Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2696]

[Ambrosius Blarer
an Bullinger]
[Konstanz],
27. November 1546

Autograph: Zürich StA, E II 357, 209-212 a (Siegelspur) Druck: Blarer BW II 532-535, Nr. 1372

[1] [Aus einem kurz nach dem 4. November 2 verfassten Bericht 3 eines Unbekannten 4 ;] Die Böhmen haben am 23. Oktober die bei [Sankt]Joachimsthal 5 gelegenen Orte Gottesgab 6 und Platten 7 eingenommen. — [2] Am Samstag den 30. Oktober gegen Mittag hat Albrecht [Graf von] Schlick 8 als Anführer die eine Viertelmeile 9 von unserem Aufenthaltsort entfernten, bei

a In Zürich StA, E II 355, 119f gibt es von diesem Schreiben eine fast vollständige Abschrift (von derselben unbekannten Hand, die für Bullinger auch Brief Nr. 2659 abgeschrieben hatte) mit Randbemerkungen von Bullingers Hand, die hier im Apparat verzeichnet werden. Diese Abschrift wurde Bullingers Brief an Myconius vom 11. Dezember 1546 (Nr. 2713) beigelegt, wie es die Faltungen und Schnitte beider Dokumente deutlich belegen.
1 Dies geht aus unten Anm. a hervor.
2 Vgl. unten § [81 und [Il].
3 Zu den hier geschilderten Ereignissen s. Friedrich Albert von Langenn, Moritz, Herzog und Churfürst zu Sachsen. Eine Darstellung aus dem Zeitalter der Reformation, Teil 1, Leipzig 1841, S. 291-294; Voigt, Moritz 212-216; Erich Brandenburg, Moritz von Sachsen, Bd. 1: Bis zur Wittenberger Kapitulation (1547), Leipzig 1898, S. 493-497.
4 Es handelt sich hier offenbar um einen Auszug aus einem Bericht, der nicht an Blarer gerichtet war. Der Erzähler, der sonst in der Ich-Form schreibt, war Teil einer Gruppe, die er als "wir" bzw. "uns" bezeichnet. Wie aus seinem Bericht hervorgeht, war er mit dem ebenfalls nicht identifizierten Hauptmann von Königsberg an der Eger (Kyn~perk nad Ohri, Tschechien) zu Albrecht Graf von Schlick in das böhmischen Lager geritten. Dass sein Bericht nach sukzessiven Abschriften in Blarers Hand gelangte, kann zwei Gründe gehabt haben: Entweder wurde der Bericht abgefangen, oder es handelt sich bei dessen Verfasser um einen schmalkaldischen Spion.
5 Jachymov, Böhmen (Tschechien), das damals wie die beiden folgenden Orte zum Herrschaftsgebiet Kurfürst Johann Friedrichs I. von Sachsen gehörte.
6 Bozi Dar, Böhmen (Tschechien).
7 Homí Blatná, Böhmen (Tschechien).
8 Albrecht Graf von Schlick (gest. 1554), Graf zu Passaun (Bassano) und Weißkirchen; Landeskämmerer König Ferdinands I. in Böhmen sowie böhmischer Landvogt in der Niederlausitz. Am 5. Oktober wurde gemeldet, dass Schlick "mit etzlich hundert pferden zu felde liegt, der meinung der Doberlin [das zu Böhmen gehörende Kloster Dobrilugk, welches Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen 1541 hatte besetzen lassen; s. Winfried Töpler, Das Kloster Neuzelle und die weltlichen und geistlichen Mächte 1268-1817, Berlin 2003 —Studien zur Geschichte, Kunst und Kultur der Zisterzienser 14, S. 125] einzunehmen" (Moritz von Sachsen PK 11/2 845, Nr. 1013). Laut Langenn, aaO, S. 288, sollte Sachsen von drei Seiten angegriffen werden, wobei von Schlick einen der drei Heereszüge anführte.
9 Also etwa 2,5 bis 3 km angesichts der Tatsache, dass der Berichterstatter zwischen Adorf und Plauen mit etwa 2 Meilen rechnet; s. unten bei Anm. 18. Sein Meilenbegriff wird also der in Zedler XX 307 belegten großen sächsischen Meile entsprochen haben, die etwa aus 5'000 Schritten bestand, d.h. aus etwa 10'000 m (zur ungefähren Schrittlänge s. Hans Kleinn, Maßstäbe und Maßstabsberechnungen alter Karten, in: Kartenhistorisches


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Markneukirchen 10 gelegenen Dörfer Landwüst und Siebenbrunn 11 mit Husaren und einem Reitergeschwader aus dem böhmischen Lager angegriffen und abgebrannt. Danach zog er auf Adorf 12 , das sich ergab. Während in anderen Dörfern je drei bis vier Bauernhöfe niedergebrannt wurden, waren es in Adorf nur zwei Scheunen. Allerdings wurde innerhalb einer Meile alles geplündert und zerstört. Die Leute des Kurfürsten [Johann Friedrich von Sachsen]hatten den Überfall nicht erwartet und daher auch nichts versteckt, so dass Pferde, Vieh sowie Geld und viel anderes aus Kirchen und Häusern entwendet wurde. Am Abend wurden von den Angreifern an die 400 Kühe nach Schönbach [bei Asch]13 geführt, um diese am Morgen darauf in das anderthalb Meilen von uns entfernte bei [der] Eger 14 gelegene Lager zu treiben. [3] Am Montag den 1. November rückte das böhmische Heer erneut auf Adorf zu, das nämlich am Vorabend [von den kursächsischen Truppen] unter Wolf von Gräfendorf 15 , dem Hauptmann von Plauen, mit 300 Reitern und 6 Fähnlein zurückerobert worden war. Als die Böhmen merkten, dass Grafendorf auf einer Anhöhe unweit von Adorf Stellung bezogen hatte, bildeten sie aus ihren 200 Husaren und einem Reitergeschwader drei Gruppen und griffen die Kurfürstlichen von drei Seiten an, worauf hin diese flohen. 300 bis 400 Mann ihrer Besatzung wurden umgebracht; die nackten Leichname haben wir am Tag darauf am Kampfort liegen gesehen, als der Hauptmann [...] von Königsberg (an der Eger]16, der neben den Husaren ein eigenes Reitergeschwader anführt, mit mir zu Graf Schlick (mit dem er schon gemeinsam gekämpft hat) geritten ist. Von den Böhmen und Husaren wurden weniger als 10 Männer getötet; von den Reitern des Kurfürsten zwei Hauptleute, nämlich Hans Wilhelm von Weißenbach aus Helmsgrün 17 und ein Adeliger namens Adam Weder, Fähnrich des Reitergeschwaders. Wer sonst noch umgekommen ist, konnten wir in der Eile nicht erfahren und auch nicht erkennen, da alle Toten unbekleidet herumlagen. Die meisten Opfer waren auf der Flucht von hinten am Hals oder am Kopf getroffen worden. Auf unserem Weg mussten wir öfters über Tote
Colloquium Bayreuth '82, hg. y. Wolfgang Scharfe, Hans Vollet und Erwin Herrmann, Berlin 1983, S. 71).—Wir danken Kurt Jakob Rüetschi, uns auf den Aufsatz von Kleinn aufmerksam gemacht zu haben.
10 Markneukirchen, Vogtlandkreis, Sachsen.
11 Beide Dörfer sind heute Ortsteile von Markneukirchen.
12 Adorf/Vogtland, Vogtlandkreis, Sachsen. — Zu den Ereignissen s. Voigt, aaO, S. 213-215; Moritz von Sachsen PK II/2 913-916, Nr. 1049. — Laut Erich Brandenburg, aaO, S. 494, soll Adorf am hier angeführten Tag nicht vom Grafen von Schlick, sondern von dem böhmischen Truppenführer Sebastian von Weitmühl angegriffen worden sein.
13 Krásná, Böhmen (Tschechien). — Angesichts der sonstigen Angaben dieses Briefes wird hier kaum von dem östlicher gelegenen Schönbach/Luby (ebenfalls im böhmischen Vogtland) die Rede sein, zumal die Angreifer sich wohl so schnell wie möglich auf böhmisches Territorium zurückgezogen und nicht die ganze sächsische Enklave durchquert haben werden.
14 Angesichts der hier angegebenen Distanzen (falls diese etwa stimmen sollten - s. dazu oben Anm. 9), kann es sich dabei weder um das Städtchen Eger (Cheb; Karlovarsky kraj, Tschechien) noch um die Eger handeln, sondern um einen ihrer Zuflüsse oder, noch wahrscheinlicher, um ein sonstiges Gewässer (etwa die Weiße Elster?), so dass das böhmische Lager sich vielleicht bei Wernersreuth (Vernérov), etwa 15 km südwestlich von Markneukirchen, befand und der Berichterstatter etwa 2 bis 3 km südwestlich von Markneukirchen gelegen haben wird.
15 Wolf von Gräfendorf, kursächsischer Amtmann in Plauen und Feldhauptmann für das Vogtland. — Laut Voigt, aaO, S. 213f, soll am 31. Oktober die Rückeroberung nicht unter Gräfendorf, sondern unter einem seiner Hauptleute, nämlich Erhard Zölchner oder Sollinger, erfolgt sein.
16 Kynsperk nad Ohri, Böhmen (Tschechien).
17 Heute Ortsteil von Pöhl. Vogtlandkreis, Sachsen.


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reiten; die Böhmen fahren sogar mit ihren Wagen über die auf der Straße liegenden Leichen. Etliche kursächsische Reiter sind auf ihrer Flucht auf das zwei Meilen von Adorf entfernte Plauen 18 geritten. Dort standen 12'000 kampfbereite kurfürstliche Söldner, die aber durch die fliehenden Reiter alle in die Flucht getrieben wurden und dabei sogar ihr Geschütz, ihre Spieße und Rüstungen zurückließen! Am 4. November löste sich die fliehende Truppe auf [4]Oelsnitz 19 hat sich am 2. November ergeben. Vier Bürger kamen Graf Schlick auf dem Schlachtfeld mit weißen Stäben [als Zeichen der Kapitulation] und einem [Kapitulations]brief entgegen. [5] Am gleichen Tag ist Herzog Moritz [von Sachsen] mit seinem Heer vor Zwickau gezogen. Er steht aufseiten des Königs (Ferdinand I.], wobei sein Volk ganz unwillig in den Krieg zieht. [6] Sebastian von Weitmühl ist oberster Befehlshaber [der Böhmen]. Anstelle des Königs hat 20 er dem Kurfürsten den Krieg erklärt. Bei der Kriegserklärung waren auch der böhmische Kanzler [und Burggraf von Meißen, Heinrich IV.] von Plauen und viele böhmische Adelige anwesend. [7] Es sind über 2'200 b Husaren und Türken c und 2'500 andere Reiter im Feld, also insgesamt über 4'000 Kavalleristen und 12'000 Fußsoldaten. Täglich kommen noch weitere Soldaten dazu. [8] Am 4. November lag [der böhmische Truppenführer] Wolf Christoph von Liechtenstein mit 130 Reitern vor Schönbach [bei Asch]. Gerade jetzt ziehen 40 Reiter aus Österreich 21 und Mähren durch. Man erwartet noch weitere Truppen. [9] In Eger 22 hat man zwei Klöster für den König geräumt, der dort sein Winterlager einrichten will, damit er besser über das Geschehen informiert werden kann. [10]Die Böhmen hatten im Lager bei Landwüst 23 700 Wagen, davon mehr als 60 mit Pulver und viele mit Kriegsmaterial beladen. Auch von Wien traf Geschütz ein, darunter acht große Mauerbrecher 24 , die je von 26 bis 28 Pferden gezogen werden, sowie mehrere Feldgeschütze, die je von 12 bis 14 Pferden gezogen werden. Der Zug hatte eine Gesamtlänge von anderthalb Meilen. Der Zugmeister [...]berichtete, dass die wöchentlichen Ausgaben allein für die Artillerie sich auf 18'000 Florin beziffern. [11]Am heutigen Tag hat die Stadt Eger 200 Soldaten zur Verfügung gestellt. Der Adel der Region liefert auch Truppen; ich weiß allerdings nicht, wie viele Fußsoldaten und Kavalleristen. Ferner wird sehr viel Proviant ins Lager gesandt. [12] Etliche berichten, dass Hessen und die Hansestädte dem Kurfürsten viele Soldaten zukommen lassen. "d -[13] [Blarers Brief:] Aus Augsburg wurde mitgeteilt, dass im ganzen Donautal zwischen dem Gewässer "Müssel"25 und dem kaum eine Meile von Augsburg gelegenen Schmuttertal alle der Stadt angehörenden Dörfer geplündert und zerstört wurden. Frauen und Kinder sind mit über 1'000 Wagen, auf die sie die wenigen geretteten Habseligkeiten geladen hatten, in die Stadt geflohen. Die Bauern hat man erstochen, die Reichen
b Im Text über gestrichenem 2'300 nachgetragen.
c In E II 355 (s. oben Anm. a) sind die Wörter "Husaren und Türken" von Bullinger unterstrichen und mit einem Zeigehändchen sowie mit dem folgenden Kommentar versehen: Lernend den wäg; lernend lieben Türggen, lernend! —Zur damals oft hergestellten Verbindung zwischen Husaren und Türken s. Nr. 2699, Anm. 11.
d In E II 355 fügt Bullinger unter diesem Bericht folgende Angabe hinzu: Uß dem läger Hertzog Moritzen.
18 Plauen (Vogtlandkreis, Sachsen), das etwa 25 km nördlich von Adorf liegt.
19 Vogtlandkreis, Sachsen.
20 Mit einem Absagebrief vom 20. Oktober; s. Langenn, aaO, S. 288, Anm. 2.
21 Gemeint sind die habsburgischen Gebiete Ferdinands I.
22 Cheb, Tschechien.
23 Also in dem Lager, in dem sich der Berichterstatter am 30. Oktober befand; vgl. oben § [2].
24 Hier als große Kanonen zu verstehen.
25 Hier liegt wahrscheinlich ein Fehler vor, der wohl auf eine Fehllesung Blarers der aus Augsburg stammenden Quelle zurückzuführen ist. Möglicherweise ist hier die Mindel gemeint, die etwa parallel zur Schmutter zwischen Günzburg und Lauingen in die Donau mündet.


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gefangen und abgeführt: eine unbeschreiblich jämmerliche Lage! In Augsburg aber befinden sich nicht mehr als 200 Kavalleristen, und wegen des nassen Wetters konnten die Fußsoldaten zwischen dem 7. und etwa dem 15. November nichts gegen die zahlreichen umherstreifenden feindlichen Reiter ausrichten. Möge Gott sich der armen Leute erbarmen! [14]Kaiser [Karl V.] handelt auf eigenartige Weise, denn in allen von ihm eingenommen Städten wie Donauwörth, Lauingen, Leipheim 26e und vielen anderen mehr hat er die Einwohner verschont und die Beibehaltung der evangelischen Predigt erlaubt. Zur Verwaltung dieser Städte hat er treue Männer eingesetzt, damit das schlechte Kriegsgesindel den Einwohnern keinen Schaden zufügen mag. Aus welchem Grund auch immer der Kaiser so handelt, so ist doch Gott dafür zu loben! Auf dem Land und in den Dörfern hingegen ist es schrecklich zugegangen.