1998, S. 289—303, mit kommentierter Textausgabe); 4. Eine auf Latein vom Spanier Francisco de Enzinas (Dryander) verfasste ausführliche Erzählung, die im November 1546 unter dem Namen von Claude de Sénarclens in Basel mit dem Titel Historia vera de morte ... Ioannis Diazii Hispani (VD16 E1436: Gilly, Spanien 328—331) erschien.
13 Juan Diaz aus Cuenca (Spanien) studierte 13 Jahre lang Theologie in Paris. 1540/41 wurde er von Jaime Enzinas, einem Bruder des Francisco, für den Protestantismus gewonnen. Im April 1545 begab er sich zu Calvin nach Genf und von dort nach Straßburg zu Bucer, den er zum Zweiten Religionsgespräch nach Regensburg begleitete. Am 16. Februar 1546 reiste er dann nach Neuburg a. d. Donau, wo er beim Typographen Hans Kilian für den Druck von Bucers Schrift "De vera et falsa caena dominicae administratione" (VD16 B8930), eine gegen Bartholomäus Latomus gerichtete Abhandlung, wie auch für den Druck seiner "Summa christianae religionis" (VD16 D1378) sorgte. Dort wurde er ermordet; s. Jean-François Gilmont, Jean Crespin, un éditeur réformé du XVI e , Genf 1981, S. 36. 38; Wolrad, Regensb. RG 303. 329f. 336; RTA-JR XVII 493—497, Nr. 98; Edward Boehmer, Spanish Reformers of Two Centuries from 1520: Their Lives and Writings,


Briefe_Vol_16-275arpa

Alphonsii Diazii, doctoris rotae antichristianae, 15 in hypocausto 16 securi percussus interiit fratre interea famulum 17 expectante, cum quo et veredarius aufugit. 18 Sed, ut audio, haud procul a Fießen 19 interceptus est. 20 Horribilis facti historia est et manifestum Romane curiae specimen a fratre in fratrem antichristi gratia commissum. His argumentis causam suam tueri volunt, quasi fieri possit, ut effuso sanguine piorum 21 extinguatur Christi veritas.

Bene vale, virorum charissime. Saluta d. Gesnerum et Waltherum 22 , dominos et fratres observandissimos. Auguste, 1546, 30. martii.

Wolfgangus Musculus, tuus in domino.

[Adresse auf der Rückseite:] Viro doctissimo et humanissimo d. Henricho Bullingero, Tigurinae ecclesiae pastori vigilantissimo, domino ac fratri charissimo. Tiguri. 23

According to the Late Benjamin B. Wiffen's Plan and with the Use of his Materials, Bd. 1, Straßburg/London 1874, S. 185—216.
14 Weder Melanchthon noch Enzinas geben den Namen von Alfonso Diaz' Diener an. Bei Melanchthon (f. Aiij,r.) ist er als "ein Italienischer ruffian und sicarius" bezeichnet; bei Enzinas (S. 85) als "nebulo quidam sicarius, qui, ut postea compertum est, Romae fuerat publicus carnifex"; bei Calvin (f. A4,r.) als "un sien serviteur nommé Valdes"; und in der im Frühling 1546 in Nürnberg erschienenen Schrift "Zwey Decret des Trientischen Concili warauff die Lere und haltung ihrer Kirchen stehn solle, erkent auff den viij. Aprilis dieses Jhars"(VD16 ZV9145) als "mordtdiener Johann Valdesio"(f. Aij,v.). Aus einem Brief von Papst Paul III. an König Ferdinand I. vom 28. September 1546 geht jedoch hervor, dass der Begleiter ein Priester aus Cuenca namens Juan Prieto war; s. Boehmer, aaO, S. 196. 202.
15 Die römische Rota ist eine der höchsten Gerichtsinstanzen der römischen Kirche.
16 Ein beheizbarer Raum.
17 Der in Anm. 14 erwähnte Diener, der den Mord ausführte.
18 An der Flucht war kein Fuhrmann beteiligt. Ein in Augsburg angeheuerter, unbekannter Reisebegleiter, der von den Tätern beauftragt wurde, mit den Pferden außerhalb von Neuburg zu warten, und der über das Vorhaben der Täter nichts wusste ([Enzinas], aaO, S. 130), floh nicht zusammen mit diesen, sondern eilte ihnen nach (aaO, S. 147). Die Täter waren mit gemieteten Pferden unterwegs.
19 Füssen (Lkr. Ostallgäu, Bayern). — Laut Melanchthon (f. Aiij,v.), [Enzinas] (S. 150f) und Calvin (f. A7,r.) wurden die Täter im etwa 90 km von Füssen entfernten Innsbruck gefasst.
20 In Füssen wurden sie nur geortet, aber nicht festgenommen; s. Nr. 2406, Anm. 105.
21 Vgl. Apk 16, 6.
22 Rudolf Gwalther.
23 Dieser Brief wurde mit den Briefen Nr. 2403, Nr. 2405 und Nr. 2406 dem Zürcher Boten Markus (Marx) [...] anvertraut; s. oben Z. 1—3.