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Kapitel 

C. M. Wieland's Werke.

Neunter Band.

Zwölftes Capitel.

Fortsetzung der Geschichte des ersten Kalenders.

Bei Allem dem, was du gestern zu Gunsten deines Standes vorgebracht, —sagte Danischmend zu seinem Gaste, indem sie früh Morgens auf dem Wege zur Grotte spazieren gingen, — wundert's mich doch, wie ein Mann, wie du, dazu gekommen ist, ein Kalender zu werden."Ein Mann, wie ich damals war, da ich's wurde, versetzte der Kalender, hat wenig Hoffnung oder Gelegenheit, jemals etwas Besseres zu werden. Alle Menschen —wenige außerordentliche Genies vielleicht ausgenommen — werden durch die Umstände, was sie sind. Was mich wenigstens betrifft, ich bin sehr .überzeugt, daß ich das Beste, was an mir ist, meiner Kalenderschaft zu danken habe; und auch du

würdest es so finden, wenn ich dir erzählte, wie ich dazu gekommen bin.Ich wollte, daß ich alle Tage Jemanden hätte, der mir erzählte, wie er dazu gekommen ist, der Mann zu werden, der er ist, sagte Danischmend: ich kenne nichts Lehrreicheres."Meiner Mutter Mann, Herr Danischmend, war in einer kleinen Stadt in Kandahar, was man einen Schuhflicker nennt, wiewohl er auch in dieser Kunst sich keinen besondern Ruhm erworben hatte."In der That war dieß an seinem Orte nichts so Leichtes: denn, vermöge der Polizeiverfassung meiner lieben Vaterstadt, zählte man vierzig bis fünfzig Schuhflicker daselbst, welche, unter zwölfhundert beschuhte Einwohner dividirt, unmöglich so viel Schuhe zu flicken haben konnten, daß sie Salz und Kümmel damit verdient hätten; zumal, da sich unglücklicher Weise zu so vielen Schuhflickern kein einziger Schuster im Orte befand, daß also alle Leute, die es nur einigermaßen möglich machen konnten, barfuß gingen."Nun weiß ich nicht, wie der Schuhflicker, mein Vater, dazu kam, daß er eine hübsche Frau hatte: genug, er hatte sie und (was er in seinen Umständen für ein großes Glück ansah) noch oben drein einen Freund oder vielmehr einen Gönner und Beschützer, in dem Vorsteher einer Derwischerei, deren Gartenende an die Hinterthür unsers kleinen Hauses stieß."Es gibt gutherzige Leute, die es für ungereimt halten, einen Mann, der allen Evatöchtern zu Trotz ein Gelübde gethan hat, kein Mann zu seyn, mit einer menschlichen Schwachheit im Verdacht zu haben. Es gibt aber auch

boshaftes argwöhnisches Volk, vor deren Afterreden ein Derwisch selbst nicht sicher ist, wenn er sich herabläßt, der Freund eines alten Schuhflickers zu seyn, der eine hübsche Frau hat."Mein Vater war von der ersten Classe, der Rest unserer ganzen Stadt von der zweiten."Aber der Derwisch ließ sich dadurch in seinen wohlthätigen Gesinnungen gegen uns nicht irre machen; und es würde undankbar von mir seyn, nicht zu gestehen, daß ich ihm und der Schönheit meiner Mutter, wo nicht mein Daseyn, doch gewiß meine Erhaltung ganz allein schuldig bin."Meine Kindheit brachte ich, Dank sey den guten Derwischen! so glücklich hin, als man in diesem Alter ist, wenn man an Aepfeln, Nüssen, Castanien und Kuchen keinen Mangel hat und ohne Zwang und Beschäftigung in seiner natürlichen Wildheit herumlaufen darf."Als ich heranzuwachsen anfing, wollte der Schuhflicker, mein Vater, mich zu seiner Kunst anführen. Aber, da ich nicht das geringste Genie dazu verrieth und überhaupt einen unheilbaren natürlichen Abscheu vor aller Arbeit zeigte: schlug unser Beschützer endlich vor, mich in seinen eigenen Orden aufzunehmen."Er malte mir die Pflichten desselben sehr leicht und angenehm vor: es war weiter nichts als — meinem Bißchen Menschenverstand, meiner Freiheit und noch einer solchen Kleinigkeit zu entsagen, deren Bestimmung ich damals nicht besser als den Werth der beiden erstern kannte. Das Uebrige, sagte er, wären mechanische Fertigkeiten, zu deren Erwerbung nichts als ein wenig Zeit und Uebung erfordert würde.

"Ich ließ mir Alles gefallen, oder vielmehr ich sah in dem Stande der Deutschen nichts als seligen Müßiggang und Essens und Trinkens die Fülle, d. i. Alles, was nach meinem damaligen Begriffe das höchste Gut ausmachte."Aber nach etlichen Jahren fand sich's, daß mir die Natur einige Triebe und Gaben zugetheilt hatte, die mit den Pflichten meines Derwischenrockes unverträglich waren. Ich bediente mich mit der größten Freiheit meiner Zunge, über die Aufführung meiner Vorgesetzten und Brüder zu urtheilen; auch fühlte ich einen unwiderstehlichen Trieb in mir, mit allen Schuhflickern unsers Ortes, welche leibliche Weiber hatten, Bekanntschaft zu machen. Weil ich noch zu jung war, um vorsichtig zu seyn, so trieb ich's so arg, daß endlich die Ehre der Derwischerei die Zärtlichkeit überwältigte, welche Natur oder Gewohnheit dem Vorsteher für mich eingeflößt hatte. Er beraubte mich aller Freiheit, legte mir häufige Fasten auf, und da dieß noch nicht helfen wollte, verordnete er mir gewisse periodische Geißelungen, die, seinem Vorgeben nach, ein herrliches Mittel gegen die Anfechtungen von Schuhflickersweibern seyn sollten."Ich zweifle sehr, daß der gute Derwisch dieß aus eigener Erfahrung wußte. Mir wenigstens schien's, als ob seine Arznei das Uebel nur vermehre; und da sie überdem so unangenehm zu nehmen war, so fand ich für gut, an einem schönen Morgen aus der Derwischerei zu entweichen und mich der Natur und meinem Schicksal auf Gerathewohl zu überlassen."Ich trieb lange ohne Mast und Segel in der Welt umher und brachte mein Leben kümmerlich davon, indem ich

alle Arten von Professionen, die man nicht zu lernen braucht, versuchte. Bald zog ich als Troßjunge mit einer Karavane, bald machte ich den Wasserträger, bald den Eseltreiber, bald — gegen die Gebühr — den Esel selbst."Bei Allem diesem regte sich etwas in mir, das durch die Verächtlichkeit der Rollen, die ich in diesem irrenden Zustande spielte, beleidiget wurde. Aber was für Auswege standen mir offen? Endlich schien mir der Stand eines Kalenders in meiner Lage der einzige zu seyn, der in meiner Gewalt war, und durch den ich mich in etwas für gebessert halten konnte. Denn, wiewohl er in den Augen der Welt keiner von den ehrsamsten ist, so war er's (wenigstens in der Meinung des Pöbels) unendliche Mal mehr, als der Stand eines Wasserträgers oder Eseltreibers. Ueberdieß vertrug er sich vollkommen mit meiner Neigung zum Herumschwärmen, und Erfahrungen über die verschiedenen Denkarten und Leidenschaften der Menschen zu machen."Ich nahm also den Habit eines Kalenders, gesellte mich zu einigen irrenden Rittern dieses Ordens, die ich für geschickt ansah, mich in die Geheimnisse desselben einzuführen, und durchwandre nun bereits über dreißig Jahre lang, bald in Gesellschaft, bald allein, die meisten Provinzen in Asien."Ich würde nie fertig werden, wenn ich dir alle Abenteuer erzählen sollte, die mir während dieser langen Wanderschaft aufgestoßen sind. In der That, es wäre bloß meine Schuld, wenn ich die Menschen nicht kennen gelernt hätte; und wenn mir auch diese Kenntniß zu nichts hälfe, als mich durch und durch zu überzeugen, daß es nicht der Mühe werth ist, in

dieser Trödelwelt etwas Anderes als ein Kalender zu seyn; so wär' es genug, um mich's nie gereuen zu lassen, daß ich diese Lebensart ergriffen habe."

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