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Hans Wahl


VARIATIONEN VOM TOTENTANZ


Mit ERINNERUNGEN AN HANS WAHL

Redigiert, kommentiert, illustriert und ediert von Hans Peter Wahl


II. TEIL: DAS PATENGESCHENK (ein Kunstmärchen)

1. Weshalb gerade das «Patengeschenk»?

Hans Wahl hat aus seinen dichterischen Texten den Tod nie verbannt. Schon im Kapitel 1 seines Erstlings «Der Unscheinheilige», jener «einmaligen kühnen Mischung von Legende und Schelmenroman» (Alfred Richli), baumelt der ausgediente Landsknecht Bartle Munitäsch am Galgen und entrinnt nur durch das Eingreifen einer höheren Macht der Hinrichtung. «O wundersüesser Odem, o bitterschwartzer Tod, ausz beydem ist gebacken das hartte Aerdenbrod», so lautet der im spätmittelalterlichen Amtsdeutsch jener Epoche verfasste Untertitel eines weiteren Kapitels aus dem genannten Legendenkranz: Es geht dabei um Caspar Scharnier, den zwar sterbenskranken, aber zunächst noch durchaus sterbeunwilligen Säckelmeister von Schaffhausen.

Und auch in den später erschienenen Märchen taucht der (oft personalisierte) Tod auf; zwei Geschichten erwähnen ihn als Titelfigur: «Der Musikant und der Tod» und «Der betrunkene Tod». Andere Texte räumen zwar dem Knochenmann eine zentrale Rolle ein, ohne ihn im Titel zu benennen; ich denke da etwa an «Die törichten Wünsche», «Der Orgelspieler», «Bis ans Ende der Welt», «Das Märchen vom listigen, alten Weiblein» und eben «Das Patengeschenk».

Wenn die Geschichte vom Patengeschenk den Vorrang geniesst, dann geschieht dies zur Hauptsache aus zwei Gründen: Zum einen wird Bruder Hein in zwei veritable Totentänze verwickelt, zum anderen bin ich bei der Entstehung dieser Erzählung dabei gewesen!



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2. Mein Vater, der Mentor

So sehr Dritte meinen Vater immer wieder als bescheidenen und von freundlicher Zurückhaltung geprägten Menschen erlebt haben, so sehr war er auch ein neugieriger und wissensdurstiger Mann, .der sich nahezu für alles interessiert hat. Eine grosse Freude bereitete es ihm, seinen Sohn jeweils an Wochenenden an die Hand zu nehmen und mit ihm die nähere und weitere Umgebung zu erkunden. «Heute werden wir jeweils zwei Männer sehen, die zusammen meistens auf vier Beinen stehen, hie und da nur auf drei Beinen, manchmal aber auch nur auf zwei Beinen, ja zuweilen nur auf einem Bein und für kurze, seltene Momente sogar auf keinem Bein.» Die rätselhafte Ankündigung meines Vaters entpuppte sich als Besuch eines währschaften Schwingfestes auf der schaffhausischen Breite. Der Schwinget wurde dominiert vom damaligen Schwingerkönig Walter Flach. An dessen Schwünge kann ich mich zwar nicht mehr erinnern, wohl aber an den Respekt, den der Hüne genoss, der sich zwischen zwei Gängen zur Erholung ein Nickerchen gönnte. «Momoll», bemerkte darob ein Festbesucher zu seinem Nachbarn und rückte den Stumpen im Munde zurecht: «Jetzt liegt der Flach auch einmal auf dem Rücken, aber nur weil er es so will.»

Ja, die «Breite»! Wie oft bin ich an Vaters Hand hinuntergestiegen vom Emmersberg, wo wir damals wohnten, ins Zentrum des Rheinstädtchens, um hernach westwärts wieder an Höhe zu gewinnen, bis die Breite sich vor unsern Augen auftat.



***
Dieses flache Sportgelände oberhalb der Stadt war auch geeignet für das Schaustellergewerbe. Es war wieder mein Vater, der mich zur «dicken Berta» führte. bin ä Appäzölleri und han immer Durscht», zirpte die mächtige Frau mit mädchenhafter Stimme und wies auf die zahlreichen leeren Henniezflaschen, die sich um ihre sagenhaften Oberschenkel gruppierten. Im Zelt nebenan reckte «der grösste Mann der Welt» seine 2,35 cm in die Höhe; er hatte sich dabei auf Podest gestellt und mit einem röhrenförmigen Zylinderhut gekrönt. Ebenfalls durch Vermittlung von Hans Wahl machte ich Bekanntschaft mit dem zweiköpfigen Kalb; mit einer Leopardenfrau, die sich offensichtlich abends vom Menschen in ein Katzentier und wieder zurück verwandeln konnte; mit einem ausgestopften Haifisch, der sein Gebiss drohend bleckte; mit einem Entfesselungskünstler, der bei der Ausübung seines Metiers unsägliche Schmerzen auszustehen hatte; ja, mit ganzen Gruppen fremdländisch ausschauender Menschen aus Afrika oder Asien, die in sog. Völkerschauen präsentiert wurden. Diese «Bildungsausflüge» an Vaters Hand beschränkten sich indessen nicht auf die Breite; noch entsinne ich mich des Glückgefühls, als ich am «Freien Platz» einen schnurrenden Geparden streicheln durfte, das weiche Fell bildete dabei einen merkwürdigen Kontrast zur darunterliegenden, straffen Muskulatur und zum harten Schulterknochen. Dagegen dürfte die Besichtigung eines in einem Eisenbahnwagen aufgebahrten Grosswals beim Güterbahnhof der Riese stank fürchterlich erst einige Jahre später erfolgt sein und zwar ohne Herrn Wahl sen. Ein unangenehmes Erlebnis musste ich merkwürdigerweise zunächst dort verzeichnen, wo mich die Begegnung mit dem herrlichen Geparden so sehr verzückt hatte. Mein Vater gedachte mich hier in die Welt des Boxsportes einzuführen, fanden doch in dieser Lokalität auch die Turniere der Amateurboxer statt. Als ich zum ersten Mal sah, wie sich die ehrgeizigen Faustkämpfer verdroschen, geriet ich in Panik und wollte den Saal sofort verlassen. Mein
Vater musste mich beschwichtigen, damit ich mir den Verlauf der weiteren Kämpfe doch noch anschaute. Schliesslich fand ich sogar Spass am ruppigen Geschehen.



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So nahm denn auch diese Lektion ein gutes Ende. Wie üblich beinelten der grosse und der kleine Wahl auf dem Heimweg gesprächsweise all das Geschaute, Gehörte und Erlebte haarklein nochmals auseinander es war dies eigentlich der schönste Teil eines schönen Ganzen. Zu Hause wurde dann der Mutter «prichtet» vom Tage, «vom längst vergangenen Tage.» Die Herzensgute hörte etwas zerstreut zu, sie war in erster Linie froh darüber, ihre beiden «Mannsvölker» wohlbehalten um sich zu wissen, zudem galt es in der Küche immer wieder einmal nach dem Spaghettiauflauf oder nach der «Öpfeltünne» zu schauen, welche auf die beiden Abenteurer warteten. Gesellte sich dann noch meine Schwester dazu, dann war das Glück meiner Eltern für kurze Zeit vollkommen.

3. Der Besuch des Fischerumzuges Diessenhofen

Es muss in den späteren Vierzigerjahren nach Ende des 2. Weltkrieges gewesen sein, als ich mich, wiederum an der Hand meines Vaters, unversehens im aufgeregten Festgetümmel der Diessenhofer Fasnacht fand. Ich vermute, dass mein Mentor, wie auch schon, Fahrkarten für sich und den «Filius» (so nannte er mich manchmal halb im Scherz, halb im Stolz gegenüber Dritten) erstanden hatte und wir mit einem der alten Raddampfer nach Diessenhofen gelangt waren. So eine Schifffahrt hat mir schon als Knabe viel bedeutet, gab es doch stets mancherlei zu beobachten, zu bestaunen, etwa das kühne Ablegemanöver des Kapitäns bei der Schifflände vor der Rheinbrücke, die barocke Klosterkirche St. Katharinental mit den fröhlich winkenden Heiminsassen, die überdachte Holzbrücke beim Städtchen Diessenhofen, deren geringe Durchfahrtshöhe die Matrosen zwang, den Schiffskamin zu kippen oder die Silberreiher, die sich in der üppigen Ufervegetation versteckt hielten. Und zu all diesen Ereignissen und Sehenswürdigkeiten wusste mein Vater etwas zu sagen, was nicht nur einleuchtete, sondern auch zum eigenen Weiterdenken anregte.

Bei welcher Rheinfahrt mich mein Vater in den Maschinenraum eines Dampfers führte und sich dort sogleich in ein Gespräch mit dem Heizer über den Einsatz eines solchen Schiffes vertiefte, ist nicht mehr auszumachen. Es fiel mir damaIs jedoch auf, wie unbefangen sich der zunächst eher scheu wirkende Mann gegenüber Menschen jedweder Couleur verhielt, wenn er seinen Wissensdurst stillen wollte. Wie oft haben meine Schwester, die auf «Exkursionen ins Tierreich» gern mit von der Partie war, und ich in Buchthalen, Dörflingen oder anderswo auf Geheiss unseres Vaters in enge Kaninchenverschläge und dunkle Kuhställe gespäht; kam dann misstrauisch der Bauer angeschlurft, so verwickelte ihn Hans Wahl ohne Verzug in eine Fachdisputation über Kaninchenzucht oder Viehaltung, und ein Viertelstündchen später trennten sich beide Parteien in bestem Einvernehmen wieder, die drei Wahls um einige aktuelle, landwirtschaftlichen Erkenntnisse reicher, der Bauer leicht verwundert ob dem Verständnis, das der redegewandte Städter für die Nöte seines Standes gezeigt hatte.

Das ist das Zweifamilienhaus Säntisstrasse 27 auf dem Emmersberg in Schaffhausen, einige wenige hundert Meter Luftdistanz vom Munot entfernt. . Die Familie Wahl lebte in der Parterrewohnung bis ins Jahr 1957, hernach zogen wir um in eine zwar kleinere, aber vom Arbeitsaufwand her gesehen für unsere an einer Arthrose erkrankten Mutter, viel günstigere Behausung an der Weinsteig 8, gerade schräg gegenüber dem einstigen «Säulimärkt», der inzwischen zum reinen Parkplatz mutiert hat. Die sorgfältige und im Original feinkolorierte Zeichnung stammt aus der Hand meines Vaters; er hatte im Jahre 1924 für seine damalige Freundin und spätere Ehefrau Elisabeth Rosa Meier zwölf Monatsblätter von Örtlichkeiten verfertigt, die beiden vertraut waren und seine Illustrationen mit bekannten lyrischen Gedichten versehen (er selber steuerte aus eigener Produktion einige Mundartverse bei). Erstaunlich das Alter der Protagonisten: Mein Vater zählte damals 22 Jahre, meine Mutter gar deren erst 16!



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Wie es der Art unseres Mentors entsprach, wurde das Gehörte auf dem Heimweg noch vertieft, offene Fragen fanden ihre Antwort. Nur einmal hat mein Vater mit einer Auskunft gekniffen. Er hatte sich mit einem Landwirt über die Gefahren der Bullenhaltung ausgetauscht. Ich durfte dabei ein Kälbchen streicheln und schnappte nur einige Gesprächsfetzen auf. Als wir alleine waren, frug ich meinen Mentor nach dem Unterschied zwischen Stier und Ochs. «Das, mein lieber Sohn, kann ich dir heute noch nicht erklären, du bist noch zu jung, um das zu verstehen», lautete die überraschende Antwort, die ich als Ausflucht empfand. Vor Verblüffung verstummte ich.

Ein zweites Mal ist mir eine Autorität auf eine zentrale Frage die Antwort schuldig geblieben. Das erlebte ich im Religionsunterricht beim damaligen Münsterpfarrer Walter Kuster. Als ich ihm die Frage stellte, wie denn die genauen Verwandtschaftsverhältnisse zwischen dem Heiligen Geist und Gottvater sowie Jesus Christus beschaffen seien, da wiegte der Theologe nur sein mächtiges Haupt und bemerkte: «Hans Peter, das ist eine interessante Frage.» Das war's dann.

Als wir am besagten Tag Diessenhofen erreicht hatten, da gewahrten wir und jetzt überlasse ich die Schilderung meinem Vater:

«Einen Fasnachtzug, der sich vor den Mauern geformt hatte und gerade in
Bewegung setzte. Die Musik an der Spitze war schon in die Torwölbung eingetaucht
und vollführte darin mit Posaunen, Pfeifen und Pfannendeckeln
einen Höllenlärm. Ihr folgte ein von schweren Gäulen gezogener Bauernkarren
mit einem Riesenhecht, den kunstfertige Hände aus Holz und bemalter Sackleinwand
aufgebaut hatten. Die nebenher und hintennach marschierenden,
mit brennendroten Nasen und borstigen Schnauzen maskierten Männer schwangen
die Kennzeichen ihres Gewerbes, nämlich Käscher, worin tote Fische wie
schmale Silbermonde glänzten, schwere Schleppnetze mit tropfenden Algenschnüren
in den Maschen und Fischbehälter, aus denen bei jedem Schritt das
Wasser überschwappte. Den Schluss des Zügleins bildete eine kunterbunte
Schar von grossen und kleinen närrischen Gestalten, mit grinsenden
und greinenden Larven vor den Gesichtern und mit schlampigen Gewändern behangen,
die dort, wo strotzende Weiblichkeit vorgetäuscht werden sollte,
mit Heu und Lumpen ausgestopft waren. Sie fuchtelten drohend mit Rätschen,
Besen und kurzen Stöcken, an denen luftgefüllte Schweinsblasen baumelten,
und sie kreischten und kicherten mit verstellten Fistelstimmen. Dieses
Gesindel aus des Teufels Küche sollte offensichtlich die Sinneslust verkörpern,
denn es vollführte schamlose Bocksprünge und liess die wohlgepolsterten
Brüste hüpfen und die künstlich überhöhten Hinterhügel wackeln.»
Auch die beiden Wahrzeichen meiner Vaterstadt. der Munot und das Münster, sind von meinem Vater fein säuberlich gezeichnet worden.



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Ja, genau so (und nicht anders), ja, so genau (und nicht anders), hat sich damals der Diessenhofer Fischerumzug dargestellt. ich war schliesslich dabei und habe alles als Knabe mit meinen damals noch scharfen Augen gesehen und in meinem noch aufnahmefähigen Gedächtnis gespeichert. Wenn ich heute den von meinem Vater über das damalige Geschehen verfassten Text wieder lese der Umzug liegt an die 6S Jahre zurück dann verblüfft mich, wie frisch und unmittelbar seine Schilderung wirkt. Man wähnt einen sprechgewandten Radioreporter zu hören, der uns mit sonorer Stimme nahebringt, «was abläuft». Und jede Einzelheit stimmt. Das ist mit besonders aufgefallen, als ich mich 1981. also acht Jahre nach dem Tode meines Vaters, darangemacht hatte, seine Kunstmärchen (eingeschlossen «Das Patengeschenk») im Sammelband «Der kristallene Schlüssel». zu veröffentlichen. Da ich zum Diessenhofer Fasnachtsumzug eine Zeichnung beisteuern wollte, verglich ich die Schilderung meines Vaters eingehend mit meinen eigenen Erinnerungen. Und siehe, die beiden Wiedergaben desselben Ereignisses erwiesen sich praktisch als deckungsgleich. Es fiel mir daher nicht allzu schwer, mich bei meiner Illustration an die Darstellung meines Vaters zu halten. Gewisse Abweichungen ergaben sich aus dem beschränkten Platz, der mir dabei zur Verfügung stand. So wurde aus den «schweren Gäulen», die den Bauernkarren beförderten, auf der Zeichnung ein einzelnes Zugpferd. Auch das «Personal» des Umzuges «erfuhr bei mir eine Reduktion»: Nur eine einzige Gestalt, die Larve vor dem Gesicht, täuscht «strotzende Weiblichkeit» vor, indem sie «die wohlgepolsterten Brüste hüpfen» lässt; ein einsamer Trommler ersetzt die ganze Musik. Dafür liess ich einen schwarzen Mischlingshund vor dem Umzug dessen Weg kreuzen, und den imposanten Riesenhecht habe ich nicht vergessen.

So habe ich mich denn redlich bemüht, die in Worte gekleidete Schilderung meines Vaters und meine damaligen Beobachtungen etwa 35 Jahre später zeichnerisch nachzubilden. Ob ich den Torbogen dabei richtig getroffen habe, weiss ich nicht; viel mehr hat sich mir das Umzugsgeschehen eingeprägt. Einmal mehr muss ich gewahr werden, dass der offenichtlich aus der Werbebranche stammende Slogan: «Ein (statisches) Bild sagt mehr als tausend Worte» in Bereichen der Künste nichts taugt, wenn es um die Darstellung von Handlungen oder Bewegungen geht: Hierbei wird eine brillante Schilderung aus Dichterwerkstatt der zeichnerischen Wiedergabe immer überlegen bleiben.

Betrachtet man Fotos jüngsten Fischer- und Bauernumzüge in der Region während der Fasnacht, so fällt auf, dass sie nicht nur viel reicher und farbenbunter geworden sind, als es der wilde Haufen war, der sich in der frühen Nachkriegszeit des vorherigen Jahrhunderts durch das Tor gezwängt hatte, nein, sie sind offensichtlich auch besser strukturiert und klar nach Symbolen und Themen geordnet worden man spürt förmlich, dass hier ein kundiges Fasnachtskomitee mit professionellem Wissen am Werk gewesen sein musste...
Kommentar s. S. 44 unten



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Das alles war anders beim Umzug den ich an Vaters Hand bestaunen durfte. Dieser Anlass hatte in keiner Weise etwas «Geschniegeltes» an sich, da hatte keine mit dem Kunstgewerbe vertraute Schneiderin an den Fasnachtskostümen gearbeitet. Man merkte es bald; hier hatten sich einfache Leute zusammengetan, Fischer und Bauern mit ihrem Jungvolk etwa, da waren in der frühen Nachkriegszeit die Nötli und Fünfliber im Portemonnaie noch rare Gäste man sah das an den behelfsmässigen Verkleidungen und Larven, die sich das festfreudige Völklein genäht und gebastelt hatte. Nur der «sündengraue» Riesenhecht wirkte täuschend echt, er musste von jemandem geschaffen worden sein, der sich in der Anatomie eines solchen Wasserwesens bestens auskannte, ein künstlerisch begabter Berufsfischer vielleicht. Am eindrücklichsten war für mich (und ist es immer noch) die elementare Kraft, die vom ganzen Geschehen ausging, sei es von den wuchtigen Musikklängen innerhalb der Torwölbung, sei es von der sinnenfreudigen Lebenslust der am Fest Beteiligten, am meisten wohl aber von dem tumultartigen Durcheinander, das den Umzug zeitweise beherrschte. Dennoch fanden die Maskierten, die aus einer grauen Vorzeit zu stammen schienen, immer wieder ihren Weg. Dieses Urige, Archaische und Authentische wird man bei heutigen Fasnachtsveranstaltungen nur schwerlich antreffen.

Hans Wahl hat indessen dieses Ereignis, eingebettet in eine Erzählung, wie ein Chronist schriftlich festgehalten und damit auf absehbare Zeit vor dem Vergessen bewahrt. Dass er sich dabei des alten Diessenhofer Volksbrauches mit jugendlich wirkendem Elan angenommen und ihn in bildkräftigen Formulierungen aufs Papier gebracht hat, das sollte die literarisch und volkskundlich interessierten Diessenhofer mit Freude erfüllen. Ich aber, der Filius, darf sagen: «Ich bin dabei gewesen, als der Keim für «Das Patengeschenk» gelegt worden ist!»

Bis jetzt habe ich, im Hinblick auf die Fischer Fasnacht in Diessenhofen dem Leser nur einen einzigen Abschnitt aus der Erzählung «Das Patengeschenk» präsentiert. Es ist höchste Zeit, ihm das Märchen in vollem Wortlaut vorzustellen. Wie bei der Zeichnung zum Fischerumzug greife ich dafür auf den Sammelband «Der kristallene Schlüssel» zurück (S. 167-172).

Kommentar zu S. 42 unten:

«Die Diessenhofer Fasnacht hat mich zu einer zweiten Illustration des Fischerumzuges im Torbogen angeregt. Da es sich diesmal um das Neujahrsblatt mit Glückwünschen für 1985 handelte, hatte ich den knöchernen Tod durch einen jungen (aber schwarz gekleideten!) Geiger, mit einem winzigen Instrument, ersetzt. Man bringt ihn eben nimmer weg («Ich bin euch nah, bin immer da in allem, was das Leben gibt»). Ich kann als Zeichner einzig dafür sorgen, dass er bei gesellschaftlichen Anlässen zukünftig in einem weniger anstössigen Äusseren auftritt, als noch an der von meinem Vater geschilderten Diessenhofer Fasnacht... Es trifft zu: (Der Tod hat viele Masken.»



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Die muntere, junge Leopardin (nicht zu verwechseln mit dem abgeklärten Gepardenkater am Freien Platz!) soll an meiner Stelle mit freundlichem Gepruste all jener Menschen und Tiere gedenken, die auf der Breite oder sonst wo in der Region meiner Vaterstadt mit Darbietungen zu meiner Unterhaltung oder Weiterbildung beigetragen haben; es waren dies vor allem Artisten, Sportskanonen, Gaukler, Tierfänger und Dompteure, Vertreter der kuriosen Sparten, , exotische Menschen; bei den Tieren fanden sich domestizierte, gezähmte und dressierte Wildfänge, prachtvolle Zuchtprodukte und erbarmungswürdige Monsterwesen. Zumeist vermittelt hatte die Kontakte mit dieser so vielgestaltigen Welt mein Vater. Er hat mir aber zugleich nahegebracht, dass es nicht jedem frommt, mit kühnem Zugriff das Gesehene und Geschaute nebst Mensch und Getier der eigenen Herrschaft zu unterwerfen. Vielmehr gäbe es auch solche, die dazu berufen seien, als aufmerksame Beobachter oder getreue Chronisten die Ereignisse zu verfolgen und für die Nachwelt zu bewahren, so wie im Märchen der Zöllner am Schlagbaum mit dem «Leben der Landstrasse» verfuhr, «das lustig, liederlich und leidvoll in langer Prozession an ihm vorüberzog» («Der Mann mit den zwei Seelen» «Der kristallene Schlüssel«, S. 177 ff.) Das ging im übrigen so lange gut, als der Zöllner in seinem Leib nur die angestammte brave Zöllnerseele und nicht auch noch wegen eines widrigen Missgeschickes zusätzlich eine heimatlose, sündenschwarze Strassenräuberseele beherbergen musste...



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4. «Das Patengeschenk» im Wortlaut.

Der Tod hat zwar viele Masken, doch an jenem sonnigen Tag im Februar gab er sich die Gestalt eines Knochenmannes, die den Menschen vertraut ist, wenn sie ihn darstellen wollen. Er schlüpfte in rissige Soldatenstiefel, schwang sich einen alten Reitermantel um die Schultern und stülpte einen Schlapphut auf den blanken Schädel. Wie er nun weitausgreifend durch das frühlingshafte Land stelzte, verschmolzen das Braun von Hut und Schuhen derart mit den brachen Äckern, das verblichene Blau des Umhanges mit dem Föhnhimmel und das Weiss seiner knöchernen Glieder mit dem schnutzigen Schnee am Wegrand, dass man den fremden Wanderer kaum erkannt hätte, wären die gluckernden Schmelzwässerchen auf der Strasse unter seinem Schatten nicht wieder zu Eis gefroren.

Als der Tod beim Fischerstädtchen ankam, wo er seines Amtes walten sollte, gewahrte er einen Fasnachtzug, , der sich vor den Mauern geformt hatte und gerade in Bewegung setzte. Die Musik an der Spitze war schon in die Torwölbung eingetaucht und vollführte darin mit Posaunen, Pfeifen und Pfannendeckeln einen Höllenlärm. Ihr folgte ein von schweren Gäulen gezogener Bauernkarren mit einem Riesenhecht, den kunstfertige Hände aus Holz und bemalter Sackleinwand aufgebaut hatte. Die nebenher und hintennach marschierenden, mit brennendroten Nasen und borstigen Schnauzen maskierten Männer schwangen die Kennzeichen ihres Gewerbes, nämlich Käscher, worin tote Fische wie schmale Silbermonde glänzten, schwere Schleppnetze mit tropfenden Algenschnüren in den Maschen und Fischbehälter, aus denen bei jedem Schritt das Wasser überschwappte. Den Schluss des Zügleins bildete eine kunterbunte Schar von grossen und kleinen närrischen Gestalten, mit grinsenden und greinenden Larven vor den Gesichtern und mit schlampigen Gewändern behangen, die dort, wo strotzende Weiblichkeit vorgetäuscht werden sollte, mit Heu und Lumpen ausgestopft waren. Sie fuchtelten drohend mit Rätschen, Besen und kurzen Stöcken, an denen luftgefüllte Schweinsblasen baumelten, und sie kreischten und kicherten mit verstellten Fistelstimmen. Dieses Gesindel aus des Teufels Küche sollte offensichtlich die Sinneslust verkörpern, denn es vollführte schamlose Bocksprünge und liess die wohlgepolsterten Brüste hüpfen und die künstlich überhöhten Hinterhügel wackeln. Der Tod schloss sich ihnen unbehelligt an, und es schien keinem widersinnig, dass der grimme Bruder Hein an der Seite seiner holden Schwester Vita beim weltlichen Mummenschanz mitmachte.

Endlich hatte sich das Züglein durch das enge Tor gezwängt und entfächerte sich nun auf der einzigen Hauptstrasse des Städtchens in behäbiger Breite. Die Posaunenbläser prusteten mit berstender Lunge in das verbeulte Blech, die Pfannendeckler schlugen wie besessen den Takt dazu, die Fischer schwenkten schmunzelnd die Wassereimer gegen die Schuhe der herbeiströmenden Zuschauer, die Höllenbrut sprang auf und ab, umhalste und küsste die Schönen auf dem Bürgersteig oder prügelte die Widerspenstigen mit dumpf aufprallenden Schweinsblasen, und der Tod tänzelte geziert hinterher und grüsste mit lässiger Gebärde seiner knöchernen Hand zu den Gaffern in den Fenstern hinauf. Am anderen Ende der Strasse, dort, wo sie sich zu einem Platz ausweitete, löste sich der Fasnachtumzug auf. Von einem Bretterpodest herab begann eine lüpfige Tanzmusik aufzuspielen, und bald drängelte und drehte sich die übermütige Menge im Walzertakt.

Schon während des Vorbeimarsches hatte eine üppig geformte Hexe immer wieder die Nähe des Todes gesucht und ihm durch anschmiegsames Gehaben zu erkennen gegeben, dass sie ihm wohlgewogen sei. Unter der hässlichen Maske verbarg sich das lebenslustigste Geschöpf der Gegend, das jedem, der ihm gefiel, seine Liebesgunst gewährte. Es ist unbegreiflich, weshalb dieses blühende Wesen sich gerade zum knochendürren Gesellen hingezogen fühlte. Vielleicht war es bloss die Neugierde, einen Liebhaber zu erproben, wie die Frau noch keinen besessen hatte, vielleicht aber auch die Ahnung, dass der seltsame Fremdling über eine Kraft gebiete, welche ihrem bisherigen leichtfertigen Leben eine Wendung in die Tiefe und Weite geben könnte. Als daher das Volk zu walzern begann, zupfte die Hexe den Tod dreist am Gewand, zum Zeichen, dass sie mit ihm tanzen wolle und warf sich dann freudig in die weit geöffneten Arme.



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Nach den Berichten war der Tod ein wundervoller Tänzer. Herrisch und zart zugleich zwang er das Weib in seinen Schritt und die Musik in seinen Takt. Er glitt dahin wie eine Welle, die am Strand aufläuft, dann wieder wirbelte er am Ort, dass sein wehender Reitermantel mit den fliegenden Röcken seiner Partnerin zu einem Kreisel rauschender Lebensfreude zusammenwuchs, oder er stampfte mit den Stiefeln und klapperte mit den Knochenfingern wie mit Kastagnetten. Bei diesem Auf und Ab und Rundherum wurde es der Frau unter ihrer Maske fieberheiss, weshalb sie diese wegriss, fortwarf und nun mit glühendem, lachendem Gesicht zu ihrem Tänzer aufschaute. Weil sie aber sein wahres Gesicht wissen wollte, versuchte sie die Totenkopflarve auch zu lösen, und als sie dabei blitzartig erkannte, in wessen Armen sie lag, schlug ihr der Schreck derart hart ans Herz, dass sie mit einem Seufzer entseelt zu Boden sank.

Zwar hat Hans Wahl m. W. den Tod nie als Vierten neben dem Krieg, dem Hunger und der Pest unter die apokalyptischen Reiter eingereiht, doch sind im Märchen «Stampf» auch drei Nöte auszumachen, von denen man sich lieber fernhält, es sind dies der Hunger, das Fieber und die Verzweiflung; sie wispern dem verlassenen Gewalttäter «Stampf» zu: «Wir bleiben dir treu». («Der Kristallene Schlüssel», S. 117 und 119)



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In diesem Augenblick fuhr ein eisiger Windstoss durch das Tor, die Häuserwände entlang, schwang die scherbelnden Fensterläden auf und zu, entriss dem Tod den Schlapphut und rollte ihn wie das von einem Leichenwagen abgesprungene Rad davon. Jetzt erkannten die anderen Fasnächtler, wer unter ihnen weilte, und sie kreischten: «Der Tod, der Tod!» Sie flohen wie aufgescheuchte Hühner, fielen übereinander hin, rappelten sich schreiend wieder hoch und verschwanden in den Hausgängen, wo sie die Türriegel verschoben. Im Hui war die Strasse menschenleer. Der Tod aber verneigte sich würdevoll, wie ein Zirkuskünstler, der für seine Leistung Beifall heischt. Indes, es blieb weitum still und selbst der Wind hielt seinen Atem an.

Dann aber drang ein Klagelaut durch die Stille. Der Tod forschte nach und fand in den Rockfalten der Frau ein Knäblein, das sie in ihrer Sterbensnot geboren hatte. Weil jetzt ein wilder Schneewirbel über die Dächer fegte und die verstörten Menschen in ihren Schlupfwinkeln blieben, wo sie sich geborgen glaubten, erfasste den Tod ein ungewohntes Erbarmen mit dem verlassenen Kind; er löste es von der toten Mutter, barg es in seinem Mantel und trug es zum Klösterchen am Seeufer. Als sein Klopfen nicht erhört wurde, sprengte er das Tor mit einem Fusstritt, wehte mit einem Schneeschauer an dem erschrockenen Pförtner vorbei, hinein und geradewegs in die Klause des Abtes, der eben beim Vespern war. Dort legte er das wimmernde Wesen zwischen Käseteller und Weinglas nieder und befahl, dass es ungesäumt getauft werden müsse. Der Abt wagte keinen Widerspruch und nahm die heilige Handlung vor. Alsdann übergab ihm der Tod einen Beutel Gold und gebot: «Ihr sollt das Knäblein in Gottesfurcht erziehen. Ich will sein Pate sein. Wenn das Kind den zwanzigsten Geburtstag begeht, werde ich ihm einen Wunsch erfüllen. Es kann dann Reichtum oder Macht oder Ruhm verlangen, und ich werde ihm gewähren, was ihm wichtig scheint.» Darnach schwand der Tod dahin wie Kerzenrauch. und es blieben nur die Goldmünzen und ein schreiendes Kind zurück.



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Die Mönche mühten sich redlich, aus dem Knaben einen frommen Klosterbuben zu machen, er hatte aber das ungebärdige Blut seiner Mutter und den unsteten Sinn seines Vaters angeblich ein streunender Zigeuner geerbt und er wollte sich keiner Ordnung fügen. Zur Zeit der Fasnacht musste man ihn jeweils in eine seewärts gelegene Zelle sperren, damit er die verlockende Narrenmusik nicht hörte und ausbrach. Die Mönche waren daher froh, als ihr Zögling den zwanzigsten Geburtstag feiern konnte. Der Abt überreichte ihm, was von den Goldmünzen verblieben war und eröffnete ihm das Geheimnis seiner Geburt. Gleichzeitig gab er ihm kund, dass er einen Patenwunsch frei habe, sei es Reichtum oder Macht oder Ruhm, wobei er ihm väterlich rate, bedachtsam zu wählen, damit es ihn nachher nicht reue.

Aber der Jüngling lachte nur und meinte, es sei ihm an diesen Gaben nicht das Geringste gelegen. Der Uralte solle daher sein Patengeschenk behalten und der andere Glatzkopf seinen guten Rat. Er wolle nun endlich jenes Leben kosten, das man aus den Klostermauern verbannt habe und das geniessen, was hier wenig geschätzt sei. Damit wandte er sich der Pforte zu, die in die weite Welt führte.

Es war wieder ein Februartag voller Frühlingsahnung. Die schwarzbraunen Schollen glänzten in der Sonne, in den Schattengräben schäumte der schmelzende Schnee, und der blassblaue Föhnhimmel war mit schimmernden Brautschleiern verhängt. Der Jüngling erreichte das Städtchen, als sich ein kreischender Fasnachtumzug durch den Torbogen quetschte. Er schloss sich ihm an, zusammen mit einem Mädchen, das, wie er selber, keine Larve trug. Es war ein Waisenkind, ebenfalls in straffer Zucht aufgewachsen und nun heimlich dem Krankenbett entwichen, um eine Fasnacht erleben zu können. Weil es kein Kostüm besass, hatte es sein weisses Nachthemdlein anbehalten und eine Kerze in die Hand genommen, damit es einem Weihnachtsengel gleichen sollte. Nachdem auch der Jüngling in seinem mönchischen Gewand frömmer wirkte, als er wirklich war, schien das Paar von einem Hauch leiser Heiligkeit umhüllt, der vom lärmigen Gebaren des voraustollenden Hexengesindels wunderlich abstach.

Die zwei jungen Leutchen fanden bald Gefallen aneinander, durch gleiche Neigung und ein ähnliches Schicksal schnell vertraut, als hätten sie sich lange schon gekannt. Sie schwatzten verliebten Schnickschnack und später tanzten sie zusammen, bis das Mädchen müde wurde. Dann suchten sie eine Scheune vor der Stadtmauer auf, teils zum Schutz vor dem scharfen Wind, teils auch, weil .sie allein sein wollten. Sie fanden das Tor offen, traten ohne Besinnen ein, kauerten sich, einem innern Befehl gehorchend, auf den Boden nieder und zündeten gemeinsam die Kerze an. Über das zitternde Flämmchen, das den Raum nur im engsten Kreis erhellte, staunten sie sich lange unverwandt aus glänzenden Augen an. Dann rückten sie näher zusammen und begannen sich unbeholfen zu liebkosen, wie Kinder, welche die Welt ertasten wollen. Als sie sich aber küssten, trat aus dem Schatten des Heustockes eine knochige Gestalt mit Schlapphut, Reitermantel und Soldatenstiefeln in das aufzuckende Licht und gebot gebieterisch Einhalt. Die jungen Leutchen meinten, es sei der Landjäger und wichen zurück. Jedoch der Uralte grinste sie aus klaffenden Kiefern an und sagte: «Willkommen, lieber Patensohn, und sei bedankt, dass du mir mitgebracht



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hast, was mir gehört.» Der Jüngling erschrak zuerst, doch dann frohlockte er:

«Nachdem du, grossmächtiger Tod, mein Pate bist, wünsche ich mir zu meinem Geburtstag, dass du das Mädchen frei gibst; suche dir an seiner Statt ein anderes aus.» Der Pate schüttelte das Haupt: «Ich kann nicht wählen, sondern ich muss greifen, wem die Stunde schlägt.» Damit berührte er das Mädchen, sodass es hintenüber in tiefen Schlaf verfiel. Der Jüngling gab aber nicht nach und trotzte auf: «Nun hast du deine verdammte Pflicht getan, mir aber ist immer noch ein Wunsch versprochen: So gib mir denn lebendig zurück, was mir das Liebste auf der Erde ist.» «Ich kann nur Leben nehmen, aber keines geben», murmelte der Tod, «schick dich darein.» «Dann lass mich wenigstens auch zu dieser Stunde sterben», forderte der Jüngling, «damit wir im Grab vereinigt sind.» Doch der Tod weigerte sich wiederum: «Dein Leben ist mir erst verfallen, wenn die Zeit vollendet ist, also will es das Gesetz.» «Dein Gesetz will nicht, dass mir ein einziger Wunsch erfüllt wird», höhnte der Jüngling, «du hast mich belogen und betrogen, du dürre Lieblosigkeit. Das sollst du mir büssen. Jetzt zerbreche ich dein Gesetz und mache mich selber frei!» Alsdann umfasste er den Tod jugendstarken Armen, stiess die Kerze in das Heu und jauchzte: «Tanze, Tod, tanz!» Das Flämmchen flackerte auf, wuchs zur Flamme und zur prasselnden Feuersbrunst. «Lass los, du Narr», keuchte der Tod, «mich kann das Feuer nicht verderben, dich aber frisst es auf.» Jedoch, der Jüngling hörte gar nicht hin, sondern lachte ingrimmig: «In der Kälte geboren, bei den Lauen aufgewachsen und jetzt ohne Liebe in der Glut vergehen, wahrlich, wer den Tod zum Paten hat, wird nie des Lebens froh. Komm, wir wollen es verkürzen.» Damit zwang er den Paten, der sich verzweifelt wehrte, zu einem schauerlichen Totentanz, bei dem das junge Leben den Schritt anschlug, ungestüm die Tenne auf- und niederstampfte oder rasend rundherum, sodass der Reitermantel und die Mönchskutte aufwirbelten, sich verfolgten und schliesslich zusammenfallend sich vereinten und zu einzigen, lodernden Fackel wurden.

Weil ein heftiger Wind wehte, brannte die Scheune, bevor aus dem närrischen Städtchen Hilfe kam, bis auf die Grundmauern nieder. Beim Aufräumen fand man unter der Asche zwei verkohlte Gerippe, von denen niemand wusste, wem sie gehörten. Man bestattete sie daher in der gleichen Grube, in jenem verlorenen Friedhofswinkel, wo die vergessenen Gräber der Namenlosen liegen, wo aber auch die Massliebchen, , wie nirgends sonst, strahlend blühen und die Honigbienen besonders emsig summen.

Der Jüngling jedoch fand keine Ruhe, weil er sein Erdensein nicht zu Ende gelebt hatte. Er ist immer unterwegs bis zum letzten Tag, vom verschmähten Leben und von ungestillter Liebe umgetrieben, und er schürt den Aufruhr gegen eine verknöcherte Welt, wo Reichtum, Macht und Ruhm masslos wichtig sind, während Leben und Liebe wenig gelten.



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5. Der Tod und die beiden Totentänze

Endlich ist er uns «nah», der Tod nämlich, wobei sich dieser Stossseufzer nur auf seine Existenz im «Patengeschenk» bezieht. Als Knochenmann stolziert er gestiefelt und die klapprigen Glieder von einem alten Reitermantel umhüllt, durchs Land; einige Tage und Nächte noch und die Stimmung wird so frühlingshaft sein, wie sie in Gedichtform von Hans Wahl beschrieben worden ist:

Noch flöckelt Schnee vom Himmelsgrau
Und webt am weissen Winterschleier.
Schon flöckelt Föhngewölk im Blau
Und Krokus blühn wie Ostereier.
Die Winde wehen rauh und lau,
Aus Dunkelm steigen Erdensäfte,
Aus Hellem strömen Himmelskräfte
Und Knospen glänzen wie im Tau.

Trotz seiner nachlässigen Kleidung ist der Tod ein grosser Herr, die ausgedienten Soldatenstiefel und der verblichene Umhang verleihen ihm wie etwa bei einem General im Ruhestand eine militärische Aura und die steht ihm, dem Herrn der Schlachten, nicht schlecht zu Gesicht. Und, im Gegensatz zum General i .R. ist der Tod immer noch aktiv, ja, rastlos tätig wie seit ehedem. Gerade heute ist er unterwegs, um beim Fischerstädtchen seines Amtes zu walten. Es ist somit der vom dichtenden Zollbeamten Hans Wahl für sein Märchen ersonnene Tod wiederum wie schon im «memento mon» ein gewissenhafter Tod («gewissenhaft» gemeint im Sinne von «verlässlich»), ein loyaler Diener und Gefolgsmann seines Sean. Er vertritt die Obrigkeit und damit deren herrschende Ordnung: Nicht, dass er dabei zum gesichtslosen Vollstrecker, zum blossen Funktionär mutiert hätte. Dieser uralte Freund Hein liebt als grosser Mann beispielsweise immer noch den grossen Auftritt, das Bad in der Menge, wie es heutzutage formuliert wird. Oder wie ist das anders zu verstehen, wenn es bei Hans Wahl heisst:

...und der Tod tänzelte geziert hinterher (gemeint hinter dem Fasnachtsumzug)
und grüsste mit lässiger Gebärde seiner knöchernen Hand zu den Gaffern in den
Fenstern hinauf.

Hatte es da einer wirklich über Ewigkeiten hinweg nicht geschafft, sein Quäntchen an persönlicher Eitelkeit wegzuschmirgeln? Und wie ist es zu begreifen, dass der Tod, seelisch verhärtet und abgebrüht angesichts abertausenden Millionen von Kriegsopfern, Unfall- und Seuchentoten, plötzlich «ein ungewohntes Erbarmen» mit einem verlassenen Kind verspürt?



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Äusserlich ist der knochige Geselle aus dem «Patengeschenk» ein Tod der alten Schule, ein Uralter mit klaffenden Kiefern, der sich, wenn er die Menschen aufsucht, gerne der Skelettgestalt bedient und dabei als Bekleidung zerschlissene Uniformstücke bevorzugt. All diese Attribute wirken furchteinfiössend und verleihen dem Tod eine bedrohliche Autorität (beim Kerzenlicht in der dunklen Scheune halten ihn die jungen Leutchen zuerst für den Landjäger und weichen zurück). Wie hochfahrend der Tod sein kann, zeigt sein rüdes Benehmen auch gegenüber der höheren Geistlichkeit. Er will, dass das verlassene Kind im Kloster am Seeufer erzogen wird. Hans Wahl schreibt dazu:

Als sein Klopfen nicht erhört wurde, sprengte er das Tor mit einem Fusstritt,
wehte mit einem Schneeschauer an dem erschrockenen Pförtner vorbei,
hinein und geradewegs in die Klause des Abtes, der eben beim Vespern war.
Dort legte er das wimmernde Wesen zwischen Käseteller und Weinglas nieder
und befahl, dass es ungesäumt getauft werden müsse. Der Abt wagte keinen
Widerspruch und nahm die heilige Handlung vor.

Eine kantige Figur ist dieser Pate fürwahr, treu ergeben seinem Herrn, festgefügt bis starr (oder gar stur), was das Befolgen oder den Vollzug des Gesetzes angeht. Aber eben, trotz der unerschütterlichen Loyalität gegenüber seiner Obrigkeit (und diese ist bei ihm Gott, der Allmächtige höchstpersönlich) sind in der Brust des Todes zuweilen Regungen spürbar, die ihn selber beunruhigen müssten, denn sie verleiten offensichtlich zu einem Handeln aus Eigennutz; sie lenken ab vom Pfad der Tugend. Denn, so frägt man sich: Welcher Teufel hat denn den Tod geritten, sich an diesem Februartag noch an einem verruchten Fasnachtsumzug zu verlustieren, statt ohne Umschweife den Auftrag zu erfüllen, um hernach straks ins Schattenreich zurückzukehren und dort Pikettdienst zu leisten? Ja, dieser Tod ist, wie sein Kollege aus dem «memento mon» auch, sichtlich nicht ganz ohne jede Empfindung für offen zur Schau getragene weibliche Schönheit, sonst hätte er die junge Frau nicht in seine knochigen Arme geschlossen. So kam es zum ersten Totentanz in der Erzählung vom Paten und seinem Geschenk. Grandios erscheint mir, wie mein Vater dieses Geschehnis schildert; bildkräftig, spannungsgeladen und doch gezügelt, so wirkt seine Erzählweise:

Nach den Berichten war der Tod ein wundervoller Tänzer: Herrisch und zart
zugleich zwang er das Weib in seinen Schritt und die Musik in seinen Takt.
Er glitt dahin wie eine Welle, die am Strand aufläuft, dann wieder wirbelte
er am Ort, dass sein wehender Reitermantel mit den fliegenden Röcken seiner
Partnerin zu einem Kreisel rauschender Lebensfreude zusammenwuchs, oder
er stampfte mit den Stiefeln und klapperte mit den Knochenfingern wie mit
Kastagnetten.



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Und dann geschieht das Schreckliche: Die junge Frau erkennt, dass der leibhafte Tod ihr Tanzpartner ist und sinkt darob entseelt zu Boden. Unter den Fasnächtlern bricht Panik aus, sie fliehen in ihre Häuser. Wie aus einem schwarz-weissen Gespensterfilm entsprungen, so mutet die Bilderfolge an, mit der Hans Wahl das weitere Geschehen schildert:

In diesem Augenblick fuhr ein eisiger Windstoss durch das Tor, die
Häuserwände entlang, schwang die scherbelnden Fensterläden auf und zu,
entriss dem Tod den Schlapphut und rollte ihn wie das von einem
Leichenwagen abgesprungene Rad davon.
uns:
Im Hui war die Strasse menschenleer. Der Tod aber verneigte sich
würdevoll, wie ein Zirkuskünstler, der für seine Leistung Beifall heischt.
Indes, es blieb weitum still und selbst der Wind hielt seinen Atem an.

Ach, der Uralte: Wieder einmal schielt er, eitel wie er ist, für seine Darbietung nach Beifall! Beifall wofür? Seine Mission zum Städtchen ist doch misslungen. Er, der mächtige Tod, hat sich das Gesestz zum Handeln entreissen lassen durch eine junge Frau, denn sie hat ihn zum vorzeitigen Totentanz veranlasst und sie hat in seine «Kernkompetenz» eingegriffen, indem ihr zu Tode erschrockenes Herz den Zeitpunkt des Hinscheidens selber bestimmt hat. Dass der Uralte mit seinem Auftritt insgeheim doch unzufrieden ist, zeigt sich wohl darin, wie ruppig und ungehobelt seine Vorsprache beim Abt ausfallen wird. Allerdings hat der knöcherne Geselle, und das ist ihm hoch anzurechnen, das von der jungen Frau geborene Knäblein nicht im Stich gelassen; es drängt sich das vielgeschundene Wort von der «Ironie des Schicksals» auf, wenn man bedenkt, dass es wiederum das «Menschenbein» in der Brust des Todes war, das ihn Erbarmen mit dem verlassenen Kind verspüren, aber diesmal eine gute Tat vollbringen liess. Zu sehr soll der Tod aber doch nicht gelobt werden, denn er hat auch nur das getan, was rechtschaffene, korrekte Leute in solchen Fällen tun: das Kind einer vertrauenswürdigen Pflegeperson übergeben und, wenn es wie in casu die eigenen Mittel erlauben (Kindesvermögen ist nicht vorhanden), den Unterhalt sicherzustellen. Ein wenig mehr tut der Tod gleichwohl: Er lässt das Knäblein taufen, ernennt sich zu dessen Paten und gibt ihm zum zwanzigsten Geburtstag einen Wunsch frei, sei es Reichtum oder Macht oder Ruhm («Leben» und «Liebe» sich nicht in dieser Geschenkeauswahl). Das ist bezeichnend.

Für den militärisch angehauchten Tod sind Reichtum oder Macht oder Ruhm erstrebenswerte Güter, die auch einem tüchtigen Kerl aus der Kriegerkaste nicht einfach in den Schoss fallen, sondern mühsam erkämpft werden müssen. Weshalb nicht dem Patenkind den Weg zum Erwerb eines solchen Gutes freimachen? Das könnte durchaus die Überlegung eines Menschen mit Geschäftssinn sein. Andererseits ist der mächtige Tod vielleicht gar nicht imstande, Gaben wie Leben oder Liebe anzubieten, bleibt er aufs Töten beschränkt «Ultima latet» heisst es oft unter Sonnenuhren.

Viel schlimmer ist es dem Tod zwanzig Jahre später bei seinem zweiten Totentanz in der Erzählung «Das Patengeschenk» ergangen. Er hatte wiederum das Städtchen aufgesucht, wo er seines Amtes walten sollte. In einer Scheune stösst der Uralte auf seinen Patensohn, der sich mit einem Mädchen vergnügt, seiner ersten grossen Liebe. Es stellt sich bald heraus, dass es fatalerweise dieses Mädchen ist, dem die Stunde schlagen soll. Daraufhin wünscht sich der Jüngling zu seinem Geburtstag vom Tod, dass er seine Liebste freigebe und an deren Stelle ein anderes Mädchen auswählen solle. Der Pate bedauert, dies sei ihm nicht möglich und versetzt das Mädchen in tiefen Schlaf. Es kommt zwischen dem Tod und seinem Patensohn zu einem kurzen, aber heftigen Wortwechsel: Der Jüngling bringt weitere Geburtstagswünsche vor, wonach seine Liebste wieder lebendig werde oder er wenigstens auch in dieser Stunde sterben könne, damit sie im Grabe vereinigt seien. Und der Uralte muss seinem Patensohn alle Wünsche, aber auch alle,



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abschlagen; entweder fehlt es ihm, dem grossmächtigen Tod an der Macht zur Erfüllung oder das Gesetz will es anders so lauten sinngemäss die Erklärungen des Paten. Der Jüngling hat für diese faden Rechtfertigungsversuche nur Hohn übrig. Völlig ausser sich kündigt er dem Tod an, er werde dessen Gesetz brechen und sich selber freimachen. Alsdann packt er den Uralten und steckt mit einer zuvor angezündeten Kerze das Heu der Scheune in Brand, dazu «Tanze, Tod, tanz!» jauchzend. Und das Unvorstellbare geschieht:

Für kurze, aber entscheidende Augenblicke wachsen dem entfesselten, verzweifelten, selbstzerstörerischen jungen Menschen derartige Kräfte zu, dass es ihm gelingt, dem grossmächtigen Tod das Gesetz des Handelns zu entreissen und den eigenen Willen durchzusetzen, freilich, so stellt sich die Frage, um welchen Preis?

Hans Wahl hat dieses dramatische Geschehen in verdichteter, stets vorwärtsstrebender Sprache niedergeschrieben; seine Erzählweise macht den Atem stocken:

«Lass los, du Narr», keuchte der Tod, «mich kann das Feuer nicht verderben,
dich aber frisst es auf.» Jedoch, der Jüngling hörte gar nicht hin,
sondern lachte ingrimmig: «In der Kälte geboren, bei den Lauen aufgewachsen
und jetzt ohne Liebe in der Glut vergehen, wahrlich, wer den Tod zum Paten
hat, wird nie des Lebens froh. Komm, wir wollen es verkürzen.» Damit zwang
er den Paten, der sich verzweifelt wehrte, zu einem schauerlichen Totentanz,
bei dem das junge Leben den Schritt anschlug, ungestüm die Tenne auf-
und niederstampfte oder rasend rundherum, sodass der Reitermantel und die
Mönchskutte aufwirbelten, sich verfolgten und schliesslich zusammenfallend
sich vereinten und zu einer einzigen, lodernden Fackel wurden.

Das Fazit der mörderischen Auseinandersetzung? Es gibt keinen Sieger, es gibt nur Verlierer. Zwar ist der Uralte nicht im Feuer umgekommen wie sein Patensohn und dessen Liebste, was jedoch nicht viel besagen mag, ist doch einem Tod die Unsterblichkeit quasi von Berufs wegen immanent. Der Knochenmann aber hat bei diesem unseligen zweiten Totentanz nahezu alles verloren, was ihm lieb und teuer war. So hat ihm der Feuertod das Patenkind geraubt. Dieser Junge, der ihm auf schicksalshafte Weise auch bei einem Totentanz gleichsam zugefallen war und der sein Erbarmen wachgerufen hatte, stand ihm, dem von den Menschen gefürchteten und gemiedenen Tod, wahrscheinlich am nächsten. Der Verlust des Patensohnes musste den Uralten umso mehr treffen, als dieser unter seinen Augen geschah, gegen seinen verzweifelten Widerstand, aber und das machte die böse Sache wohl auch für den hartgesottenen Paten nahezu unerträglich dieser Verlust geschah mit Wissen und Wollen und vollstem Handlungseinsatz des Patensohnes selbst. im Vergleich dazu wogen die anderen Zeichen für die vom Tod erlittene Niederlage wohl weniger, wenn auch sie schmerzen mussten. Wiederum war ihm, dem mit hoheitlicher Gewalt ausgestatteten grossmächtigen Vertreter des Gesetzen, von einem ehemaligen Klosterschüler, einem Habenichts fürwahr, die Tatmacht aus den Händen gewunden worden. Dadurch war es ihm auch nicht mehr möglich, Zeit, Ort, Ursache und die näheren Umstände hinsichtlich des Versterbens der jungen Frau festzulegen; die Liebste des Patensohnes wurde, wie dieser, von den Flammen verzehrt.

Bis auf die feinsten Knöchelchen blamiert, so musste sich der gestrenge, uralte Vertreter von Gesetz und Ordnung vorgekommen sein, nachdem der revolutionäre Hitzkopf seine Gaben wie Reichtum oder Macht oder Ruhm allesamt verschmäht und statt dessen von Leben und Liebe gefaselt hatte.

Und dass es sich bei diesem Widersacher gerade um den eigenen Patensohn handelte, für dessen Fortkommen sich der Pate, wie seine Geschenkeauswahl zeigt, schon einiges erhofft haben mochte, macht



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alles nur noch schlimmer. «Armer Tod!» ist man geneigt, dem Bruder Hein aus dem «Patengeschenk» zuzurufen. Wer hätte das gedacht: Da tänzelt einer mit dem Gehaben eines grossen Herrn zu Beginn der Erzählung hinter dem Fasnachtszug einher und grüsst mit lässiger Gebärde die Gaffer in den Fenstern oben und dann die schmachvollen Abgänge nach den beiden Totentänzen (so darf man sich das wohl vorstellen, auch wenn der Verfasser darüber nichts schreibt).

Dass der Tod aus dem «Patengeschenk» zwischen den klapprigen Rippen irgendwo ein «Menschenbein» stecken hat, dieses Bild ist vielleicht gar nicht so schlecht. Im Gegensatz zu seinem Kollegen aus dem «memento mon» wirkt er dem Menschen gegenüber viel ähnlicher als jener, scheint er doch mit unseren Eigenschaften wie etwa Eitelkeit oder Habgier, Lebens- und Liebeslust, noch ganz gut ausgestattet zu sein.



***
Werner Bergengruen lässt seinen «Grosstyrannen», der sonst gelassen über den Dingen steht, mit einem Schauder an den Tod denken und in der Gerichtssitzung flüstern: «Es ist etwas Grauenhaftes, dass wir sterben müssen» (Der Grosstyrann und das Gericht, S. 256 unten)

Wer empfindet nicht in dunklen Stunden gleich? Wärs nicht «ein Ziel aufs innigste zu wünschen» dem Gevatter Tod, dem Uralten mit den klaffenden Kiefern», dem «Dürrbeinigen» und Co., zuweilen ein Schnippchen zu schlagen, ihnen (ein geringes) an zusätzlicher Lebensdauer abzugewinnen, so wie es im «Märchen vom alten, listigen Weiblein» berichtet wird («Der Kristallene Schlüssel», S.214 ff.). Ihm ist es gegen den Willen des Todes mit Witz und List an jedem Frühling gelungen, wie eine «schwarze Fliege» wieder aufzutauchen, mit seiner abgestellten Riesentasche den Verkehr auf den schmalen Fusssteigen unseres Schaffhausens zu stauen, um mit einer anderen «schwarzen Fliege» ein längeres Schwätzchen zu halten. Sollten wir nicht versuchen, es den «schwarzen Fliegen» gleichzutun, auch wenn dadurch der himmlische Kalender (ein wenig) umgestellt wird?

Haben wir andererseits, wenn die Lebensbilanzen nicht mehr aufgehen, wenn uns Gott nicht mehr zu hören scheint und sein Antlitz hinter Wolken verborgen bleibt, haben wir Mühseligen und Beladenen dann nicht auch das Recht erworben, mit einem letzten «Bocksprung» über die Grenzen, hinein «in jenes unentdeckte Land, aus dem kein Wanderer wiederkehrt», uns selbst «in Ruhstand zu setzen»? Aber ja doch, und lassen wir uns hierbei von erzkonservativen Kutten- oder Robenträgern der diesseitigen Welt nicht irremachen! - schliesslich haben wir uns mit unserem Entschluss zum vorzeitigen Ortswechsel bereits mit dem Gevatter Tod persönlich angelegt.



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Das gibt dem Tod aus der Märchenerzählung zwar etwas Vertrauliches, Kumpelhaftes, macht ihn aber auch anfälliger auf Versuchungen verschiedenster Art. Der Tod aus dem Spielfragment bemüht sich zwar auch um die Nähe zum Menschen (Ich bin Euch nah, bin immer da in allem, was das Leben gibt), singt er im Amsellied (vgl. S. 12f.). Gleichwohl scheint mir dieser Tod in der Regel auf etwas mehr Distanz zum Menschen bedacht zu sein (ausser er hat sich gerade mit einem aufmüpfigen «Reichen» herumzuschlagen). Mich dünkt, das Bild vom Tod als dem Engel mit den pflaumenblauen Flügeln und dessen Schicksal, wie von Hans Wahl anderswo beschrieben, sei auch gültig für den Bruder Hein des Spielfragments. So heisst es im Märchen «Der Orgelspieler»:
Er war der Einsame unter seinen Himmelsbrüdern und von jenen, die das
holde Leben liebten, wie ein fremder Stern gemieden. Wortkarg vollbrachte
er sein Werk, selten als Erlöser freudig aufgenommen, meistens als Verderber
hart geschmäht. (aus dem «kristallenen Schlüssel»; S. 174 oben)

Fest steht jedenfalls, dass aufgrund des völlig verschiedenen Verhaltens der beiden Tode im Spielfragment und im Märchen und des ebenso unterschiedlichen Verlaufes ihrer Totentänze unsere Schrift zu Recht mit «Variationen vom Totentanz» getauft worden ist.

WEITERE MASKEN FUR DEN TOD?

Hat Hans Wahl ausserhalb seiner Totentanz-Dichung wie dem «MEMENTO MORI» oder dem PATENGESCHENK u dem für eine Erzählung aufgebotenen Bruder Hein äusserlich ebenfalls eine spezifische Maske übergestülpt und ihn mit individuellen Charakterzügen ausgestattet? Urteilen Sie anhand zweier Portraits aus dem «Kristallenen Schlüssel» bitte selbst!

Da trifft man auf den hünenhaften Schuhmachermeister mit den schwarzen Augengläsen. Spezialist für Siebenmeilenstiefel und dem Blick für die Schönheiten dieser Welt. So preist er beispielsweise die heisse Zone mit den Worten: «Im Süden dehnt sich die Wüste, Sandwelle an Sandwelle, und die Zelte der Beduinen und die Buckel der Karawanentiere haben denselben gewölbten Schwung. In der Stille der strahlenden Sternennächte aber hört man die Gottheit singen.» Da hat einer, der wie der stets gelangweilte Reiche dem Besuch des Südens nur ein verdrossenes «Sand, nichts als Sand», abzugewinnen hat, bei diesem Tod bald einmal verspielt, zuletzt sogar sein unnützes Leben; er wird von dieser unerbittlichen und bärbeissigen Figur in die Grube gestossen und dort verscharrt mit den Worten: «Erde, nichts als Erde» («Bis ans Ende der Welt» in «Der kristallene Schlüssel», S. 104-108).

Ein ganz anderes Bild vom Tod als vom zwar altersgebeugten, aber immer noch kraftstrotzenden und ungemein selbstsicheren Schuhmachermeister zeichnet der Dichter mit dem «Orgelspieler»: Schon äusserlich denkt man an eine filigrane, leichtgewichtige und noble Erscheinung, gehört doch dieser Tod zur Gattung der Engel. Die schlanken Hände, vor allem aber die pflaumenblauen Flügel sowie die Liebe zur Musik zeugen von der himmlischen Herkunft dieses edlen Geschöpfes, das allerdings unter seiner Berufung zum Tod stark leidet (Ausgrenzung und Kritik, die bis zur harten Schmähung reicht, machen seinem empfindsamen Wesen zu schaffen, ein freudvoller Ausgleich zu den genannten Widrigkeiten bedeutet offenbar das Musizieren).

Mit dem «Orgelspieler» wird uns ein sehr menschlicher Tod präsentiert («Der Orgelspieler» in «Der kristallene Schlüssel» S. 173-175).



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6. Kulturelle Bezüge

Die Märchenerzählung «Das Patengeschenk» ist kulturgesättigt.

Mit eben der Empfindsamkeit eines Dichters, zugleich aber auch mit der Genauigkeit eines gewissenhaften Chronisten, so hat mein Vater den Diessenhofer Fischerumzug beschrieben, wie sich dieser Volksbrauch in den späteren Vierzigerjahren nach Ende des 2. Weltkrieges präsentiert hat (vgl. S. 40 ff.). Da nur wenig Bildmaterial von Fischer- und Bauernumzügen aus besagter Zeit existiert und schriftliche Berichte vergleichbarer Qualität m. W. gänzlich fehlen, so dokumentiert nur die Schilderung von Hans Wahl den damaligen Diessenhofer Volksbrauch in angemessener Weise.

Mein Vater hat sich mit dem «Patengeschenk» in eine beachtliche Reihe von Autoren gestellt, welche den Totentanz als Motiv ihres literarischen Schaffens im Versepos, Gedicht, Theaterstück, Kriminalroman oder sonst in einer Form behandelt haben. Berühmtestes Beispiel ist wohl die Ballade «Der Totentanz» von J. W. Goethe. Bei aller Tradition, die in die Totentanzerzählung meines Vaters eingeschmolzen ist, besticht sie durch einige Originalitäten: Nicht allzu oft wird man personelle Konstellationen antreffen, wonach die Initiative zum Totentanz nicht vom Knochenmann ausgeht, sondern von jungen Leutchen. Und wer hat schon davon erfahren, wie böse der Tod beim zweiten Totentanz «unter die Räder» gekommen ist?

Offensichtlich ist der Bezug vom «Patengeschenk» zum «Ackermann aus Böhmen» (auch «Der Ackermann und der Tod» genannt) von Johannes von Trepl, den man auch unter dem Namen Johannes von Saaz kennt. Das um 1400 verfasste Streit- und Trostgespräch beinhaltet einen ähnlichen Konfliktstoff wie das Märchen. In der spätmittelalterlichen Schrift stehen sich der Ackermann, dem seine junge, blühende Frau verstorben ist, und der Tod als Kontrahenten gegenüber; der Mensch beschuldigt den Tod ein «grimmiger tilger aller lande» zu sein, der seine Opfer mit grausamer Willkür auswähle. Dieser verteidigt zunächst seine Vorgehensweise und beginnt hernach über den Jammer und die Ohnmacht der Menschen zu spotten.



***
Da tritt Gott auf den Plan und fällt das Urteil, es gibt beiden Parteien recht und unrecht zugleich: Beide sind sie ja nur Knechte Gottes, beide haben das Gut auf das sie sich berufen (der Mensch auf sein Leben, der Tod auf seine Macht) von Gott, dem Herrn über Leben und Tod, bloss zu Lehen erhalten. Kapitel 34, das letzte des Werkes, ist ein lyrisches Gebet des Ackermannes, das er, einsichtig geworden, für seine zu Tode gekommene Frau spricht.

In aller Breite, in über 30 Kapiteln, manchmal garniert von wahren Schimpftiraden, haben Mensch und Tod ihre Argumente vorgetragen, sich dann aber respektvoll dem hoheitlichen Spruch unterzogen. Bei Hans Wahl dagegen ist der verbale Streit zwischen Pate und Patensohn kurz, wobei aus den meisterhaft zugespitzten Äusserungen der Kontrahenten jedoch ohne weiteres klar wird, welche existenziellen Güter, welche Lebensphilosophien im Streite stehen. Weshalb kam es dabei zu Totentanz und Flammentod? Wo war denn Gott zu diesem Zeitpunkt?

Die Annahme, der Verfasser des Märchens habe Gott kurzerhand in die Ecke gestellt, um so ungestört den tragischen Ausgang der Erzählung ansteuern zu können, greift zu kurz. Hans Wahl glaubte aber auch nicht, dass Gott tot oder ein Deus absconditus ist (also einer, der sich verborgen hält und den das Schicksal der Seinen nicht kümmert). So lässt er im «memento mon» den Tod gegenüber dem Narren bekräftigen: «Gott lebt ewiglich» (S. 17 f.). Auf der anderen Seite bewegte ihn angesichts der furchtbaren Ereignisse in der Zeit des Naziregimes, wie viele Menschen, und dies zeitlebens, «die Frage nach Gott», die sich bei ihm aber einengen lässt auf «die Suche nach Gott»; ich zitiere ein entsprechend betiteltes Gedicht:



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Suche

Es waren Flur und Feld
Im Nebel eingefangen,
So einsam war die Welt,
Mit starrem Reif behangen.
Es war die Seele voller Bangen,
Sie suchte nach dem Sternenlicht,
Und suchte Gott mit viel Verlangen,
Und fand ihn nicht.

Im Schrifttum meines Vaters sind häufig Engel, Teufel, Zwerge und auch Tode zu Gast, wobei es nicht immer gesittet her- und zugeht. Einer tritt indessen kaum je in Erscheinung, geschweige denn, dass er als tatkräftig Handelnder an Profil gewinnt: Der Allmächtige. Ich nehme an, bei meinem Vater war es die Scheu vor der Unfassbarkeit Gottes und dessen Handelns, die ihn veranlasst haben, allermeistens ohne ihn in seinen Erzählungen auszukommen, man kann es anstelle von «Scheu vor dem Unfassbaren» vielleicht auch «Ehrfurcht vor dem letzten Geheimnis» nennen. In meinen schwachen Erklärungsversuchen mag der Schluss aus der Erzählung «Das Märchen vom leeren Krug» mithelfen; er lautet:

Durch das sehnsuchtblaue Geäder der Wandung aber tönte lockend
und betörend in wundersamer Süsse das Lied der Ewigkeit.
Was weiter geschehen ist, gehört nicht in dieses Märchen. Es wird
einst unser tiefstes Wissen sein. («Der kristallene Schlüssel» S.50)



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Bereits im Märchen «Der Gevatter Tod», von den Brüdern Grimm in ihre Sammlung aufgenommen und bearbeitet, tritt der Tod als Pate («Gevatter») auf, wobei sich die Beziehung zum Patensohn ganz anders gestaltet als in der Erzählung von Hans Wahl. Als Patengeschenk erhält der Junge im Grimm-märchen vom «dürrbeinigen» Tod ein Kraut, mit dem Todkranke geheilt werden können. Allerdings darf dies nicht gegen den Willen des Gevatters geschehen. Wenn der Tod beim Kopf des Sterbenskranken steht, darf der Patensohn heilen, wenn sich der Gevatter bei den Füssen des Erkrankten aufhält, ist dem Jungen die Heilung untersagt. Zunächst geht alles gut. Der Patensohn befolgt die Auflagen des Todes und wird infolge seiner Hellsichtigkeit und seiner Heilerfolge zu einem berühmten Arzt. Dann tritt das Unheil ein. Der Patensohn widersetzt sich zweimal seinem Paten, indem er gegen dessen Willen seine Patienten, es sind dies der König und hernach die Tochter des Herrschers, anhebt und in ihren Betten kehrt, so dass der Gevatter ans Kopfende der Todgeweihten zu stehen kommt. Zwar ist der Arzt nach der ersten Widersetzlichkeit vom Tod gewarnt worden, bei einem zweiten Fall von Ungehorsam gehe es ihm selbst «an den Kragen», doch hat ihn die Liebe blind gemacht. So heisst es im Grimm-Märchen: «...aber die grosse Schönheit der Königstochter und das Glück, ihr Gemahl zu werden, betörten ihn so, dass er alle Gedanken in den Wind schlug.» So wurde er nicht gewahr, dass ihm der Pate zornig mit der Faust drohte.

Die Reaktion dieses «Gevatter Tod» auf den zweimaligen Ungehorsam seines Patensohnes ist fürchterlich: er bringt ihn tatsächlich um auf eine heimtückische Art und aus niedrigen Beweggründen, wie mir scheint. Als ihn nämlich sein Patensohn bittet, für ihn ein neues Lebenslicht anzuzünden, das dann weiterbrennen soll, wenn das alte, kleine verlösche, tut der Gevatter so, als ob er den Wunsch zu erfüllen gedenke. . «Weil er sich rächen wollte», so staht's im Grimm-märchen wörtlich, aus dem verwerflichen Motiv der Rache also, stellte er sich absichtlich ungeschickt an, so dass das Lichtlein des in seiner Hoffnung getäuschten und ums Leben geprellten Arztes erlöschen musste: eine hinterhältige Vorgehensweise fürwahr!

Im Märchen «Die falschen Töne», publiziert im Sammelband «Der kristallene Schlüssel», gerät eine Horde von Jungteufeln ausser Rand und Band. Sie setzt sich in den Kehlen des schaffhausischen Frauenchors «Cäcilienverein» fest: der auf Ostern geplante Auftritt der Sängerinnen im Münster scheint wegen ihrer bei den Gesangsproben abgelieferten Missklänge ins Wasser zu fallen. Der ausländische Held des Märchens bleibt aber unverzagt und hält sich an die Devise: «So muss man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben.» Wie er dabei nach der alten, strategischen Wahrheit wirklich verfahren ist, das bleibe vorderhand sein Geheimnis. hinter das die lieben Kinderlein noch früh genug kommen werden... Jedenfalls ist der Held der Erzählung nach der Heirat mit einer Hiesigen bis an sein Lebensende in Schaffhausen verblieben.



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Wenn ich das Verhalten des Grimmschen Todes dermassen anprangere, so ist damit in keiner Weise eine Schmälerung seines literarischen Ranges beabsichtigt. Auch mit seinen moralischen Defiziten bleibt dieser grimmige Vollstrecker, gerade wegen seiner unverbildeten Härte und Gradlinigkeit in Fragen des Gehorsams, eine wahrhaft imposante Figur, bei der man weiss, woran man ist. Zumindest erweckt das kurzangebundene Gebaren diesen Eindruck. Vielleicht aber täuscht gerade diese vordergründige Rechtschaffenheit bei diesem Grimmschen Gevatter Tod darüber hinweg, dass ihm der Wechsel von der Richtschnur zum Henkerstrick erschreckend leicht fällt...

Man mag mir ankreiden, ich hätte bei meinem harschen Verdikt über diesen grandiosen Gesellen offensichtlich neuere Erkenntnisse in der Wissenschaft vom Volksmärchen ausser Acht gelassen, so etwa dessen Wesensmerkmale, wie «Eindimensionalität» oder «Flächenhaftigkeit» u .a .m. (vgl. Max Lüthi, Das europäische Volksmärchen, Bern 1978, 5 .8 ff.). Denn demgemäss müsste auch der Grimmsche Gevatter Tod als «flächenhafte Figur» und ohne «lebendige Innenwelt» auftreten (Zitate nach Lüthi, a .a .0. S. 16). Eingespannt in das Korsett seiner Literaturgattung könnte, ja dürfte selbstverständlich auch dieser Vertreter des Volksmärchens im Verlaufe des Geschehens keinerlei Einsicht entwickeln, ja, überhaupt keine charakterliche Veränderung aufweisen. 5el '5 drum! Mich, als Leser im 21. Jahrhundert, beschäftigt unbeschadet der wissenschaftlichen Erkenntnissen einer mit fremdem Fakultät vor allem die Frage nach den unterschiedlichen Gesichtern des Todes; hat er wirklich «viele Masken»? Beim Vergleich zwischen dem «dürrbeinigen» Gevatter Tod aus dem Grimm-Märchen und dem «Uralten mit den klaffenden Kiefern» aus dem «Patengeschenk» hat der Letztere auch bei Widersetzlichkeiten lange nicht so rigoros und rachsüchtig gehandelt, wie der bis in die letze Faser unerbittliche «Gevatter». Der von Hans Wahl geschaffene «Diessenhofer Tod» geht schliesslich nach unzähligen, siegreichen Vollstreckungen für einmal als ohnmächtiger Verlierer von der Bühne, wobei die zeitweilige Machteinbusse vielleicht aufgewogen wird durch das Etwas an Menschlichkeit, das er an den Tag gelegt hat? Oder schätzen wir Menschen denn nicht jenen Bruder Hein am meisten, dem die Frage gilt: «Tod, wo ist dein Stachel?»

Ist die Annahme nicht einleuchtend, dass ein christlicher Gott, der im Geist und nach dem Sinn des zweiten Testaments waltet, den «Mitarbeiter im Vollzug» nicht wegen einer eher geringfügigen Unterlassungssünde rücksichtslos aus Amt und Würden verstösst, dass dem Vollstrecker somit sicherlich ein gewisser Ermessensspielraum offensteht, innerhalb dessen er seinen Patensohn, den jungen, verliebten Arzt begnadigen könnte, ohne gleich für sich selber das Allerschlimmste befürchten zu müssen?

Ist es andererseits von diesem Grimmschen Gevatter Tod nicht ein arges Stück, dem ahnungslosen Patenkind ein Geschenk mit derartig zwiespältigen Auflagen zuteil werden zu lassen, die den künftigen Arzt unweigerlich mit seinem hippokratischen Eid und seiner Berufsethik in Konflikt bringen werden? Und, und, und.. ,In meinem Kopf sammeln sich Argumente für das Verhalten des jungen Arztes wie diejenigen gegen das Gebaren des «dürrbeinigen» Todes; ich fühle mich unversehens in der Nähe jenes böhmischen Ackermannes des Johannes von Saaz, der gegen die skrupellose und ungerechtfertigte Machtausübung des Sensenmannes gewettert hatte (ein «grimmiger tilger aller lande» sei er, der seine Opfer mit grausamer Willkür auswähle). Ist meine Folgerung zutreffend, dass der Grimmsche Gevatter Tod zwar ein literarisches Monument allerersten Ranges ist- aber wie etwa Shakespeares Richard III. oder auch der Hagen aus Wagners Götterdämmerung das krasse Gegenbeispiel zu einem gesalbten Kirchenheiligen bildet?

Oder sollte einer wie ich, der, auf der Erde stehend, nicht aufreicht, «nur mit der Eiche oder der Rebe sich zu vergleichen», sollte so einer nicht gescheiter alle Mutmassungen fahren lassen und sich demütig vor der Erkenntnis «ultima latet» verneigen?

Man sehe es mir gütigst nach, wenn ich mich für den «Diessenhofer Tod» stark gemacht und dagegen das Verhalten des «Gevatters» aus dem Märchen der Brüder Grimm missbilligt habe; nebst der nicht unterdrückbaren Sympathie für den vom eigenen Vater charakterisierten und von mir mehrfach zeichnerisch



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festgehaltenen Tod, mag auch eine Rolle spielen, dass ich immer noch manches durch die Brille eines ehemaligen Strafverteidigers sehe, der in seiner Tätigkeit gar nicht unparteiisch sein durfte oder konnte. Da tun sich die Literaturhistoriker schon von ihrer Aufgabenstellung her mit der Objektivität leichter als unsereiner...

Immer dann, wenn ich im «Patengeschenk» zur Stelle gelange, wo sich der Jüngling und sein Mädchen vom Fasnachtstreiben zurückziehen und eine Scheune vor der Stadtmauer aufsuchen, um alleine, sich aber nahe zu sein, immer dann kommen mir die beiden jungen Leutchen aus Gottfried Kellers Novelle «Romeo und Julia auf dem Dorfe» in den Sinn. Auch Sali und Vrenchen haben miteinander getanzt und sich vergnügt, zwar nicht an der Fasnacht im Städtchen, sondern an einer Kirchweih im Dorfe. Auch ihr gemeinsames Glücklichsein wird nicht lange dauern; sie werden bald zu Tode kommen, zwar nicht in dem vom Patensohn bewusst entfachten heissen Feuer, sondern «im kühlen Wasser», in das sie sich, eng umwunden, hineingleiten lassen.

Es ist eine ähnliche Welt, die ihr Verhalten als «Zeichen von der um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften» missbilligen wird, eine ähnlich «verknöcherte Welt», wie auch Hans Wahl schreibt, «wo Reichtum, Macht und Ruhm masslos wichtig sind, während Leben und Liebe wenig gelten.»

Der Tod freilich, der wird in Kellers Novelle eine andere Deutung erfahren, als der linientreue Uralte im Märchen: Wenn man die nicht unumstrittene Auffassung übernehmen will, wonach die Figur des schwarzen Geigers in der Novelle allegorisch für den Tod stehe, dann überrascht die Empfehlung, die dieser Bruder Hein für Sali und Vrenchen anzugeben hat, beträchtlich. «Lasst fahren die Welt und nehmet euch und fraget niemanden was nach!», so lautet der revolutionäre Ratschlag. Darob wird sich der Tod des «Patengeschenkes» dereinst im Grab umdrehen!

Der zweitletzte Absatz aus dem «Patengeschenk» bildet wohl kaum einen echten literarischen Bezug zur fünften Strophe des Gedichtes «Der Feuerreiter» von Eduard Mörike. Aber wenn ich bei meinem Vater lese, dass man, nachdem die Scheune «bis auf die Grundmauern» niedergebrannt war, «beim Aufräumen... unter der Asche zwei verkohlte Gerippe» gefunden hat, entsteht bei mir jeweils sofort eine Assoziation zum Wortlaut der Ballade, wo es heisst:

Nach der Zeit ein Müller fand
Ein Gerippe samt der Mützen
Aufrecht an der Kellerwand
Auf der beinern Mähre sitzen:
Feuerreiter, wie so kühle
Reitest du in deinem Grab!
Husch! da fällt's in Asche ab.

Zweimal dasselbe schreckliche Ende von jungen Leuten im Feuer, zweimal nur noch Gerippe und Asche, dem Feuerreiter gönnt man indes Ruhe, dort wo er umgekommen ist («Ruh wohl, Ruhe wohl Drunten in der Mühle!» so lautet der versöhnliche Wunsch). Viel härter trifft es den Patensohn; er findet keine Ruhe, weil er sein Erdendasein nicht zu Ende gelebt hatte. Er ist immer unterwegs bis zum letzten Tag.

Das ist doch ungerecht, nicht wahr? Im Geist vernehme ich, was der immer sehr sorgfältig abwägende Professor Karl Oftinger mit leiser, sensibler Stimme zu mir bemerken würde: «Wahl, kennen Sie sämtliche Berichte die beiden Vorfälle betreffend in allen Einzelheiten, haben Sie die jeweiligen Vorakten ad personam genau studiert, haben Sie mit allfälligen Auskunftspersonen oder Tatzeugen gesprochen... nicht? Weshalb gelangen Sie dann zum Schluss...?» - Recht hätte er, der Rechtslehrer.



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7. Befund

Das Kunstmärchen «Das Patengeschenk» zeigt den Märchendichter Hans Wahl auf einem Höhepunkt seines Schaffens. Er kann sich frei in seiner eigentlichen Domäne bewegen und voller Herzenslust mit Wort und Bild sein persönliches Spiel betreiben. Beim Besuch eines Fasnachtsfestes ist der Keim zur Totentanzgeschichte gelegt worden, in der weiteren Freizeit polierte der Zollbeamte an seinen Eindrücken und dazuwachsenden Einfällen herum, bis die das Geschehen sehr eigenwillig differenzierende Erzählung vollendet war.

Das Märchen wirkt, als hätte sich der Verfasser am Abend hingesetzt und es in einigen Nachtstunden ohne Korrekturvermerke fix und fertig niedergeschrieben. Der Eindruck «aus einem Guss» gestaltet worden zu sein, vermittelt sich zum einen durch die ungewöhnlich dichte Sprache, die zwar sehr bildkräftig, aber durch kein einziges überflüssiges Wort belastet ist. Die meisterliche Handhabung der Sprache zeigt sich sowohl bei der Wiedergabe einer hiesigen Februarlandschaft mit Föhnhimmel und «gluckernden Schmelzwässerchen» (mit ganz wenigen Farben und in knappen Formulierungen ersteht die Atmosphäre eines Vorfrühlingstages), wie auch bei der ausladenden, aus dem Vollen schöpfenden Schilderung eines Festumzuges, bis hin zu Berichten über dramatische Geschehnisse (wie etwa Totentänze mit Komplikationen) )- da drängt die Sprache nach vorwärts, nimmt den Charakter eines Rapports an, macht den Atem stocken.

Überhaupt keine Hemmungen verspürt mein Vater beim Einsatz von als altertümlich geltenden Stilmitteln: Der Stabreim wird bei ihm zum Zauberstab, womit er Frühlingsahnen schafft: «...in den Schattengründen schäumte der schmelzende Schnee», zuweilen verbreitet er damit Angst und Schrecken, wenn er den Uralten aus «klaffenden Kiefern» grinsen lässt, hie und da weitet er die Alliteration über ein Satzende hinaus (..:eröffnete ihm das Geheimnis seiner Geburt. Gleichzeitig gab er ihm kund, dass...»).



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Für das folgenschwere Wort des Todes: «Ich kann nur Leben nehmen, aber keines geben», hält Hans Wahl einen Binnenreim parat. Er wagt das Spiel mit der freien Sprache - und gewinnt dabei. Durch die Meisterschaft des Verfassers beginnt diese Sprache von der ersten Zeile an zu glänzen und zu leben, mit ihrer Hilfe werden Stimmungen geschaffen, die über die ganze Bandbreite von «mitreissend-schwungvoll bis schmerzlich-schön» all das abdecken, was menschliche Sinne empfinden können.

Das «Patengeschenk» zählt mit knapp fünf Buchseiten gewiss nicht zu den langen Märchen. Gleichwohl ist es mit dramatischen Ereignissen so gefüllt, dass es beinahe in den Nähten platzt. Schon früher habe ich darauf hingewiesen, dass es auch mit Kultur angereichert ist, dass literarische Bezüge auszumachen sind zu den schriftlichen Kunstwerken vom Totentanz im allgemeinen, im besonderen aber zum «Ackermann aus Böhmen», zum «Gevatter Tod)). zu «Romeo und Julia auf dem Dorfe» und vielleicht auch zum «Feuerreiter». Unbestritten ist der kulturelle Bezug zur Diessenhofer Fasnacht. Diese Kulturlastigkeit gibt der Erzählung meines Vaters vermehrte Tiefe, macht die Lektüre zwar anspruchsvoll aber auch anregend.

Die Häufung der dramatischen Ereignisse nach dem meisterhaften Vorfrühlingsbeschrieb und dem mit Behagen geschilderten Fischerumzug frappiert: Der erste, vom Tod nicht geplante Totentanz endet überraschend mit dem Hinscheiden einer Mutter und der Geburt ihres Söhnleins, gefolgt von der Flucht der Fasnächtler in ihre Häuser, es schliesst sich an die ungestüme Vorsprache des Todes beim Abt; vor dem zweiten Totentanz kommt es zu einem heftigen Wortwechsel zwischen Patensohn und Tod, der die Liebste des Jünglings in Todesschlaf versetzt. Hierauf zündet der Patensohn das Heu in der Scheune an und zwingt den Paten trotz dessen Widerstandes inmitten der Feuerbrunst zum nicht von diesem vorgesehenen Totentanz. Der Jüngling wird mit seiner Liebsten zusammen vom Feuer «aufgefressen», man findet nur noch ihre beiden Gerippe.

Der Tod erteilt dem Totenvogel Anweisungen. Wir erleben den «Totenvogel» bei Hans Wahl in der Erzählung «Zweierlei Eier» aus dem «Kristallenen Schlüssel». S. 32 f., als er im herbstlichen Weinberg reife Trauben schnäbelt. Er gleicht dabei einem Staren, «doch seine Augenhöhlen sind leer und lassen das Licht durchfallen.» Eine wissenschaftliche Bezeichnung habe ich für den Gefiederten, der in Ägypten «Benu» heisst, ausserhalb kryptozoologischer Benennungen, allerdings keine vorgefunden... Im Zweistromland gibt man ihm die Gestalt eines hochbeinigen, eleganten Reihervogels, teilweise als Chimäre mit einem Menschenkopf ausgestattet.



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Das geschieht auf wenigen Seiten, aber innerhalb eines Zeitraums von zwanzig Jahren. Es verwundert nicht, dass der Verfasser bei dieser Schlag-auf-Schlag-Folge dramatischer Ereignisse für lyrische Passagen kaum mehr Raum übrig hat. Dabei handelt es sich bei diesen gehäuften dramatischen Ereignissen ja grösstenteils um schicksalsschwere, tragische Geschehnisse und ihre Protagonisten sind tragische Figuren. Wir haben das bereits vom Tod so erfahren, rechnen aber auch seinen Patensohn zu dieser Kategorie. Wird dieser von Hans Wahl zunächst als eigentlich unsympathischer, da haltloser und selbstzerstörerischer junger Mensch bezeichnet, so findet der Dichter hernach für kurze Zeit ein Fenster, durch das man den Patensohn in einem anderen Licht sieht. In der kurzen Lebensspanne, die ihm zusammen mit dem Mädchen noch verbleibt, wird er zum unschuldigen Kind, das auf anrührende Weise zum ersten Mal das unendliche Feld der Liebe zum anderen Geschlecht betritt (auch das Mädchen begegnet diesem Wunder). Dann aber werden die jungen Liebesleute von der Macht ihres Schicksals eingeholt.

Aber es scheint mir charakteristisch für das Schaffen meines Vaters zu sein: Selbst dort wo das Verhängnis seinen Lauf nimmt, glimmt bei ihm irgendwo ein Fünklein Humor, keimt bei ihm irgendwann ein Quäntchen Hoffnung - so auch im «Patengeschenk». Wenn der Tod mit dem klagenden Kind den vespernden Abt aufsucht und ihm «das wimmernde Wesen zwischen Käseteller und Weinglas» niederlegt, dann entlockt dies dem Leser ein Schmunzeln, während dem Abt der Appetit vergehen wird.

Die Erzählung ((Das Patengeschenk» ist düster angelegt und nimmt ein bitteres Ende. Das ist bei Hans Wahl eher ungewöhnlich. Die sterblichen Überreste des Liebespaares hat man zwar bei den vergessenen Gräbern der Namenlosen bestattet, wo aber auch - und das zeigt wenigstens die Natur von ihrer versöhnlichen Seite - ((die Massliebchen, wie nirgends sonst, strahlend blühen und die Honigbienen besonders emsig summen. »

Meinen Vater jedoch scheint nichts mehr am Schreibtisch zu halten; er nimmt im letzten Absatz seiner Erzählung Partei für den unglücklichen Jüngling, der «den Aufruhr» schürt «gegen eine verknöcherte Welt, wo Reichtum, Macht und Ruhm masslos wichtig sind, während», und jetzt schmettert mir der Stabreim wie ein Fanfarenstoss ins Ohr: «Leben und Liebe wenig gelten. » Die Märchenerzählung «Das Patengeschenk» ist auch ein politisches Manifest.



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8. Nochmals mein Vater

Wann mein Vater das «Patengeschenk» zu Papier gebracht und an welchem Wochenende er es mir zum ersten Male in seiner getragenen Weise vorgelesen hat, weiss ich nicht mehr; es wird an einem. «freien» Samstagnachmittag gewesen sein, frei und noch nicht verplant infolge direktorialer Sonderwünsche. Die wechselnden Direktoren des Zollkreises hatten nämlich registriert, dass einer ihrer Beamten besonders gut zu schreiben verstand, und so wurde mein Vater gebeten, für dienstliche Konferenzen und gesellschaftliche Anlässe ein paar passende Worte zuhanden des überlasteten Vorgesetzten («Sie wissen ja, wie das so ist...») zu formulieren. So sind denn noch umfangreiche Notizen für einen Vortrag «Das Hauptzollamt im Durachtal» nebst einem historischen Rückblick oder die amüsante Dankesrede eines Zolldirektors für die Einladung ans Zürcher Sechseläutenfest in den Papieren meines Vaters auszumachen. - Nach einigen Anpassungsschwierigkeiten hatte sich Hans Wahl doch noch mit dem biblischen Berufsstand seines Vaters, eines Zollbeamten, angefreundet, wobei ihm «das Diebsbein in der Brust» gelegentlich zu schaffen machte. Mein Vater litt nämlich unter demselben mysteriösen Auswuchs zwischen den Rippen wie sein Dichterkollege Johann Peter Hebel (1760-1826). Die Diagnose für den Herrn Kirchenrat lässt mein Vater in seiner Kalendergeschichte «Der Pferdedieb» von keinem Berufeneren als dem Meisterdieb Zundelfrieder, dem literarischen Geschöpf des dichtenden Geistlichen also, aussprechen. So bemerkt der Zundelfrieder zu Johann Peter Hebel:

«Verzeiht den üblen Scherz, Herr Kirchenrat, ich
wollte Euch nicht kränken. Gewiss, Ihr seid kein Pferdedieb.
Und doch, wenn einer Geschichten erzählt, wie Ihr es
im Kalender tut, von Schelmen und von Schälken, dann
hat er selbst ein Diebsbein in der Brust. (S. 11)


***
Hans Wahl selber hat seit seinem Erstling «Der Unscheinheilige» die Schelmen und Schälke ins Herz geschlossen und von ihnen erzählt. Seine Sympathie zu den Aussenseitern und Benachteiligten, zu den Erfolgslosen und Armen dieser Welt mochte ihm in stockkonservativen Kreisen den Ruf eingetragen haben, es stecke ihm ein Diebsbein in der Brust oder er habe, wie der in einem seiner Geschichten auftretende Zöllner zwei Seelen in dieser Körperhöhlung (die eines Engels und die eines Strassenräubers). Das Bild vom Diebsbein in der Brust dürfte dabei auf meinen Vater, der ja niemals ein Ross geklaut hat (auch von Hebel sind keine strassen räuberischen Schandtaten überliefert), eher zutreffen.