Hans Wahl
VARIATIONEN VOM
TOTENTANZ
Mit ERINNERUNGEN AN HANS WAHL
Redigiert, kommentiert, illustriert und ediert von Hans Peter Wahl
Der Pferdedieb
Auch Johann Peter Hebel, Geistlicher und alemannischer
Dichter, soll in seiner Brust ein Diebsbein getragen haben.
Betroffen von diesem medizinisch immer noch nicht
erklärbaren Phänomen seien vor allem Personen, die,
obwohl in geordneten bürgerlichen Verhältnissen lebend
(zumeist sogar im Staatsdienst tätig), durch eine ungezügelte
Fantasie und eine schwer verständliche Sympathie
zu Schelmen und Schälken Befremden erweckten
(So ein nicht genannt sein wollender Psychiater «der
Facharzt ist»; zuweilen selbst im Staatsdienst tätig).
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Die beiden verstorbenen Schaffhauser Anwaltskollegen Johannes Müller und Rudolf Hädener berichteten mir, unabhängig voneinander, Hans Wahl habe sich im Verlaufe der Zeit zu einer eigentlichen Autorität im Bereiche des Zollverwaltungsstrafrechtes entwickelt. In der Tat besass mein Vater, was Rechtsfragen angeht, eine schnelle Auffassungsgabe; ich kenne nicht allzu viele Vertreter der Juristenzunft, die, was die Klarheit von rechtlichen Analysen oder den Scharfsinn der juristischen Argumentation anbetrifft, imstande gewesen wären, ihm die Stirne zu bieten. Mir kam das wiederum während meines Jusstudiums zupass. Wenn ich jeweils an Wochenenden meine Eltern in Schaffhausen besuchte und im geistigen Weggepäck eine Erkenntnis des klügsten Kopfes der Fakultät es war dies der legendäre Prof. Karl Oftinger mit mir führte, wonach dem Rechtsinstitut der «Geschäftsführung ohne Auftrag» zukünftig eine breite Verwendung offen stünde, dann hatte ich diese Erkenntnis sofort meinem Vater zu unterbreiten, der sich mit Behagen an die professorale Prognose machte und sie mit mir zusammen eingehend diskutierte.
Hans Wahl konnte aber seines Rufes als rechtlich versierter Beamter nicht froh werden. Wenn jeweils die Zollkreisdirektion in einem Strafverfahren gegen Deliquenten zu vertreten hatte und der Verhandlungstermin feststand, dann wurde die Atmosphäre zuhause düster und zwar unabhängig von der Wetterlage, die draussen herrschte. Oft lagen nämlich die Sympathien meines Vaters auf der Seite des Täters, so dass es ihm deswegen (und nicht aus rechtlichen Gründen) schwerfiel, guten Gewissens als Ankläger zu wirken. Bis zur Verhandlung wankte er mit allen Zeichen einer Depression in der Wohnung herum, die Gesichtszüge versteinert, höchstens ein bisschen Trost findend bei der «Wonne», unserer heissgeliebten Hauskatze. Besonders meine Mutter, eine lebhafte und warmherzige Frau, die manches Jugendjahr in Genf verlebt hatte, litt unter der zeitweisen Schwerblütigkeit ihres Ehemannes; ihr Kummer entlud sich ihrem Temperament entsprechend in einem Wutausbruch. Waren die «Plädoyernotizen zur Anklage» aber endgültig in den Aktenschlaf versetzt worden, dann war im familiären Bereich alles wieder gut.
Der Wissensaustausch mit meinem Vater blieb selbstverständlich nicht auf rechtliche Aspekte beschränkt;
mein Mentor begehrte etwa von mir zu erfahren, wieso Prof. Gotthard Jedlicka den Maler Marc
Chagall höher einschätze als dessen Kollegen Oskar Kokoschka, wie es Zoodirektor Heini Hediger schaffe,
den Nashornbullen zu veranlassen, sein Gehege zu markieren u a .m. Als sein Filius zum Leutnant avancierte,
wurde der Gesprächsstoff militärisch: Der «Füsel» Hans Wahl, so bezeichnete sich mein Vater nun
vermehrt, unterhielt sich dabei mit mir gerne über die Panzergängigkeit des Geländes im Knonaueramt;
zu reden gab auch das von «Randenärger» (gemeint Brigadier Brandenberger) ersonnene Verteidigungsdispositiv
für den Kanton Schaffhausen.
Mein Vater hat «alles, was da kreucht und fleucht», geliebt; doch von den tierlichen Mitgeschöpfen stand seinem Herzen die Hauskatze (Felis silvestris catus) am nächsten. Er hat seine Lieblinge denn auch zum Mittelpunkt einiger Erzählungen gemacht; ich denke etwa an die Weihnachtslegende «Die Katze von Bethlehem« oder das Märchen« So wie man das Kätzchen streichelt» u .a .m.
Die letztgenannte Geschichte endet so:
«Vielleicht möchte dieser oder jener hören, dass sich das schwarze Kätzchen in eine wunderschöne Prinzessin verwandelt habe, wie es zumeist im Märchen geschieht. Aber das wäre nicht wahr, denn wie sollte ein Kätzchen, das schlummert wann es will, schmauset was es will, und schmeichelt wem es will, ein mühseliges und unterwürfiges Menschenwesen werden wollen?»
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Zu eigentlichen geistigen Höhenflügen hat mir mein Vater indessen etwa zehn Jahre früher verholfen, als er mir den Zugang zur Literatur auftat. Zunächst war der Unterricht noch eher handfester Natur und buchstäblich am praktischen Fortkommen orientiert: In der langen Strasse, die damals zwischen Friedhofsmauer und Seilerei zum Elementarschulhaus führte, übten wir nach Anweisungen Old Shatterhands das kräftesparende und gleichwohl rasche Laufen der Westmänner, das darin besteht, dass das eine Bein während einer Viertelstunde oder mehr stärker beansprucht wird als das andere; hernach wechselt man mit dem Krafteinsatz auf das zuvor entlastete Bein... Auch wenn sich manches Erlebnis von Shurehand, Winnetou und den arabischen Helden bei genauerem Hinsehen als Geflunker erwies, meinem Vater und mir haben die «Weisheitslehren» aus Radebeul Spass bereitet und für mancherlei Gesprächsstoff gesorgt.
Ein anderes war es dann freilich, als auf Karl May die höhere Schule mit Conrad Ferdinand Meyer folgte. Da war nun mein Vater als kundiger Mentor in seinem Element. Jeweils ein Kapitel aus der Novelle «Die Versuchung des Pescara» wurde von ihm an einem Abend zunächst vorgelesen, hernach erläutert und mit mir durchbesprochen. Dabei gestaltete mein Mentor die Lesung und den erhellenden Kommentar dazu derart spannungsgeladen, dass ich es kaum auf meinem Stuhl aushielt; jemand musste doch wohl dem unbedarften Herzog von Mailand zu Hilfe eilen, Fränzchen sollte gewarnt werden auch vor seinem redegewandten, aber zwielichtigen Berater, dem Kanzler Morone! Später machte mir zu schaffen, dass auch die edle Viktoria, die Ehefrau des sterbenskranken Feldherrn versucht sein könnte, ihren Gatten für eigene Ziele einzuspannen...
Intrigen allüberall und untaugliche Versuche zur Versuchung zuhauf, da Pescara, bereits vom Tode gezeichnet,
über allen Verführungen steht. Genaueres weiss ich nicht mehr von dieser Novelle, in der Erinnerung
rauscht die Sprache Meyers wie ein im Dunkel schimmernder Strom.
Bereits im zweiten Range als Lieblingstiere fungierten bei Hans Wahl die Hunde, wobei Mischlinge und Bastarde gerade wegen ihrer zweifelhaften Herkunft die Schnüffelnasen noch etwas vor den Rassetieren gehabt haben dürften... Aber mein Vater liebte sie alle; er war der einzige, der als «Fremder» mit jenem schlechtbeleumdeten «Teddy», dem «Schrecken der Säntisstrasse», der, verborgen hinter einem Eckgesträuch seines umzäunten Gartens, den friedlichen Fussgängern auflauerte, sie mit einem plötzlichen, lautstarken Scheinangriff zu Tode erschreckte und sie über eine längere Wegstrecke hin, gottlob selber immer innerhalb des Gartengeheges laufend, mit gehässigem Gebell verfolgte.
Nein, mein Vater schätzte und achtete alle diese Vierbeiner, die zu einer Intrige auch gegen einen todkranken Feldherrn Percara nicht fähig waren (dagegen zu einer wütenden Beissattacke durchaus) sehr. Er hat für den treuen Begleiter der Menschen mit den Worten: «Das Meer legte sich zu seinen Füssen wie ein braver Hund», aus dem chinesischen Märchen asas-sesia ein literarisches Denkmal geschaffen.
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Ich will diese kleine Hommage für meinen Vater beendigen, würde doch sonst sein Stirnrunzeln immer
stärker. Schliesslich war er «ein allem grossen Wesen abholder Mensch gewesen» (so Fritz Senft in einem
Nachruf). Und damit lasse ich, für ein Weilchen nur, auch die Glücksmomente meiner Kindheit fahren.
Wie geschrieben: nur für ein Weilchen. Denn schon färbt sich, von der erlebten Wirklichkeit genährt,
ein Traum: Ein Mann, mir seltsam «fremdvertraut» (ich wusste zum Beispiel von ihm, dass er zeitlebens
nie eine Armbanduhr trug für seine Gänge pflegte er sich am Gebimmel des Munotgiöckeleins oder an
den Zifferblättern der Stadtkirche 5t. Johann, denen des Fronwagturms, am Münstergeläute oder an den
Uhren in öffentlichen Gebäuden zu orientieren), dieser Mann also wird sich an irgendeinem Freitagabend
zu mir herabbeugen und mir verschwörerisch ins Ohr flüstern: «Mein Sohn, ich habe am Stadtrand bei
Buchthalen eine Villa mit einem Park ausfindig gemacht, mich sticht «de Gwunder», ich möchte gerne
wissen, wer dort wohnt und wie die Leute «iigrichtet» sind. Wollen wir morgens zusammen hingehen?»
werde unbewegten Gesichtes nicken und am Samstagnachmittag hinter dem Mann durch einen unbekannten
Park schlendern, hinter ihm, damit er mich vor einer allfälligen Beissattacke eines übereifrigen
Wachhundes schützen könnte. Ich sehe den Mann von hinten, aber ich erkenne ihn auch im Schattenriss
an seiner stets ein wenig wegen des Diebsbeines? hochgezogenen linken Schulter, an der oft ein bisschen
vernachlässigten Bekleidung (seine treue Gattin hat ein Eheleben lang gegen dieses Bild angekämpft
und ist meistens nur während kurzer Zeit Sieger geblieben, denn ihr Mann machte sich nun einmal gar
nichts aus seinem Äusseren); in diesem Punkt kommen mir jedes Mal die ausgebeulten Seitentaschen an
den Kitteln dieses Mannes in den Sinn, ausgebeult wodurch wohl? Durch beträchtliche Mengen von
klobigen, rechteckigen Zuckerstücken, die er für seine Lieblinge, die «schweren Gäule» der Brauereien,
Fuhrunternehmen, Kohlenhandlungen und Bauernbetriebe aufgehoben hatte. Wenn er so ein Gespann
irgendwo antraf, dann wurde ihm unweigerlich das Leben versüsst. Die meisten der mächtigen Rosse erkannten
den Mann schon von ferne und mancher Hansi, Max oder Moritz hat, wenn er die vertraute Stimme
vernahm, mit dem Vorderhuf zu scharren begonnen und dabei mit der Zacke des Eisens ein Zeichen
der Freundschaft in den Pflasterstein geritzt. - Ich kenne diesen Mann noch besser, als es die belgischen
Kaltblüter tun: er ist ja mein Päpp!