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Hans Wahl


VARIATIONEN VOM TOTENTANZ


Mit ERINNERUNGEN AN HANS WAHL

Redigiert, kommentiert, illustriert und ediert von Hans Peter Wahl


HASE ALS TOTENTÄNZER HUND ALS SEELENFÜHRER

Der Hase ist ein häufiges Bildmotiv, in den verschiedenen Kulturen unterschiedliche Bedeutungen annimmt. Aus der Antike kommt die Deutung des Hasen als Sinnbild von Lebenskraft, Wiedergeburt und Auferstehung. Hier liegt die Wurzel für Darstellungen im Zusammenhang mit dem christlichen Osterfest. Es gibt aber auch das Bild des Angsthasen, Symbol für Furchtsamkeit und Feigheit. Dazu kommen seine Wachsamkeit und Schnelligkeit, was auch als Sinnbild für die rasch dahineilende Lebenszeit erscheint. In unserem Spiel ist der Hase - im Zusammenhang mit der Auferstehung -Metapher für Tod, Verwandlung, Übergang.



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b) Der Tod und der Soldat

Der Tod:
Soldat die Reihe ist an dir
Steh auf, meld ab, marschier
Der Soldat:
Wär gern geblieben, meiner Seel,
Indes Befehl ist mir Befehl
Soldatenliebchen kommst doch mit
Marschiere mit im Schritt und Tritt
Der Tod:
Das Liebchen muss dir untreu sein
Den letzten Schritt macht man allein
Der Soldat:
Leb wohl du Leben schön und reich
Der Tod spielt auf zum Zapfenstreich

c) Die Schöne, der Reiche und der Soldat

Die Schöne: Er ist so herrlich jung
Der Reiche: Und ich bin schrecklich reich.
Die Schöne: Er liebt mich.
Der Reiche: Ich zahle gut.
Der Soldat: bist so schön
Der Reiche: Du bist ein kluges Mädchen

d) Der Tod und die Schöne

Der Tod:
Schönlieb steh auf und lüpf das Bein
Jung Weib steh auf, tanz ganz allein
Ich denk ein Walzer muss es sein!
Die Schöne:
Ach pflück die Frucht, du lauter Tod
Erst wenn sie reif und rund und rot
Der Tod:
Ich greif dich nicht, ich rühr mich kaum
Die Frucht fällt selbst vorn grünen Baum
Die Schöne:
Mich fasst die Lust, ich muss mich drehn
Und flammend in der Flamme wehn

Beinahe vermeint man einer dienstlichen Unterredung zweier Militärpersonen verschiedenen Ranges beizuwohnen, so nüchtern wirkt der Dialog. Der Soldat scheint vom Typus her jenen Tausenden von jungen, unglückseligen Männern anzugehören, die sich zeitgenössischen Berichten zufolge bei Beginn des ersten Weltkrieges voll naiver Begeisterung und patriotischer Hochstimmung an die Front treiben liessen, um dort einen gar nicht heroischen Tod zu sterben. Ein in seiner gradlinigen Offenheit nicht unsympathischer, aber auch wenig nachdenklicher junger Mann, das ist unser Soldat fürwahr.

Mit einfachsten Strichen gelingt es Hans Wahl, die Dreierbeziehung zwischen zwei rivalisierenden Männern und einer Frau sowie die Wesenszüge dieser Menschen zu skizzieren. Im Nu erstehen vor unseren Augen der schwärmerische Jungsoldat, der nur seine Geldkatze heiligende Reiche, die sich verführerisch gebärdende Schöne, die sich aber auch nach Liebe sehnt. Die kargen Sätze lassen vermuten, dass der Verfasser bewusst den nach dem 2. Weltkrieg aufgekommenen «Lapidarstil» imitieren, wenn nicht gar parodieren wollte...

Weibliche Schönheit lässt auch den hartgesottenen Tod nicht unberührt: Die Sätze werden länger geschmeidiger bildkräftiger als zuvor Fast wird der Sensenmann zum Charmeur: «Ich denk ein Walzer muss es sein!» Die Galanterien fachen die Lebenslust der Schönen noch an.



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e) Der Tod singt fur die Menschen eine neue Weise (Amsellied)

Achtung Achtung
Wer Semmeln isst, wer schwarzes Brot
Wer glücklich scheint, wer voller Not
Horch auf, hör zu, hier spricht der Tod
Ich bin Westen und im Ost
Im Feuerschein, im Winterfrost
Ich bin Norden und im
Im Morgenrot, im Abendlied
Ich bin Euch nah, bin miner da
In allem was das Leben gibt.
Und spiel Euch auf was Euch beliebt
Leichte Musik, ganz leichte Musik

Es existieren vom nebenstehenden Gedicht drei Fassungen mit eher geringfügigen Abweichungen; die erste durchgestrichene Version erscheint hier in Faksimilie, die zweite in Maschinenschrift, der dritten habe ich den Nebentitel «Amsellied» entnommen.

Das sind nun freilich andere Töne, die hier der Tod anstimmt, als früher im harschen Prolog. Und auch vom nüchternen Kasernenhofton in der Unterredung mit dem Soldaten oder vom charmanten Galanterieton gegenüber Schönlieb ist aus den Versen des Amselliedes kaum etwas zu hören. Nicht dass dieser Tod seine Pflicht vergessen hätte: Streng erfolgt sein doppelter Ruf: «Achtung», womit er sich die Aufmerksamkeit für sein Lied verschafft. Es kündet von seiner nach wie vor weltweiten Präsenz und seiner steten Gegenwart in jedem Leben. Doch allmählich wachsen diesem Tod auch die Töne von der anderen Seite zu. Das zeigt schon die Wortwahl: Von «Feuerschein», von «Winterfrost», von «Morgenrot» und «Abendlied» wird da gesungen; «Ich bin Euch nah, bin immer da in allem, was das Leben gibt», so heisst es im Amsellied weiter. Eine Sehnsucht nach menschlicher Nähe scheint diesen
Bruder Hein zu begleiten, der vielleicht in Wirklichkeit gar ein Engel ist?

zu «memento mori» Der Titel «Amsellied» dürfte gar nicht so schlecht passen, deckt doch der melodienreiche Reviergesang des jungen Amselhahnes so manches an ähnlichen Empfindungen ab, wenn sich die Menschen auf die Botschaft des Todes einlassen. Was der Vogel selbst bei seinem Imponiergehaben genau fühlt, ist vorderhand sein Geheimnis...



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f) Der Auftritt des Narren

Narr tänzelt die Treppe herunter und trällert:
Zehn, neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier,
drei, zwei, eins - und Null. So, da bin ich
wieder unten, ganz unten, gewissermassen
auf dem Nullpunkt. Ich komm mir vor wie ein
Wetter frosch: Himel heiter - oben an der Leiter,
Aussicht auf Niederschlag - unten unter Tag.
Und jetzt beginnt das alte Spiel von neuem.
Oder sagt man, das neue Spiel beginnt von altem?
Ich weiss es nicht genau. Die Worte klappern
durcheinander und erhalten einen andern Sinn.
Es sei sinnlos, und ich ein Narr sagen die Festgefügten, die
keine Stirnen hören, und die ins
Dunkel schauen, ins Dunkel wo die vielen toten
Augen sind. Das Spiel beginnt. Wie es wohl
enden mag? Ende gut, alles gut. Alles gut,
Ende gut (lacht vor sich hin).
Das Spiel beginnt, zuerst mit der Stimme aus
dem Kasten. Soll ich sie hören,
soll ich sie meiden? Ach, es nützt mir doch nichts
Sie ist doch inner da, auch wenn sie schweigt.
Dreht den Radio an
Es genügt, es genügt.

Der Narr gibt mir in diesem Spielfragment bisher die grössten Rätsel auf. So scheint er am wenigsten in das Geschehen integriert iu sein: Er tänzelt eine Treppe herunter, wo ist das? In einem «Drinnen» oder in einem «Draussen»? Ist er ein Gefangener oder besitzt er seine Freiheit? Ist er nur Beobachter oder vermag er auch in das Geschehen einzugreifen? Der Narr gebraucht gerne Sprichwörter, die er dann umdreht, so dass sich ihr Sinn ins Gegenteil verkehrt. Weshalb tut er dies? Um zu beweisen, dass nichts Bestand hat auf dieser Welt? Ist der Narr ein Realist, Relativist, Nihilist oder gar ein (versteckter) Moralist? Ganz behaglich ist es ihm offenbar doch nicht angesichts des Dunkels, «wo die vielen toten Augen sind». Und was hat es mit «der Stimme aus dem Kasten» auf sich? Schliesslich eine Frage noch zur Redeweise des Narren: Warum befleissigt er sich jenes «Lapidarstils», den zwar sein Schöpfer auch ganz gut beherrscht, der aber doch nicht die eigentliche Sprache von Hans Wahl ist? Der geneigte Leser möge anerkennen, dass auch ein Sohn vor Kritik am Schrifttum des Vaters nicht scheut, wenn es ihn nicht überzeugt. Hier Auftritt des Narren lautet das Verdikt: Es genügt nicht.«Das Spiel beginnt. Wie es wohl enden mag? Ende gut, alles gut. Alles gut, Ende gut» (lacht vor sich hin).



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g) Der Narr begegnet Menschen und dem Tod

Der Narr:
Guten Tag mein reicher Herr.
Wie gehen die Geschäfte?
Der Reiche:
Es ist Krieg
der Narr:
Dann gehen sie gut, sehr gut.
(Wendet sich an die junge Schöne)
Guten Tag schöne Frau.
Was macht die Liebe?
(sie antwortet nicht).
Wie gehen die Geschäfte?
(sie schaut ihn ganz an, worauf
er sich schulter zuckend an den
nächsten Menschen wendet).
Geh schau, ein Soldat.
Was macht der Krieg?
Der Soldat:
Wir marschieren.
Der Narr:
Wohin?
Der Soldat:
Das weiss ich nicht.
Der Narr:
(Summt): Wir marschieren,
wir marschieren und wissen
nicht wohin.
(Wendet sich an die alte Frau)
Guten Tag Mütterchen.
Was macht der liebe Gott?
Man hört so wenig von ihm.
Ist er tot?
Der Tod:
Gott lebt ewiglich
Der Narr:
(ernsthaft) Gottlob.
Als ägyptische Felsentaube war sie bei der Sintflut Noahs Kundschafterin. Später wurde sie, nunmehr meistens weiss befiedert, zum weitverbreiteten Symbol des Heiligen Geistes. Als Hoffnungsträgerin erscheint mir die Taube wie der fliegerische Gegenpart zum Totenvogel (s. S. 62 f.).

Gegenüber seinem vorherigen, eher konturlosen Auftritt scheint der Narr bei den Begegnungen mit den Menschen doch wieder etwas an Statur zurückgewonnen zu haben. Zwar legt er mit seiner unverfrorenen Fragerei und den hämischen Kommentaren zu den eingeholten Antworten einen Zynismus an den Tag, der abstossend wirkt. Doch, und das ist ihm vielleicht zugute zu halten, diese Einstellung zur «Geschäftemacherei» ist heute gang und gäbe. Der geneigte Leser mag jetzt stirnrunzelnd feststellen, dass ich nach bester Juristen-(Un-) Art mit meiner Meinung laviere. Aber oft erweist sich die Maxime: «Qui dicit de uno, negat de altere» im Leben wie in der Literatur als zu eng..

Bemerkenswert ist jedenfalls was sich am Schluss der Begegnung des Narren mit den Menschen abspielt: Auf seine verfängliche Frage an die alte Frau, man höre so wenig vom lieben Gott ob er tot sei?, antwortet an ihrer Stelle der Tod mit den Worten: «Gott lebt. ewiglich. » Diese feste Botschaft aus berufenem Mund macht den sonst so geschwätzigen Narren kleinlaut; er vermag nur noch als Antwort zu stammeln: «Gottlob». Und diesmal meint es der Narr mit seiner Antwort ernst sehr ernst Ob er wohl doch ein (versteckter) Moralist ist? - Ob ich bei meinem Vater Abbitte tun muss?



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h) Die Ansprache des Narren zu den Menschen und zu sich selbst

Der Narr oben an der Treppe
Achtung, Achtung.
Das Spiel ist aus,
Geht nun nach Haus
Und spielet Eure Spiele,
Es gibt ja deren viele
Guten Abend Herrschaften oder guten
Morgen. Hier unten ist es dunkel,
wie in einem Grab. Gleich wird es hell
werden, wir sind also noch einmal gut
davongekommen, die halbe Stadt liegt in
Trümmern, aber das Haus steht,
unser Haus steht und das ist
schliesslich die Hauptsache für einen
Hausbewohner.
Endlich brennt' a.
Ein Kerzenstummelchen [?] nur,
aber wie [?]. Na, alles schon ausgeflogen?
Die Herrschaften hatten es aber eilig
wegzukommen [andere Version unleserlich]
Nun wird jeder wieder seinen Geschäften
nachgehen; Der Reiche rafft, die Schöne
liebt, der Soldat marschiert, das Kind
spielt und die Alte betet.
Und ich, was tu ich so ganz allein?
Ich rassle mit den Schlüsseln kling klang.
Ich schliesse die Türe auf und zu.
Die Tür fällt zu, die Tür geht auf,
das ist ein ganzer Lebenslauf. Ach was,
spielen wir Musik, leichte. Musik.
(Dreht den Apparat auf. Der Vorhang fällt)

Allmählich wird die Funktion des Narren im Spielfragment von Hans Wahl deutlicher. Zum einen agiert er wie ein Chronist des Geschehens: Wir erfahren durch ihn, dass das Totentanzspiel trotz einiger Anklänge an frühere Epochen in der Neuzeit stattfindet (Musikapparat und Radio beweisen es). Ja, die Zeit des Geschehens könnte wahrscheinlich noch näher eingegrenzt werden, sinniert doch der Narr darüber, wie die halbe Stadt in Trümmern liege und wie eilig es die Herrschaften mit dem Wegkommen gehabt hätten. Das erinnert stark an dramatische Vorkommnisse im Schaffhausen des zweiten Weltkrieges. Mein Vater hat die Bombardierung vom 1. April 1944 hautnah miterlebt.

Zum andern wirkt der Narr als eine Art von Spielleiter, der die Leute begrüsst, sie auf dem Laufenden hält und ihnen die Einkehr der Normalität ankündigt («Der Reiche rafft, die Schöne liebt, der Soldat marschiert, das Kind spielt und die Alte betet»).

Zum dritten schliesslich steht auch unserm Narren, wie allen Angehörigen seiner Zunft, das Privileg zu, Wahrheiten (oder Albernheiten) ungeschminkt (oder verschlüsselt) kundzutun. Zu welcher Kategorie gehört wohl die Sentenz: «Die Tür fällt zu, die Tür geht auf, das ist ein ganzer Lebenslauf.»? Immerhin erinnert das Bild von den beiden Pforten an das Geheimnis von Geborenwerden und Sterben, auch wenn es vom Narren nur beiläufig erwähnt wird. Vielleicht hat der Narr sogar einen Posten als Türsteher und Schlüsselbewahrer zu den Mysterien unseres Daseins inne. Dass er eventuell deswegen eine im Vergleich zum Reichen, zur Schönen, zum Kind usf. - verstärkte Psychologisierung erfahren hat, mag man ihm verzeihen; ich jedenfalls stehe dem Narren jetzt versöhnlicher gegenüber als bei seinem ersten Auftritt (auch wenn gewisse Rätsel ungelöst bleiben).Eine Wetterhexe bringt sich über der Munotstadt in Stellung; Es muss dies jedoch noch vor dem 13. April 1799 geschehen sein, denn die Grubenmannsche Brücke überspannt unversehrt den Rhein...



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Viel, viel schlimmer als das Gewitter, das im Märchen durch die Gassen tobte und Ziegel von den Dächern fegte, war es für die Schaffhauser einige Generationen später, als bei einem alliierten Bombenangriff auf ihre Stadt am 1. April 1944 zunächst 37 Menschen ums Leben kamen; die Zahl der Todesopfer sollte schliesslich auf 40 ansteigen. Noch sehe ich mich als Fünfjähriger an der Hand meiner Mutter von der Munotpromenade aus auf die heimgesuchte Altstadt blicken: zahlreiche Rauchschwaden verdüsterten die Sicht.

Glückliche Umstände hatten es verhindert, dass ich, wie sich das seit geraumer Zeit so eingespielt hatte, meine Mutter morgens beim Einkaufen in die Innenstadt begleitete, um hernach auf dem Bahnhof die «Tschitschibahnen», das waren die deutschen Züge mit ihren grossen Dampflokomotiven, bestaunen zu dürfen. Dann folgte regelmässig noch ein Besüchlein von Mutter und Kind beim Vater auf seinem Arbeitsplatz im obersten Stock des nahegelegenen Gebäudes der Zollkreisdirektion. Der Aufenthalt an diesen neuralgischen Pukten und zu den kritischen Zeiten kam jedoch ausnahmsweise gerade an diesem 1. April 1944 nicht zustande: meine sonst so unternehmungslustige und vitale «Momm» fühlte sich bereits nach dem Erwachen an diesem Schicksalstage so matt und abgespannt, dass sie beschloss, die Wohnung nicht zu verlassen.

Zum ersten Mal in meinen noch jungen Jahren hatte mich ein Zipfel seines dunklen Gewandes flüchtig berührt, ganz zufällig, ja ungewollt erschien dieser Kontakt zu sein; und gleichwohl war mir von nun an, zwar anfangs nur verwischt und schemenhaft, seine Gegenwart zur Gewissheit geworden. Heute sehe ich ihn deutlicher, und immer mehr gewinnt er an Konturen. Allmählich erschallt sein früher nur gewispertes, später dann geflüstertes: «Ich bin Euch nah, bin immer da, in allem was das Leben gibt», mit immer lauterer Stimme. Er spricht seine Verse zur Zeit in einem markanten Bariton, doch wirken diese Klänge immer noch so, als seien sie «draussen, vor der Tür» entstanden. Es dröhnt jenseitige Organ noch nicht so mächtig, dass es in der Runde alles übertönen könnte. Noch höre ich die Amsel singen, den Wind seufzen, das Jubelgeschrei der spielenden Kinder, noch...



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K. tanzt schlaftrunken

Hält ein, von Traum gepeinigt,

K. "Mir träumte von der grossen Not"
St. "Schau Kind, das schöne Morgenrot'

K. tanzt weiter

K. "Mir träumte von dem langen Krieg"
St. "Horch Kind, die Stille hat den Sieg"

K. tanzt weiter

K. "Mir träumt ich würd die Mutter sohn"
St. "Komm Kind, wir wollen zu ihr gehn"

K. tanzt weiter

K. "Mir träumt, von einem Rosenkranz"
St. "Tanz Kind mit mir; mein Kindlein, tanz"

K tanzt hinaus.

Wach auf mein Kind, ich tu dir kund;
Zum letzten Tänzlein schlug die Stund.



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i) Der Tod und das Kind

Der Tod:
Wach auf mein Kind, der Morgen glüht,
Blick, Röslein rot, bist bald verblüht
Das Kind:
Was weckst Du mich, derweil ich schlief
Der Tod:
Bald schläfst du wieder, lang und tief
Das Kind:
Ich möcht zu meiner Mutter gehn
Der Tod:
So tanze denn zum Wiedersehn
Das Kind:
Ich möchte auch das Püppchen mein
Der Tod:
Tanz Püppchen, tanz den Ringelreihn
Das Kind:
Mir ist w schwer und bang zumut
Der Tod:
Tanz, tanz dann wird's dir leicht und gut
Weit ist der Weg ins Paradeis
Blick hin [Rekonstruktion nicht endgültig]
mein Röslein welk und weiss.
Der Tod hatte regungslos zugeschaut, wie
der Musikant entwich. Jetzt ging' in seinen
nachtdunklen Augen ein sehnsüchtiges
Lächeln auf, das sein hartes Antlitz verschönte,
bis er ganz dem Engel glich,
der er wirklich und wahrhaftig war (Der
kristallene Schlüssel, S. 205).

Mit Feingefühl, ja geradezu fürsorglich, behandelt der Tod das Kind, das abzuholen sein Auftrag ist. Die Anrede «Röslein rot» hat sogar etwas Zärtliches an sich. Und auf die Wünsche des schlaftrunkenen, in seinem Schlummer gestörten Mädchens nach der Mutter und dem Püppchen, stellt der Tod sinngemäss ein Wiedersehen mit beiden in Aussicht. Man gewinnt den Eindruck, der Knochenmann bemühe sich, den noch jungen Erdengast ohne viel Aufhebens behutsam in die andere Welt zu führen.

Noch inniger wirkt die Beziehung zwischen Tod und Kind in der nebenstehenden, von Hans Wahl maschinenschriftlich angefertigten Version. Dem von Albträumen heimgesuchten Kind (es wird «von der grossen Not» und «von dem langen Krieg» gepeinigt) setzt der Tod zum Trost «das schöne Morgenrot» und den zuversichtlichen Satz: «Horch Kind, die Stille hat den Sieg», entgegen. Die somnambule Atmosphäre verdichtet sich noch durch die sparsamen szenischen Anweisungen wie: «K. tanzt schlaftrunken; Hält ein, vom Traum gepeinigt»; es folgt dreimal ein «K. tanzt weiter»; schliesslich heisst es noch: «K. tanzt hinaus». Und erst jetzt, da sich das Mädchen von ihm wegbewegt, erst jetzt getraut sich der Tod ihm nachzurufen, weshalb er es besucht: «Wach auf mein Kind, ich tu dir kund: Zum letzten Tänzlein schlug die Stund», so lautet die Botschaft.

Das ganze Geschehen ist, so scheint es mir, von einer leisen Traurigkeit und der Sehnsucht des Todes nach menschlicher Nähe erfüllt. Das Schlusszitat (links) aus dem Märchen meines Vaters «Der Musikant und der Tod» zeigt, worauf ich hinaus möchte:



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Auf, auf, du voller, feister Wanst
Und zeige wie du tanzen kannst!
Das nützt dir nichts, du reicher Klotz,
So Tanze jetzt, dem Geld zum Trotz
«Was schwatzest du, bin ich am End
ein Bettler bloss, mit leeren Händ?»



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k) Der Tod und der Reiche

Der Tod:
Auf, reicher Mann, ruck deinen Wanst
Und zeige wie du tanzen kannst
Der Reiche:
Das Tanzen macht mir arge Müh,
Was kost die Schmier, ich zahle sie!
Der Tod:
Du armer Mann du hast kein Geld
Das gültig wär in meiner Welt.
Der Reiche:
Was schwatzest du, bin ich am End
Ein Bettler bloss, mit leeren Händ?
Der Tod:
Ein Bettler bist du, ein Popanz
Doch betteln nützt nicht, deshalb tanz
Der Reiche:
So tanz ich denn und schwitz und schnauf
Mich deucht die Hölle tut sich auf.

Wer glaubt, der Tode habe nunmehr seinen Biss eingebüsst, der täuscht sich. Es kommt eben auf das Gegenüber an, mit dem es der Knochenmann zu tun hat. Da wird der Reiche, der nur seine Geldkatze heiligt, grob angefahren: «Auf, reicher Mann, ruck deinen Wanst...». Und wenn der Reiche, um dem Ungemach zu entgehen, zum Hilfsmittel seiner Zunft greift und grossspurig erklärt: «Was kost die Schmier, ich zahle sie!», dann wird seine Offerte abgeschmettert, und der Tod schleudert seinem Widersacher die für diesen und seinesgleichen schlimmste Demütigung entgegen: «Du armer Mann du hast kein Geld das gültig wär in meiner Welt.»

Ebenso derb und voller Verachtung behandelt der Tod nebenstehend den reichen Mann; die von meinem Vater bereits maschinenschriftlich ausgefertigten vier Zeilen orientieren sich, wie die handschriftlichen Verse, an barocken Vorbildern wie bei jenen sind die scharf umrissenen Protagonisten noch nicht psychologisiert, ist die Sprache deutlich und saftig.



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l) Der Tod und die Alte

Der Tod:
Du alter, müder Knochenhauf
Auch du musst tanzen, raff dich auf!
Die Alte:
Ich kenne nur den einen Herrn,
Wenn er es will, dann tu ich's gern
Der Tod:
Dem einen Herrn dien auch ich
Seit Anbeginn und ewiglich
Die Alte:
So nimm denn meine Hände
Und führe mich
Der Tod:
Die Nacht an ihrer Wende
Den Tag gebiert
O selig wenn das Ende
Zum Anfang wird

Ja, der Tod bei Hans Wahl hat wahrlich dazugelernt. Er beherrscht nun die ganze Palette der Kontaktnahmen zu den armen Seelen von der barschen und ruppigen Aufforderung zum (Toten-)tanz an die Adresse des schwergewichtigen Reichen bis zur beinahe zärtlichen Bitte desselben Inhalts, gerichtet indessen an das traumbefangene Kind. Für das alte Weiblein verwendet er angesichts des hinfälligen Äussern die burschikose, aber keineswegs böse gemeinte Titulierung: «Du alter, müder Knochenhauf!» Und das greise Mütterchen nimmt denn auch dem Sensenmann die ungehobelte Anrede nicht übel; es gehört ja zu den «listigen, alten Weiblein» und weiss daher, dass Gevatter Tod, wenn überhaupt, dann nicht mit offenem Trotz, sondern nur durch pfiffig Schläue, an seinem Vorhaben gehindert werden kann. Ausserdem sieht es als gottesfürchtige und glaubensstarke Seele den Allmächtigen höchstpersönlich an seiner Seite und braucht daher weder Teufel noch Tod zu fürchten. Treuherzig und mit grosser Zuversicht weist es den Tod sachte auf die wahre Hierarchie unter den biblischen Obrigkeiten und himmlischen Mächten hin, wenn es dartut, dass es «nur den einen Herrn» kenne und nur auf dessen Veranlassung handle (das aber «gern»). Und der Tod, nicht nur Würger und Schlachtenlenker, sondern auch zum Diplomaten geworden (vielleicht war er es schon immer), antwortet beflissen, dass er diesem «einen Herrn» ebenfalls diene, «seit Anbeginn und ewiglich». Die Alte dagegen, vielleicht doch eingeschüchtert durch das etwas feierlich anmutende Bekenntnis des Todes zum Allmächtigen, vertraut auf die trostspendenden Verse von Julie Hausmann «So nimm denn meine Hände...». Aber auch der Tod findet zum Abschluss dieses Dialoges mit der Alten gehaltvolle und wohlklingende Formulierungen, sie seien nochmals wiederholt:

«Die Nacht an ihrer Wende
Den Tag gebiert.
O selig wem das Ende
Zum Anfang wird.»



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m) Der Tod singt sein Schlusslied

Das Spiel ist aus, doch wer da wähnt
Die Bühne bleibe leer
Und wer im Dunkeln heimlich gähnt
Ist morgen schon Akteur.
Und wer da meint er sei gefeit
Im Dunkel rundumher,
Der wisse, dass zu jeder Zeit
Sein Herz ich schlagen hör.
Das Spiel ist aus, das Spiel fängt an
Die Bühne bleibt nie leer
Wer heute noch zuschauen kann
Ist morgen schon Akteur
Das Spiel fängt an, bald ist es aus
Und Dunkel rundumher
Wie ich dunklen Leidenhaus
Die Herzen schlagen hör!
Ich horch auf ihre Melodie
Und kommt der letzte Akt im Stück
Dann spiel ich sie, dann tanzt ihr sie
Dann tanzt ihr nach der eigenen Musik
Tanzt, Tanzt!
Ich horch auf ihre Melodie
Und kommt der letzte Akt Stück
Verschwebend wie ein Augenblick
Dann spiel ich sie, dann tanzt ihr sie
Tanzt nach der eigenen Musik
Nach leichter Musik
Tanzt! Tanzt!

Natürlich kann der Tod nicht aus seiner Haut heraus (ungeachtet des Umstandes, dass ja sein Skelett i.d.R. von einer solchen gar nicht schützend umfangen wird). Nein, ich will nur sagen, dass dieser Tod, so wie ihn Hans Wahl gestaltet hat, auch am Schluss des Spielfragmentes seine Arbeit diszipliniert und getreulich verrichtet. Dieser Bruder Hein gehört nicht zu den Aufmüpfigen, die, wie der grosse Widersacher, der gefallene Engel, mit ihrem Los hadern und im Verborgenen auf einen Umsturz hinarbeiten. Nein, der Tod bekennt sogar gegenüber dem armseligsten und geringsten alten Weiblein: «Dem einen Herrn dien auch ich seit Anbeginn und ewiglich» (vgl. S. 25). Dieser Knochenmann beharrt jedenfalls (auch wenn er sich zeitweise freundlicher geben mag), auf seiner weltweiten Mission: «Ich horch auf ihre Melodie», und: «...der wisse, dass zu jeder Zeit sein Herz ich schlagen hör.» Wer aber «morgen schon Akteur» sein kann, der ist wahrlich gut berufen, das dem Spielfragment vorangestellte MEMENTO MORI ernstzunehmen.

Eine Handvoll mehr oder weniger voneinander abweichender Versionen des Schlussliedes hat mein Vater geschrieben; ich präsentiere dem Leser deren fünf. Wo es Form und Inhalt zulassen, bemüht sich Hans Wahl um originelle Bilder, gefasst in eine gültige Sprache; ich weise auf zwei Beispiele hin:

«Und wer im Dunkeln heimlich gähnt ist morgen schon Akteur»; «Und kommt der letzte Akt im Stück verschwebend wie ein Augenblick...».
«Wer das Evangelium im Herzen trägt, braucht den Tod nicht fürchten»



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4. Befund

Das memento mon von Hans Wahl kommt mit einer «kleinen Besetzung» aus, mit vier männlichen Figuren (der Tod, der Narr, der Soldat, der Reiche) und drei weiblichen (die Schöne, die Alte und das Kind). Die Auftritte der Personen sind meistens kurz gehalten, die Fragen, die sich in einem Totentanzspiel stellen, werden bündig abgehandelt. Szenische Anweisungen finden sich kaum. die Sprechtexte aller Figuren aneinandergereiht, ergeben eine Aufführungsdauer von knapp einer Viertelstunde. Das alles spricht dafür, dass mein Vater bei der Niederschrift der Monologe und Dialoge nicht an eine Bühnenaufführung, sondern (wenn überhaupt) nur an eine Hörspielwiedergabe gedacht hat. Dafür spricht auch ein rätselhafter Umstand, den aber Rainer Stöckli zu erklären weiss: Bei wenigen Texten tritt zwar unbestrittenermassen der Tod als Gesprächspartner auf, aber nicht unter dem gewohnten Kürzel «T», sondern unter den beiden Buchstaben «St.». Stöckli glaubt, der Verfasser habe dabei den Begriff «Stimme» im Sinne gehabt und deswegen den Tod nicht wie auf der Bühne üblich in personalisierter Form, sondern, dem Hörspiel gemäss, als akustische Erscheinung präsentieren wollen.

Zugegeben, das memento mori weist noch den Charakter des Unfertigen auf, es ist wirklich das FRAGMNT eines Spiels vom Totentanz. Gar manches bedürfte noch der Ergänzung, der Verbesserung. Die einzelnen «Akte» müssten noch logisch verzahnt, ihre Reihenfolge überdacht werden (ist es sinnvoll, wenn der Narr in drei längeren Auftritten hintereinander das Geschehen beherrscht?). Hans Wahl hat sich aber nicht dazu entschlossen, das Totentanzspiel fertigzustellen; es liegt nur als Fragment vor. Ob wohl die erfolgreiche Arbeit am Legendenkranz «Der Unscheinheilige», der etwa zeitgleich entstand, den Dichter veranlasst hat, die Bemühungen um ein memento mori einzustellen ich weiss es nicht. Fest steht, dass mein Vater seine schriftstellerischen Talente, das sind seine «übermütige Erfindungslust» (Basler Nachrichten vom 3.12.1944), «die unerhörte Meisterschaft des Schilderns» (Neue Berner Zeitung vom 10.12.1944) sowie Wohlklang und Musikalität seiner reichen Sprache (so mehrfach Alfred Richli, Fritz Senft, Karl Kuprecht u a. vgl. III. Anhang, S. 75, 78-80), besser in einem Schelmenroman als bei einem memento mori zur Geltung bringen konnte: Die erste dieser beiden literarischen Gattungen ermöglichte es ihm, die Handlungsfäden nach eigenem Gusto zu spinnen, Melodie und Rhythmus der Sprache selber zu gestalten; in dieser Hinsicht war man wohl bei einem Totentanzspiel viel eher in einem Korsett von Traditionen eingeschnürt...

Man soll indessen das memento mori nicht gering schätzen, sondern beim Namen nehmen, d.h. dem Tod nochmals zuhören. Mich beeindruckt dabei die Wandlungsfähigkeit des knochigen Gesellen am meisten: Für jede der armen Seelen findet er den jeweils angemessenen Ton, wobei manch klingende Wortfolge entsteht. Mich dünkt, die Ankündigung unserer Schrift «Variationen vom Totentanz» sei schon jetzt gerechtfertigt.