Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[395]

Oswald Myconius an
Bullinger
[Basel],
15. Ju[ni] 1534

Autograph: Zürich StA, E II 336, 135r.-v. (Siegelspur) Ungedruckt

Lehnt die zürcherische «Umsicht» scharf ab, da diese einerseits aus Aufgeblasenheit, andererseits aus Angst besteht. Auf der letzten Tagsatzung wurde über das von Herzog [Ulrich von Württemberg] und Landgraf [Philipp von Hessen]vorgeschlagene Bündnis nur insofern gesprochen, als man festgestellt hat, daß es nicht vernünftig sei, an der bestehenden Rechtslage [der eidgenössischen Orte]irgend etwas zu ändern. Die Pläne der beiden Fürsten sollten in der Schwebe gehalten werden, indem die Zürcher die Angelegenheit zuerst mit den V Orten besprechen wollten, um dann eine gemeinsame Botschaft an die Fürsten senden zu können. So geht es zu, wenn unerfahrene Kinder regieren! Über das Bündnis hätte man gar nicht so eilig entscheiden müssen, da aber die Nachricht aus Zürich zu den V Orten bereits durchgesickert war, wurde Zürich dazu gezwungen. Die Ensisheimer und Innsbrucker sind dieser Tage zusammengekommen, gingen aber wieder ratlos auseinander. Die hessische Streitmacht ist aufgeteilt, ein Teil davon bleibt in Württemberg, ein anderer beim Landgrafen und ein dritter bei [Wilhelm von]Fürstenberg. Der König [Franz I.] von Frankreich hat die Grafschaft Mömpelgard [als Pfand] übernommen. Karlstadts Frau soll sich an Myconius wenden. Grüße an Andreas Karlstadt und andere.

S. Reconciliatus es 1 . Quid addam amplius? Verum audi. Nam ut omnia, ita et hoc ausim in sinum tuum effundere: Mirum, quam mihi displiceat prudentia illa Tigurina, tum quod sit vel utre inflatior, tum quod formidinem ex proxima calamitate 2 conceptam semper habeat a latere. De foedere proximis comitiis 3 nihil egit nisi non integrum esse nunc sibi quidpiam de statu suo mutare 4 Item instigavit nescio quis cacodaemon, ut legationem sequestram mittat, quae consilia cohibeat principum, ducis 5 et lantgravii 6 , ita tamen, ut ea res prius ad Pagos 7 quoque referatur, quo communis sit legatio. Et omnino sic fuisset factum, si reliqui consensissent 8 . An non in altero formido, imo in utroque, in altero inflata stulticia? Sed ita sit, ubi pueri principantur et homines rerum inexperti. Alios homines profecto requirit isthaec

1 Vgl. oben Nr. 389. Myconius bezieht sich hier nicht auf Bullingers Schreiben vom 4. Juni (oben Nr. 388), sondern auf einen verlorenen Bullingerbrief oder einen Bericht von aus Zürich zurückgekehrten Basler Gesandten.
2 Dem Zweiten Kappeler Krieg.
3 An der Badener Tagsatzung vom 9. Juni 1534; s. EA IV/ic 334-346. Vgl. auch unten Anm. 8.
4 Das Thema «Bündnisse» wurde auf den Tagsatzungen vom 5. Mai bis zum 9. Juni und im August 1534 mehrfach behandelt. Die reformierten Orte gaben Erklärungen ab, daß sie weiterhin am eidgenössischen Bündnis festhalten wollten, allerdings nicht unter Preisgabe ihres Glaubens (s. EA IV/IC 319 e. 339 ee. 346 und 366 mm); es wurde auch vorgeschlagen (jedoch nicht angenommen), Botschaften fremder Fürsten des Landes zu verweisen (s. EA IV/IC 318 d. 334 d); ein Bündnis
mit Savoyen wurde als unnötig abgelehnt (s. EA IV/IC 335 i).
5 Herzog Ulrich von Württemberg.
6 Landgraf Philipp von Hessen.
7 Die V Orte.
8 Herzog Ulrich von Württemberg hatte am 25. Mai 1534 aus seinem Feldlager in Urach Zürich einen Bündnisantrag gemacht (s. oben S. 197, 4 und Anm. 3). Am 9. Juni besprachen die Tagsatzungsabgeordneten von Zürich, Bern, Basel (das ebenfalls ein solches Angebot erhalten hatte) und Schaffhausen die Sache in Baden, ohne jedoch etwas zu beschließen; sie waren immerhin mehrheitlich der Ansicht, daß die Angelegenheit nicht vor die Tagsatzung gehöre. Heinrich Rahn und Johannes Haab berichteten über dieses Gespräch gleichentags nach Zürich, damit der tags darauf zusammentretende Große Rat weiter handeln konnte; s. Zürich StA, A 227.1).


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celsitudo. Studemus nos a pueris, legimus, quid mundus agat et egerit ab initio, exercemur, ut vix alii quipiam. Quid, si rerum habenae nobis in manus darentur? Hoc nimirum, quod accidit Phaethonti 9 . Quid igitur, ubi pueri praeficiuntur, qui horum nihil unquam viderunt aut experti sunt? De foedere non erat tam cito concludendum, nec id requisivit princeps. Sed coacti estis propter ora futilissima, quae iamiam effuderunt ad Pagos usque, quicquid dux ad vos perscripsit 10 . Flagitium ingens, ita me deus bene amet, et, ut vereor, immedicabile. Mitteremus autem legationem nos, quibus cursus ille foelicissimus per deum aeque conducturus est ut principibus 11 ? Aut iungeremus nos eis, qui hostes sunt principum et omnis eorum actionis hostilissimi? Wolan, ich kan imm nüt thun; es ist also 12 an der zyt 13 !

Fuerunt simul Ensheimenses 14 his diebus et Enipontani 15 sed consilio carentes , omni, atque ita digressi sunt. Augetur exercitus subinde Hessus - ad quid nondum compertum 16 . Distractus est exercitus totus. Pars manet 135v. || in Wirtenberga, partem secum habet Hessus, partem Furstenbergensis 17 . Recepit in ius rex Gallus civitatem Montis Belligardi 18 . Vexillum, quod hactenus ill[ic] a fuit, discessit. Capitis dolor me abigit.

Vale per Christum.

15. iu[nii]b 19 anno 1534.

Os. Myco. tuus.

Ad me divertat uxor Carolostadii. Domum tum indicabo paratam. Carolostadium 20 salutabis et fratres.

[Adresse darunter:] Domino Heinricho Bullingero, amicorum amicissimo, domino observando suo. Zürich.

a, b Der äußere Rand infolge zu starken Einbandes unlesbar.
9 Phaëthon, Sohn des Sol, der als Lenker des Sonnenwagens von Jupiters Blitz erschlagen wurde; s. Georges II 1677.
10 Vgl. oben Anm. 8. - Zur mehrfach wiederholten Anklage des Myconius, im Zürcher Rat sei die Geheimhaltung nicht gewährleistet, siehe z. B. oben S. 60, 49-55 und 98, 4-6.
11 Myconius spielt auf den erfolgreichen Feldzug Philipps zur Wiedereinsetzung Herzog Ulrichs in Württemberg an.
12 verstärktes so (SI I 201).
13 zeitgemäß (Grimm XV 543); wohl im Sinn von: So sind eben die heutigen Verhältnisse.
14 Ensisheimer. - Ensisheim, im Oberelsaß gelegen, Dép. Haut-Rhin, war Sitz der Verwaltung für die vorderösterreichischen Besitzungen im Breisgau und im Elsaß.
15 Innsbrucker. - Innsbruck war Sitz der vorderösterreichischen Behörden.
16 Zur Beendigung des Krieges in Württemberg
und zum Frieden von Kaaden am 29. Juni 1534 s. Wille 185-207 und Heyd II 479-500.
17 Graf Wilhelm von Fürstenberg. Er befehligte die über 11000 Mann umfassenden oberländischen Truppen und war «der eigentliche Führer des Krieges»; s. Heyd II 452f und Wille 170f.
18 König Franz I. von Frankreich wurden die württembergische Grafschaft Mömpelgard u. a. Gebiete für die als Kriegskostenbeitrag in Augsburg hinterlegte Summe von 50000 Gulden verpfändet, weitere 75000 Sonnenkronen wurden zum Schein mit zu der Pfandsumme geschlagen; s. Wille 145-147. 185 und Keller 43.
19 Obwohl der Name des Monats iunii wegen des starken Einbandes nur zur Hälfte lesbar und mit iulii verwechselbar ist, weisen sowohl die Zeitereignisse (s. die Zeilen 4-18 und 24-28) als auch die im 18. Jahrhundert entstandene Abschrift von Johann Jakob Simler (Zürich ZB, Ms. S 36, Nr. 10) eindeutig auf den Monat Juni.
20 Andreas Karlstadt war seit 1522 mit Anna