Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2879]

Simprecht Vogt
an Bullinger
Schaffhausen,
10. April 1547

Autograph: Zürich StA, E II 335, 2086 (Siegelspur) Ungedruckt

[1] Dass die Schaffhauser Pfarrer nur dann schreiben, wenn sie die Hilfe ihrer Zürcher Kollegen brauchen, ist ihrer Schlichtheit und nichts anderem zuzuschreiben. Da sie ferner wissen, wie entgegenkommend ihre Zürcher Kollegen sind und wie oft diese sich ihnen und ihrer Kirche behilflich erwiesen haben, wenden sie sich nun erneut an sie. Sie stören sie nur deshalb, weil es sich um Christi Sache, d.h. um ihre gemeinsame Sache, handelt. -[2] Gestern kam ein Ratsherr [Hans Stierli oder Alexander Offenburger] zum Pfarrer Sebastian Grübel und erzählte unter dem Siegel der Verschwiegenheit, zunächst dass an der letzten

3 Als Enzinas auf dem Weg nach St. Gallen am 2. Februar durch Zürich reiste, verpasste er Bibliander; s. HBBW XIX 226, Anm. 2 und 5. Erst auf der Rückreise (etwa zwischen dem 17. und dem 20. Februar) wird er ihn in Zürich gesehen haben: vgl. HBBW XIX, Nr. 2809. - Welche Arbeit gemeint ist, bleibt offen.
4 Hier ist wohl die Rede von Biblianders Werk De ratione communi omnium linguarum et literarum commentarius, Zürich, Christoph Froschauer, 1548 (Bibliander Bibi. 176f, B-12; BZD C382; VD16 B5330). Die Schrift (die 2011 in der Reihe THR 475 von Hagit Amirav und Hans-Martin Kirn veröffentlicht wurde) enthält ein an die Vorsteher der christlichen Kirche (Ad ecclesiae Christianae
praesides) adressiertes Vorwort vom 6. März 1548.
5 Im Original "creditor". - Damit ist Froschauer gemeint, der, wie die Stelle es nahe legt, Bibliander Geld vorgestreckt haben wird, in Hinblick auf die Einnahmen, die die Veröffentlichung von Biblianders Werk erbringen würde.
6 Dem Inhalt des Briefes zufolge wurde dieser von Trebellio übermittelt.
1 Simprecht Vogt, Pfarrer am Schaffhauser Münster, war einer der drei Pfarrer von Schaffhausen. Seine im vorliegenden Brief erwähnten Kollegen waren Heinrich Linggi, Pfarrer an St. Johann (Hauptpfarrer) und Sebastian Grübel, Pfarrer am Spital.


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Badener Tagsatzung einhellig beschlossen wurde, dass die Behörden jeglicher Stadt und jeglichen Ortes ihre Kirchendiener vorladen müssen und diesen verbieten sollen, künftig in ihren Predigten den. Ruf irgendeiner Stadt oder eines Ortes zu schädigen, damit es nicht zu einem verheerenden Bürgerkrieg komme. -[3]Danach erzählte er auch, dass Rudolf Gwalther von den Fünf Orten gezwungen werden soll, vor dem Kleinen und Großen Zürcher Rat zu widerrufen, ja zu schwören, dass seine Schrift "Der Endtchrist"nicht auf die Fünf Orte gemünzt sei. -[4] Stimmt das, dann wären die Schaffhauser Pfarrer davon äußerst betroffen. Denn dies würde bedeuten, dass die Pfarrer das Wort Gottes gemäß menschlichen Vorgaben zu verkündigen hätten. -[5]Der Berichterstatter offenbarte zudem, dass am kommenden Mittwoch 13. April alle Pfarrer aus Stadt und Land vorgeladen würden, um sich diesem eidgenössischen Beschluss zu unterwerfen! -[6] Die Schaffhauser Pfarrer wissen schon, dass sie ihr Amt zur Erbauung und nicht zur Zerstörung auszuüben haben. Sie wollen aber nicht wegen menschlicher Dekrete dem Worte Gottes untreu werden; sie wollen auch nicht Anlass zur Kritik an der Lehre oder an ihrem Verhalten geben. Es wäre gefährlich, wenn sie es nicht mehr wagen dürften, the Missetaten und Missetäter, mit denen sie konfrontiert werden, in prophetischer und apostolischer Freiheit anzuprangern, die Schafe des Herrn vor den sich einschleichenden Wölfen zu warnen, gebührend gegen die päpstlichen Missbräuche und den Mist der Pfaffen und der Mönche zu wettern und die unchristliche Lehre der christlichen gegenüberzustellen, ja wenn stattdessen die Ausübung ihres Amtes von eidgenössischen Beschlüssen beeinträchtigt wird! -[7]Da sie sich ihrer Einfältigkeit wohl bewusst sind, möchten sie sich gerne nach dem Urteil und der Absicht der Zürcher Gelehrten richten. Diese sollen also mitteilen, was sie denn zu tun gedenken, zumal die Schaffhauser Pfarrer keinen Zweifel daran hegen, dass der Zürcher Rat den Pfarrern von Zurich ebenfalls dieses Dekret vorlegen wird. Die Zürcher Pfarrer sollen auch mitteilen, wie die Schaffhauser Pfarrer sich gegenüber ihren Ratsherren positionieren sollen, damit man nicht den Eindruck gewinnt, sie hätten jetzt eine gegenteilige Auffassung. -[8]All dies soll geheim bleiben, damit es nicht zu Maßnahmen gegen den Berichterstatter kommt, oder die Schaffhauser Ratsherren ihren Pfarrern Böswilligkeit und Dickköpfigkeit unterstellen. -[9]Heinrich Linggi und Sebastian Grübel lassen grüßen. Gruß, auch an Theodor Bibliander, Konrad Pellikan und Rudolf Gwalther. Bullinger soll bitte durch den Briefüberbringer [...] antworten.

Gratiam et pacem a domino, etc. Quod nunquam ad vos scribimus, frater in Christo charissime observandissimeque, quam quum vestra nobis opera opus est, potius nostrae simplicitati quam ulli alu rei acceptum feratis. Nam freti vestra humanitate candoreque in omnes fratres, et quod operam vestram tum nobis tum ecclesiae nostrae saepius obtulistis, confidenter ad vos scribimus, experti hucusque vestram in nos et benevolentiam et sedulum studium. Neque vos turbaremus maioribus occupatos, nisi nostrorum omnium, imo Christi ipsius, cuius communes sumus ministri, negotium ageretur.

Pridie huius diei, quo haec ad te scribo, venit quidam 2 ad symmystam nostrum Sebastianum, homo senatorii ordinis, indicans fide prius arcani non in publicum effundendi accepta Helvetios in proximis Badensibus comitiis 3

2 Da es sich um einen Ratsherrn handelt (s. unten Z. 10), der über die an der letzten Tagsatzung von Baden (s. unten Anm. 3) gefassten Beschlüsse gut Bescheid wusste, muss hier einer der beiden damals nach Baden abgeordneten Schaffhauser Ratsherren gemeint sein, nämlich Hans
Stierli oder Alexander Offenburger; s. EA Wild 798.
3 Die eidgenössische Tagsatzung von Baden, die am 28. März begann; s. EA Wild 797-802, Nr. 360. - Auf dieser Tagsatzung wurde im Zusammenhang mit der durch die Veröffentlichung von


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unanimiter decrevisse, ut magistratus omnium urbium et pagorum suarum ecclesiarum ministros convocent iisque interdicant, ne posthac ullius aut urbis aut pagi aut aliorum nomen publice pro concione perstringant, ne partibus ab utraque parte classicum canatur ad civile aliquod bellum resumendum patriamque vastandam.

Deinde quod Gvalterus foster cogatur Quinque Pagis coram senatu et diacosiis grec, 4 iureque iurando adstrictus manifeste dicere sibi in Antichristo suo non incidisse aliquam ipsorum mentionem.

Haec si vera sunt, dici non potest, quam graviter nos afficiant. Nam si sic agitur, tandem cogemur ad nutum humanum grec verbum domini 111e sane dixit Sebastiano iam apud senatum nostrum decretum esse, ut die mercurii futuro, qui est 13. aprilis, omnes ministri et in urbe et in agro convocemur rogemurque, quo satisfaciamus illi Helvetico decreto!

Nos sane probe edocti sumus potestatem nostram esse ad aedificationem et non ad destructionem. 7 Nollemus tamen adulterare verbum domini humano decreto; nollemus item alicui dare ansam calumniandi tum doctrinam tum facta nostra. Veremur tamen ne quis anguis in herba lateat, cum vitia ac vitiosos, quibuscum nostris commertium est, non audeamus pro libertate propetica et apostolica (quorum exempla habemus) traducere, lupos grassantes in gregem domini suis coloribus depictos ovibus Christi prae oculis

Gwalthers "Endtchrist" ausgelösten Affäre (s. dazu unten Anm. 5) tatsächlich folgender Beschluss zur Beratung ("in Abschied") der jeweiligen Ortsbehörden mitgenommen: "Um für die Zukunft solchen Spänen vorzubeugen, wird gemeinsam beschlossen, es solle jedes Ort seinen Gelehrten, es seien Meßpriester oder Prädicanten, ernstlich befehlen, sich aller Schmachreden und Lästerungen zu enthalten und nur zu predigen, was die Ehre Gottes und der Glaube verlange, damit die weltliche Obrigkeit nicht immer beunruhigt und auf allen Tagen [= Tagsatzungen] mit ihren ungeschickten Händeln beladen werde!" (ebd., S. 800 1).
4 zu widerrufen.
5 Rudolf Gwalthers "Endtchrist" und "Antichristus" wurden im August bzw. im Dezember 1546 in Zürich von Christoph Froschauer gedruckt, was seitdem für Aufregung nicht nur unter den eidgenössischen Orten unterschiedlicher Konfessionen, sondern auch innerhalb von Zürich Stadt und Landschaft sorgte; s. HBBW XVII 400, Anm. 7; XVIII Reg.;
bes. XIX 41. 46f. 53f. - Auf der Tagsatzung vom 28. März genügte es den Fünf Orten nicht, von den Zürcher Abgeordneten zu hören, dass der "Prediger [Gwalther] bestimmt und feierlich erkläre, dass er sie in dem Büchlein weder genannt noch gemeint [habe], sondern einzig den Papst und die Cardinäle", und dass ferner Zürich "in Zukunft solche Schriften nicht mehr drucken lassen" werde. Um den Streit mit den Fünf Orten beenden zu können, schlugen die Sieben Orte vor, dass Gwalther vor dem Zürcher Rat auch noch bekunden solle, "dass er die Eidgenossen von den Fünf Orten für gute, fromme, ehrliche, christliche und biedere Leute halte"; s. EA IV/1d 800.
6 grec verbum domini: Gottes Wort zu verwalten (spenden).
7 Vgl. 2Kor 10, 8; 13, 10.
8 Vergil, Eclogae, 3, 93; Nachträge zu A. Otto, Sprichwörter und sprichwörtliche Redensarten der Römer, hg. y. Reinhard Häussler, Darmstadt 1968, S. 133.
9 prophetica.


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ponere, quo melius sibi possint ab illis cavere, 10 deinde in abusus papisticos et execrandam pfafforum ac monachorum colluviem pro dignitate invehi, doctrinam christianam ex antithesi antichristianae doctrinae fideliter proponere, sed functionem nostram intra decreti Helvetici cancellos inclusam habere.

Nos sane hac in re nostrae simplicitatis nobis probe conscii, doctorum vestrae ecclesiae consilio et instituto hac in re libenter uti vellemus. Quare pro humanitate vestra, quam hucusque experti sumus, vos enixe oramus, ut (quandoquidem haec etiam vobis non dubitamus a senatu vestro propositum in) nobis indicare per literas velitis, quo modo vos gesturi sitis ad huiusmodi postulationem, aut quid videatur vobis, quo modo nos senatui nostro obviare debeamus, ne nostro penitus capite stetisse censeri possimus.

Hoc tamen velimus nunc minime publicatum, ne illi, qui haec narravit Sebastiano nostro, invidiam cum periculo conflare aut nostris 11 , si haec resciscant (quandoquidem nolunt ex alieno praescripto sapere), malevolentiam cum obstinacia conciliare videamur.

Interim valeto bene in domino. Salutant te Lingkius et Sebastianus. Saluta nomine meo d. Theodorum 12 , Pellicanum, Gvaltherum caeterosque omnes. Vellem, per hune nostrum tabellionem 13 reseriberes.

Scaffhusii, anno 1547 quarto idus aprilis.

Tuus ex animo

Simpertus Vogtius.

[Adresse auf der Rückseite:] Doctrina, candore et pietate insigni viro d. Heynrycho Bullingero, domino suo observando, Tigurinae ecclesiae pastori vigilantissimo. Zürich.