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Kapitel 

C. M. Wieland's Werke.

Neunter Band.

Dreizehntes Capitel.

Der Kalender sagt Danischmenden im Vertrauen, was er von der menschlichen Gattung denke.

Ich möchte wohl wissen, sagte Danischmend, auf welchem Fuß du die Menschen kennen gelernt hast, um ein so schönes Resultat heraus zu bringen?"So gern ich meine Meinung über Alles frei von der Brust weg sage," versetzte der Kalender, "so möcht' ich doch nicht in dem Falle seyn, auf dem großen Marktplatze zu Dehly oder Jspahan sagen zu müssen, was ich von den Menschen denke. Aber unter vier Augen seh' ich keine Bedenklichkeit."Zumal da die Welt bleiben wird, was sie ist, du und ich mögen von ihr denken, was wir wollen, sagte Danischmend."Dieß möcht' ich eben nicht so unbedingt für wahr annehmen," erwiederte der Kalender. "Ich denke, der Fall hat sich schon oft zugetragen, wo es so gleichgültig nicht war, was für einen Begriff dieser oder jener sich von den Sachen machte. Wer kann uns gut dafür seyn, daß Glück und Zufall — die schon so oft aus Grobschmieden, Küchenjungen, Kameeltreibern, Kühhirten, ja sogar aus Fakirn, Luftspringern, Lohnhuren, Kupplern und Gott weiß was für anderm Auskehricht

des menschlichen Geschlechtes wichtige Personen in der Welt gemacht haben, — nicht einmal in einem Anstoß von Laune den Einfall kriegen könnten, einem philosophischen Einsiedler, wie du, oder einem Kalender, wie ich, eine Rolle in der Welt zu spielen zu geben?"Danischmend lächelte und schüttelte den Kopf, indem er an die Rolle dachte, die ihn der Bramine der Königin Nurmahal in einem ringsum gut gemauerten und mit einer doppelten Thür und großen eisernen Stangen und Riegeln wohlverwahrten Käficht hatte spielen lassen."Ich bin kein Menschenfeind," fuhr der Kalender fort; "wiewohl ich eben nicht sagen kann, daß ich sie sehr liebenswürdig finde: aber ich bin ein herzlicher Feind aller Declamationen, da ein Mann seine Backen so voll nimmt, als er kann, um alles Gute und Böse, was er weiß, über die arme Menschheit herauszublasen, ohne sich darum zu bekümmern, wie viel oder wenig Wahres an der Sache ist."Ich möchte den Vorwurf nicht verdienen, daß ich der Natur — auf die am Ende doch alle Schuld zurück fällt — durch eine allzu schlechte Meinung von ihrem besten Stück Arbeit Unrecht thue. Aber ich möchte doch auch der Mann nicht seyn, der, nachdem er wohl geschlafen, wohl gegessen und getrunken, eine gute Verdauung und einen leichten gesunden Stuhlgang gehabt und sich mit seinem Weibe oder Kebsweibe nach Wohlgefallen gütlich gethan hätte, auf seinem Sopha ausgedehnt von Feenschlössern und Schlaraffenländern, goldnen Zeiten und schönen Seelen träumte und dann zwischen Wachen und Traum sich hinsetzte und ein System

daher fabelte, worin der Mensch als das gutartigste, edelste und glücklichste aller Geschöpfe figurirte, Geschichte und tägliche Erfahrungen möchten mir das Gegentheil noch so laut in die Ohren schreien."Ich hasse das Uebermaß in allen Dingen. Indessen gesteh' ich, wenn ja auf einer von beiden Seiten ausgeschweift werden müßte, so würde die Wahrheit weniger verlieren, wenn man zu schlimm, als wenn man zu gut von der menschlichen Natur dächte."Ich höre für mein Leben gern paradoxe Sätze behaupten, sagte Danischmend lächelnd."Die Wahrheit hat zuweilen das Unglück, paradox zu klingen," erwiederte der Kalender: "aber der Beweis für das, was ich jetzt sagte, ist nur gar zu leicht zu führen.""Setzen wir einmal den Fall, es gäb' eine Art von Geschöpfen, — in welchem Planeten du willst — die mit einer so schlechten Anlage auf die Welt käme, daß unter Tausenden kaum eines, und auch dieß nicht anders als durch die sorgfältigste und mühsamste Cultur, unter einem Zusammenstoß der günstigsten Umstände, wovon nicht einer fehlen dürfte, zu einem merklichen Grade von Werth zu bringen wäre: was würden wir von der ganzen Art halten?"Würde die Art der Hyänen oder Krokodile darum besser seyn, wenn man einige Beispiele hätte, daß durch außerordentliche Mühe und gutes Glück dann und wann eine Hyäne oder ein Krokodil zahm und nützlich gemacht worden wäre?""Ich besorge, daß dieß ganz eigentlich unser Fall seyn möchte. Wie viel Kunst und Fleiß, welche lange Uebung und

wie viel Glück noch obendrein wird nicht dazu erfordert, bis ein Mensch weise und gut wird? Und wie unendlich klein ist die Anzahl dieser letzten gegen das unermeßliche Heer der Narren, der Schafköpfe, der Gecken, der Betrüger und der Bösewichte, deren ewiges Dichten und Trachten ist, Alles zu verhindern, zu untergraben, zu ersticken und, wo möglich, gänzlich zu vernichten und auszulöschen, was die Weisen und Guten von jeher unternommen haben? — Oder ist es etwa nicht wahr, daß ich in diesen wenigen Worten die Geschichte des menschlichen Geschlechts ausgezogen habe?"Danischmend kraute sich hinterm linken Ohr und sagte — nichts.Der Kalender verfolgte mit aller Unbarmherzigkeit eines Misanthropen, der sich in seinem Vortheil sieht: "Ich gebe zu, daß unter jener größern Zahl die Schafköpfe, die sich von den Schlauköpfen verführen, betrügen und mißbrauchen lassen, daß es einen Stein erbarmen möchte, — daß, sag' ich, diese Schafköpfe — die ganze Zunft der Gecken Faselhansen und Narren mit allen ihren Subdivisionen eingerechnet — sich zu den Betrügern und Bösewichtern vielleicht wie Hundert zu Eins verhalten. Aber was gewinnt die menschliche Gattung dabei? Er braucht nur einen schlauen Spitzbuben, um hundert dumme Knaben an eine lange Kette anzuschließen und bei der Nase hinzuführen, wohin er will; und so sind es (zur Schande der Menschheit!) doch immer die schlimmsten unter den Menschen, die am Ende Meister sind."Lieber wollt' ich mir die Augen ausreißen, als dieß nur einen Augenblick glauben, sagte Danischmend.

"Glauben? —versetzte der Kalender kaltsinnig: glauben können wir, was uns beliebt, aber die Rede ist hier nicht vom Glauben. Die Frage, wenn ich nicht irre, war, wie die Sache sey; nicht, wie wir wünschen, hoffen, träumen, daß sie seyn sollte und möchte. Facta müssen hier den Ausschlag machen!"Facta sind Alles, was man daraus machen will, sagte Danischmend: aus jedem neuen Augenpunkte scheinen sie etwas Anderes; und in zehn Fällen gegen einen ist das vermeinte Factum, worauf man mit großer Zuversicht seine Meinung gestützt hatte, im Grund eine bloße Hypothese."Dieß mag seyn, erwiederte der Kalender. Aber die Facta, von welchen ich rede, sind von der Art derjenigen, die, aus allen möglichen Gesichtspunkten betrachtet, immer die nämliche Gestalt zeigen und immer einerlei Resultate geben. Auch wird ihre Wahrheit allgemein anerkannt, wiewohl die Eitelkeit — das einzige Laster, das der menschlichen Gattung ausschließlich eigen ist, uns für das Resultat die Augen verschließt."Ich will mich bloß auf drei einschränken, die zu meinem Zwecke völlig hinreichend sind."Das erste: Die menschliche Gattung ist von der Natur mit Allem versehen, was zum Wahrnehmen, Beobachten, Vergleichen und Unterscheiden der Dinge nöthig ist. Sie hat zu diesen Verrichtungen nicht nur das Gegenwärtige unmittelbar vor sich liegen und kann, um weise zu werden, nicht nur ihre eignen Erfahrungen nützen: auch die Erfahrungen aller vorhergehenden Zeiten und die Bemerkungen

einer Anzahl von scharfsinnigen Menschen, die, wenigstens sehr oft, richtig gesehen haben, liegen zu ihrem Gebrauch offen. Durch diese Erfahrungen und Bemerkungen ist schon längst ausgemacht, nach welchen Naturgesetzen der Mensch — in welcher Art von Gesellschaft und Verfassung er sich befinde — leben und handeln muß, um in seiner Art glücklich zu seyn. Durch sie ist Alles, was für die ganze Gattung — folglich für jeden einzelnen Menschen — zu allen Zeiten und unter allen Umständen nützlich oder schädlich ist, unwidersprechlich dargethan; die Regeln, deren Anwendung uns vor Irrthümern und Trugschlüssen sicher stellen kann, sind gefunden; wir können mit befriedigender Gewißheit wissen, was schön oder häßlich, recht oder unrecht, gut oder böse ist, warum es so ist, und inwiefern es so ist; es ist keine Art von Thorheit, Laster und Bosheit zu erdenken, deren Ungereimtheit oder Schädlichkeit nicht schon längst scharf als irgend ein Lehrsatz im Euklides erwiesen wäre. — Und dennoch, dessen Allen ungeachtet, drehen sich die Menschen seit etlichen tausend Jahren immer in dem nämlichen Cirkel von Thorheiten, Irrthümern und Mißbräuchen herum, werden weder durch fremde noch eigene Erfahrung klüger, verlassen immer wieder, ihrem eigenen Gefühl zu Trotz, den richtigen Weg, wenn sie ihn glücklicher Weise einmal gefunden haben, kurz, werden, wenn's hoch kommt, witziger, scharfsinniger, gelehrter, aber nie weiser, als ihre Vorfahren von jeher gewesen sind."Daß dem so sey, beweiset — der Augenschein; aber, wie es möglich sey, kann, däucht mich, durch nichts in der Welt begreiflich werden, als durch mein zweites Factum:

— Die Menschen, nämlich, raisonniren gewöhnlich nicht nach den Gesetzen der Vernunft. — Im Gegentheil ihre angeborne und allgemeinste Art zu raisonniren ist: von einzelnen Fällen aufs Allgemeine zu schließen, aus flüchtig oder nur von einer Seite wahrgenommenen Begebenheiten irrige Folgerungen herzuleiten und alle Augenblicke Worte mit Begriffen und Begriffe mit Sachen zu verwechseln. Die allermeisten, das ist, nach dem billigsten Ueberschlag, neun hundert neun und neunzig unter tausenden, urtheilen, in den meisten und wichtigsten Vorfallenheiten ihres Lebens, nach ersten sinnlichen Eindrücken, Vorurtheilen, Leidenschaften, Grillen, Phantasien, Launen, zufälliger Verknüpfung der Worte und Vorstellungen in ihrem Gehirne, anscheinenden Aehnlichkeiten und geheimen Eingebungen der Parteilichkeit für sich selbst, um derentwillen sie alle Augenblicke ihren eigenen Esel für ein Pferd und eines andern Mannes Pferd für einen Esel ansehen. Unter den besagten neun hundert neun und neunzigen sind wenigstens neun hundert, die zu Allem diesem nicht einmal ihre eigenen Organe brauchen, sondern aus unbegreiflicher Trägheit lieber durch fremde Augen falsch sehen, mit fremden Ohren übel hören, durch fremden Unverstand sich zu Narren machen lassen, als durch sich selbst vielleicht richtig empfinden wollen; nicht von einem beträchtlichen Theil dieser neun hundert zu sagen, die sich angewöhnt haben, von tausend Dingen in einem wichtigen Tone zu sprechen, ohne überhaupt zu wissen, was sie sagen, und ohne sich einen Augenblick darum zu bekümmern, ob sie Sinn oder Unsinn sagen.

"Sollte dieß etwa nicht genug seyn, die Gültigkeit der Ansprüche, die der Mensch an die Würde eines vernünftigen Wesens macht, zu entscheiden; — nun, so laß sehen, ob mein drittes Factum nicht den Ausschlag gibt?"Eine Maschine, ein bloßes Werkzeug, das sich von fremden Händen brauchen und mißbrauchen lassen muß, ein Bund Stroh, das alle Augenblicke durch einen einzigen Funken in Flammen gerathen kann, eine Flaumfeder, die sich von jedem Lüftchen nach einer andern Richtung treiben läßt, — sind wohl, seit die Welt steht, nie für Bilder, wodurch sich die Thätigkeit eines vernünftigen Wesens bezeichnen ließe, angesehen worden: wohl aber hat man sich von jeher dieser Bilder auf dem ganzen Erdboden bedient, um die Art und Weise auszudrücken, wie die Menschen, besonders wenn sie in große Massen zusammengedrängt sind, sich zu bewegen und zu handeln pflegen.""Nicht nur sind gewöhnlicher Weise Begier und Abscheu, Furcht und Hoffnung — von Sinnlichkeit und Einbildung in Bewegung gesetzt —die Triebräder aller der täglichen Handlungen, die nicht das Werk einer bloß maschinenmäßigen Gewohnheit sind: sondern in den meisten und angelegensten Fällen — gerade da, wo es zum Glück oder Unglück des ganzen Lebens, Wohlstand oder Elend ganzer Völker —und am allermeisten, wo es um das Beste des ganzen menschlichen Geschlechts zu thun ist, —sind es fremde Leidenschaften oder Vorurtheile, ist es der Druck oder Stoß weniger einzelne Hände; die geläufige Zunge eines einzigen Schwätzers, das wilde Feuer eines einzigen Schwärmers, der geheuchelte Eifer eines einzigen falschen. Propheten, der Zuruf eines einzigen Verwegenen, der sich an die Spitze

stellt — was Tausende und Hunderttausende in Bewegungen setzt, wovon sie weder die Richtung noch die Folgen sehen, was Staaten in Verwirrung bringt, Empörungen, Spaltungen und Bürgerkriege verursacht, Tempel, Altäre und Thronen umstürzt, die Werkstätte der Natur und der Kunst verwüstet und oft die Gestalt ganzer Welttheile verändert."Durchlaufen wir die große Geschichte der Menschheit oder die Geschichte eines einzelnen Menschenstammes: immer sehen wir Myriaden hinter einem Einzigen herströmen, Myriaden einem Einzigen nachsprechen, Myriaden ihre Hände und Füße nach dem Wink eines Einzigen heben, Myriaden sich mit sehenden Augen für einen Einzigen in den Abgrund stürzen."Und nun, lieber Danischmend, wenn wir diese drei unleugbaren großen Facta, die, so zu sagen, der Ausgang der allgemeinen Geschichte des Erdenvolks sind, zusammen nehmen und uns dann fragen: Mit welchem Rechte kann eine Gattung von Geschöpfen, die nach der Vernunft weder denkt noch handelt, die durch fremde und eigene Erfahrung nie klüger wird, immer das Spiel ihrer Phantasien und Leidenschaften ist, immer von mechanischer Gewohnheit oder fremden Kräften in Bewegung gesetzt wird, immer wider ihr eigenes Interesse handelt, immer wieder zerstört, was sie aufgebaut hat, immer mit dem Steine, den sie den Berg hinauf gewälzt, wieder hinunter fällt, um ihn von neuem hinauf zu wälzen, — mit welchem Rechte kann eine so unvernünftige Gattung von Geschöpfen —"Halt, fiel ihm Danischmend ins Wort, nicht zu früh Triumph gesungen! — Ich gebe zu — muß ich nicht? —

daß die Menschen, in Durchschnitt genommen, nie weise gewesen sind und — wofern nicht ganz andre Anstalten dazu gemacht werden — wenig Hoffnung von sich geben, jemals merklich weiser zu werden. Aber laß es seyn! Immer ist noch ein wichtiger Artikel übrig, der unserm Streit eine ganz andre Wendung gibt. Es ist nicht zu leugnen, daß ein gewisser Schwindelgeist, eine gewisse mechanische Tendenz, unsre Pferde beim Schwanze zu zäumen, ein Erbübel in der Familie Adams ist. Aber man muß wenigstens gestehen, daß unser Herz besser ist, als unser Kopf. In der That, Freund Kalender, mit aber unsrer angebornen Narrheit, Hastigkeit und schafmäßigen Einfalt wären wir doch, von Haus aus, wenn man uns unverhudelt ließe, ganz gute Leute; und auch so, wie die Sachen jetzt mit uns stehen, ist Tugend bei weitem so selten nicht als Weisheit."Tugend, guter Danischmend! Tugend? — rief der alte Ungläubige; beim Himmel, ein schöner Name! und, wie ich besorge, auch weiter nichts als ein Name für die meisten Menschen. Einige, schlauer als die übrigen, haben eine hübsche Maske daraus gemacht, die sie geschwinde vors Gesicht nehmen, so oft sie Absichten auf die Dienste oder den Beifall oder den Beutel oder die Weiber und Töchter der ehrlichen blödsichtigen Kauze haben, welche Gesichter und Masken nicht zu unterscheiden wissen. — Kein Wunder, daß diese Leute so viel Eifer für ihre Maske zeigen, immer so viel Aufhebens und Prahlens davon machen! Es ist auch so eine schöne gute Maske! Man kann seine unartigen Leidenschaften und schlechten Streiche so bequem unter ihr

verbergen! —Tugend! — ich verliere alle Geduld, wenn ich die Menschen mit diesem Worte, wie Kinder mit ihrer Puppe, spielen sehe! Die Welt müßte ein andres Aussehen haben, mein guter Danischmend, wenn die Menschen wüßten, was Tugend ist!"Freund Kalender, rief Danischmend ein wenig hitzig, Stachelreden sind keine Gründe. Ein Mann, der sich rühmte so viele Menschen gesehen zu haben, und keine gute Menschen gesehen hätte, nirgends etwas Besseres als Masken der Tugend gesehen hätte, — der Mann müßte sich in einem außerordentlich unglücklichen Zeichen auf den Weg gemacht haben."Damit wir nicht (sagte der Kalender ganz gelassen) unvermerkt in den Fall kommen, uns, wie andre Leute, um Worte zu zanken, und um dir zu zeigen, daß ich den Menschen — wiewohl ich ein Kalender bin — nicht einen Titel von dem Bißchen Tugend, worin doch ihre beste Habe besteht, zu entwenden gedenke, wollen wir ein wenig näher hintreten, und die Waare, die man uns für etwas so Kostbares gibt, genauer betrachten."Ich denke, es ist mit der Tugend wie mit dem Golde. Etwas Legierung von Silber oder Kupfer muß immerhin dabei geduldet werden. Aber Gold von sechzehn Karat hört auf Gold zu heißen. Nach dieser Regel möchte wohl ein großer Theil der menschlichen Tugend für allzu geringhaltig erfunden werden, als daß wir sie im Handel und Wandel für echte probhaltige Tugend passiren lassen könnten.

"Viele — und gewiß diese Viele machen bei weitem die Meisten aus — ergeben sich einer gewissen Temperaments- oder Lieblingstugend auf Unkosten aller übrigen und glauben dadurch, daß sie in einem Punkte mehr thun, als sie schuldig sind, ein Recht zu erhalten, in sieben andern desto weniger zu thun. Ich denke, du hast nichts dagegen, Danischmend, wenn ich diese Tugenden sogleich als offenbar unecht ausschließe und bei Seite werfe?"Ein Gleiches werden wir wohl auch mit einer Menge vermeinter Tugenden vornehmen müssen, die anstatt das Gepräge der Natur zu führen, vom Aberglauben oder irgend einem andern falschen Wahn gestempelt sind? Wir werden also keinem Manne, der sich die Augen ausreißt, um nichts zu sehen, das ihn zum Bösen reizen könnte, — keinem Menschen, der sich zu einem unbedingten Gehorsam gegen einen andern Menschen verpflichtet hat, — keinem Höfling, der aus Ergebenheit gegen seinen Fürsten sich zu Bubenstücken brauchen läßt, — keinem Patrioten, der aus Liebe zu seinem Vaterlande ungerecht gegen andre Völker ist, — seine Enthaltung, seinen Gehorsam, seine Ergebenheit gegen seinen Fürsten, seine Liebe zum Vaterlande für Tugend gelten lassen können?"Das Quantum von Tugend, das uns nach diesem Ausschuß übrig bleibt, so viel oder wenig es seyn mag, ist das Eigenthum zweier Arten von Sterblichen, die in sehr wesentlichen Stücken vollkommne Gegenfüßler von einander sind, — der Weisen und der Enthusiasten. Beiden, insofern sie aus innerlicher Neigung, ohne Nebenabsicht, Sold, noch Lohn,

alles Gute zu befördern und alles Böse zu verhindern suchen, kann man einen gewissen Grad von Tugend nicht absprechen. Die Frage ist also bloß, um wie viel sich das menschliche Geschlecht dadurch besser befinde? Laß uns einen Augenblick sehen!"Die Weisen lieben das Gute und wünschen Gutes zu thun; aber sie unternehmen nichts, ehe sie sich der Möglichkeit der Ausführung versichert haben. Wer den Menschen wirklich Gutes thun wollte, müßte sie erst vernünftig machen können. Nun wäre dieß (wie wir gefunden haben) ungefähr so viel, als wenn einer unternehmen wollte, Mohren zu bleichen oder Schnee an der Sonne zu trocknen. Ein Mann, der selbst ein wenig vernünftig ist, gibt sich mit keinen solchen Versuchen ab. Was soll er also thun? —Böses verhindern? Da hätte er nur das ganze menschliche Geschlecht wider sich. Dieß ist zu viel für einen Mann. Der tapferste Held kann keiner Zagheit beschuldigt werden, wenn er keine Lust hat, sich allein einem ganzen Heer entgegen zu stellen. — Nun möcht' ich wohl wissen, was seiner Tugend zu thun übrig bliebe? Er thut nichts Gutes, weil er nicht kann; er hindert nichts Böses, weil er nicht darf; er thut selbst nichts Böses, weil er nicht mag: er wird also ein Kalender und thut gar nichts.Die Welt gewinnt, wie du siehst, nicht viel durch die Tugend der Weisen. Sollte sie etwa bei der Tugend der Enthusiasten mehr zu gewinnen haben?Du erinnerst dich doch der Fabel vom Bären, der nicht leiden wollte, daß sich eine Fliege auf die Nase des schlafenden

Einsiedlers, seines Freundes, setzte, und, um sie zu verjagen, mit einem großen Steine die Fliege und den Einsiedler zugleich todt schmiß? — Dieser Bär ist, mit deiner Erlaubniß, das Bild jener schwärmerischen Menschenfreunde, die aus tugendhaftem Eifer gegen Irrthum, Unrecht, Unterdrückung und andere Uebel, womit sie die Menschheit geplagt sehen, in einem Jahre oft mehr Unheil anrichten, als in zwanzig Jahren geschehen wäre, wofern sie die Welt hätten gehen lassen, wie sie ging. Es ist wahr, ihre Beweggründe und Absichten sind untadelig; ihr Haß gegen das Böse ist so rein, wie ihre Liebe zum Guten; auch ihre Thätigkeit ist an sich selbst löblich. Aber unglücklicher Weise verblendet sie ihr Eifer, ihre Begierde, den kürzesten Weg einzuschlagen, über die Wahl der Mittel. Sie erregen einen Sturm, um einen Sperling zu Boden zu werfen, und zünden euch das Haus überm Kopf an, weil sie gehört haben, daß ihr von Ratten geplagt werdet. Die leidenschaftliche Liebe zur Tugend wird unstreitig durch die Schönheit ihres Gegenstandes unendlich veredelt; aber sie behält doch die Natur einer Leidenschaft alle Leidenschaften laufen mit der Vernunft davon; und ein zorniger ober verliebter Mensch kann, solang er das eine oder das andere ist, eben so wenig weise seyn, als ein Verrückter. Die Enthusiasten der Tugend sehen nur eine Seite der Sache, nur die gute oder nur die schlimme; sehen nicht, daß das Uebel, wovon sie uns befreien wollen, bloß bie andre Seite eines unendlich wichtigern Guten ist, oder daß es in Betracht der Umstände ein weit kleineres Uebel ist, als das Mittel, wodurch man uns davon befreien

könnte; und daß das Gute, das sie uns thun wollen, durch Folgen, die der Zusammenhang der Dinge unvermeidlich macht, zum größten Uebel werden würde. Nicht selten treibt sie der Eifer für die gute Sache so weit, daß sie sogar unmögliche Dinge durchsetzen wollen; ein Unternehmen, das natürlicher Weise fehlschlagen muß und zu nichts hilft, als das Uebel, dem man entgegen arbeitet, zu beschleunigen. Sie erhalten nichts, weil sie zu viel wollen; versäumen das Gute, das sie thun könnten, weil sie ein größeres thun wollen, das nicht in ihrer Macht ist; und am Ende findet sich gemeiniglich, daß sie selbst Opfer ihres Eifers geworden sind, ohne die Welt um einen Deut besser zu hinterlassen, als sie war."Es gibt noch eine Art von Enthusiasten der Tugend, die nicht so viel oder vielleicht gar nichts Uebels thun, weil sie weniger thätig sind oder — wie meine Weisen (wiewohl aus einem andern Grunde) — ganz unthätig bleiben, und die ich zum Unterschied Virtuosen nennen will. Es sind Leute von feiner Empfindung und hoher Phantasie, die sich eine so schöne und erhabene Idee von der Tugend gemacht haben, daß sie in der That zu nichts als zum Anschauen gut ist. Eingenommen von diesem Urbilde des Sittlich-Schönen, fährt ihre Seele vor dem häßlich davon abstechenden Anblicke des wirklichen Laufs der Welt mit Grauen und Unmuth zurück. Sie versuchen es vielleicht etliche Mal, ihre Lieblingsideen außer sich wirklich zu machen; aber der Lehm, in den sie solche drücken wollen, ist zu spröd und unbildsam, um so feine Formen anzunehmen. Sie verlieren die Geduld über

dem öfters mißlungenen Versuch, geben endlich Arbeit und Hoffnung auf und ziehen sich wieder in sich selbst hinein, um im Anschauen und Anbeten dieser göttlichen Urbilder einer Wonne zu genießen, die ihnen nichts, was weniger vollkommen ist, gewähren kann. In diesem Zustande ist ihnen so wohl, daß sie sich zuletzt gar nicht mehr entschließen können, einen so seligen Müßiggang mit dem mühevollen Nichtsthun des beschäftigten Lebens zu vertauschen. Und so gehen auch diese Virtuosen, mit aller ihrer Liebe zur idealischen Tugend, für die Welt verloren; und das größte Verdienst, das man ihnen zuschreiben kann, ist, daß sie znverlässig nichts schlimmer machen, als sie es angetroffen haben."Man wundert sich oft, wie es komme, daß die vereinigten Kräfte der Weisen und Tugendhaften die Welt in so langer Zeit nicht haben besser machen können. Nichts ist begreiflicher, als wie dieß kommt, sobald man weiß woher es kommt. Die Weisen ziehen sich aus Klugheit zurück und bleiben unthätig, weil sie nicht Lust haben, Wasser mit einem Siebe zu schöpfen oder durch eine Mauer zu gehen, in die sie sich erst mit ihrer Nase eine Oeffnung bohren müßten. Die Virtuosen kriechen aus Unmuth in ihre Schale und — lassen sich was träumen. Die Enthusiasten springen zwar mit dem ganzen Feuer ihres guten Willens mitten in die Welt hinein, stürzen Alles zu Boden, was ihnen im Wege ist, hauen und schwadroniren links und rechts um sich her, treffen Feinde und Freunde und machen in einem Tag ein größeres Stück Arbeit, als gelassene Leute vielleicht in hundert Jahren machen würden: aber man hat noch immer von Glück

zu sagen, wenn das Gute, das sie thun wollten, sich gegen den Schaden aufhebt, den sie wirklich thun. Wo bleibt nun der Grund, sich zu wundern, daß selbst die Besten der Welt so wenig Nutzen schaffen? Nimmt man nun noch dazu, daß diese Besten — die denn am Ende doch selbst arme Erdenklöße sind, so gut wie andre — ein so kleines Häuflein machten, wenn sie alle beisammen wären, daß sie auf einer allgemeinen Tagsatzung des menschlichen Geschlechts Mit einem Mehr von fünf hundert Stimmen gegen eine, zur Welt hinaus votirt würden: so erhält die Sache vollends ihr unwiderstehliches Licht."Es klingt nicht fein, mein lieber Danischmend; aber du siehst, es kann nicht anders seyn: — die Grimassenmacher, Quacksalber, Gaukler, Taschenspieler, Kuppler, Beutelschneider und Klopffechter theilen sich in die Welt; — die Schöpse recken ihre dummen Köpfe hin und lassen sich scheren; — die Narren schneiden Capriolen und Burzelbäume dazu, —und die Klugen gehen davon und werden —Einsiedler oder, wenn sie nichts Besseres wissen, Kalender."

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