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Kapitel 

C. M. Wieland's Werke.

Sechster Band.

Drittes {Kapitel.}

Darstellung der Lebensweisheit des Archytas.

Meine erste Jugend, Agathon, hat dieß mit der deinigen gemein, daß ich in den Grundbegriffen und Maximen der Pythagorischen Philosophie die in der Hauptsache von der Orphischen wenig unterschieden ist; erzogen wurde. Durch sie erhielt ich also insofern meine erste Bildung, als ihre Grundlehren eine besondere Empfänglichkeit in meiner Seele antrafen, auf welche es außerdem schwer war einen bleibenden Eindruck zu machen: aber demungeachtet kann ich sagen, daß ich zu meiner Theorie der Lebensweisheit auf einem ganz praktischen Wege gekommen

bin. Von meiner Kindheit an war Aufrichtigkeit und ein tödtlicher Haß gegen Verstellung und Unwahrheit der stärkste Zug meines Charakters. Zu diesem gesellte sich gar bald ein ihm gleichartiger, eben so lebhafter Abscheu vor allem, was ich für unrecht und unbillig hielt, sollte es auch nur ein gering geachtetes Thier oder selbst ein lebloses Ding betroffen haben. Dieser entschiedene Hang für Wahrheit und Recht, der noch nicht durch die Nachsicht gemildert war, die wir den Fehlenden schuldig sind, zog mir viel Unangenehmes in und außer dem väterlichen Hause zu; und weil man keine Rücksicht auf die Wärme nahm, womit ich jedes Unrecht; das andern widerfuhr, fast noch stärker empfand als ob es mir selbst geschehen wäre, so setzte sich unvermerkt die Meinung fest; daß ein hartherziger, ungefälliger und hoffärtiger Mensch aus mir werden würde. Ich hatte daher unter den Knaben meinen Alters nicht nur keinen Freund, sondern gewöhnlich vereinigten sich bei jeder Gelegenheit alle gegen mich: und so wurde ich, wiewohl es mir nicht an Neigung zur Geselligkeit fehlte, genöthigt mich in mich selbst zurückzuziehen, und beinahe alle meine Unterhaltung in dem Fleiße zu suchen, womit ich vorzüglich den mathematischen und mechanischen Wissenschaften oblag, die ich, der Schärfe ihrer Beweise und des Gebrauchs wegen, der sich von ihnen bei so vielerlei Verrichtungen des Lebens machen läßt, allen andern vorzog, deren Nutzbarkeit weniger in die Augen fiel.So wie ich an Verstand und Alter zunahm, bildete sich durch die Aufmerksamkeit auf mich selbst, an die ich so früh gewöhnt worden war, auch die vorhin erwähnte Anlage meines

Charakters aus: die Liebe zur Wahrheit machte, daß ich nichts so sehr scheute, als besser zu scheinen als ich mich selbst fühlte; die Liebe zur Gerechtigkeit, daß ich mich immer sorgfältiger hütete, andern durch rasche Urtheile oder zu scharfe Strenge Unrecht zu thun. Aber was ich am stärksten scheute, war, durch eine zu schmeichelhafte Meinung von meinem eignen Werthe mich selbst zu hintergehen; und das Gefühl, vor mir selbst Unrecht zu haben, wurde der empfindlichste Schmerz, dessen ich fähig war: lieber hätte ich die schärfste körperliche Pein erduldet, als einen Vorwurf von meinem eignen Herzen. Zu meinem Glücke trug ich einen Angeber in meinem Busen, dessen Wachsamkeit nicht der kleinere Fehltritt entging, und einen Richter, der sich durch keine Ausflüchte oder Entschuldigungen der Eigenliebe bestechen ließ. Ich mußte mich also, um Friede vor ihnen zu haben, der möglichsten Unsträflichkeit befleißigen; und so bewirkte die Scheu vor mir selbst, was bei vielen keine andere Furcht erzwingen kann.Ich hatte kaum das zwanzigste Jahr zurückgelegt, als ein Krieg, der zwischen den Tarentinern und einem benachbarten Volke ausbrach, mir zur Pflicht machte, mit andern Jünglingen meines Alters ins Feld zu ziehen. Ich diente, wie es unsre Gesetze fordern, von unten auf, und zog mir durch mein Verhalten im Lager sowohl, als bei allen gefährlichen Gelegenheiten woran ich Theil nehmen mußte, die Aufmerksamkeit und den Beifall meiner Obern zu. Die Ruhmbegierde, die dadurch in mir erweckt wurde, durch die Grundtriebe meines Charakters geleitet und beschränkt, spornte mich zu mehr als gewöhnlichen Anstrengungen. Ich that mich hervor: und

wiewohl das Feuer, womit ich, mehr als Einmal, um einen meiner Cameraden zu retten, mein eignes Leben wagte, mir die Liebe der Menge zu erwerben schien; so zeigte sich doch bei Gelegenheit, daß nur wenige mir das öffentliche Lob und die Preise, die ich mehrmals von unsern Obern erhielt, verzeihen konnten. Aber auch unter den letztern waren einige, auf deren Söhne oder Anverwandte die öffentliche Meinung von meinen Vorzügen einen Schatten warf, der ihre Eitelkeit beleidigte, oder ihren Entwürfen nachtheilig seyn mochte; und diese ermangelten nicht, mir bei jedem Anlaß Beweise ihres bösen Willens zu geben. Man stellte meine Handlungen in ein falsches Licht, verkleinerte meine Verdienste, machte mich für fremde Fehler verantwortlich, kurz, man ließ nichts unversucht, was meine Ruhmbegierde abzukühlen und meinen Diensteifer zu ermüden und abzuschreiben dienen konnte. Der Verdruß, der bei diesen Kränkungen mein Gemüth bald empörte, bald verdüsterte, war um so lebhafter, da ich aus eignem Gefühle nichts von Neid wußte, und mir nicht vorstellen konnte, wie gerade das, was einem Menschen Achtung und Liebe erwerben sollte, ihm Haß und Verfolgung zuziehen könne. Indessen wußte mein guter Genius auch diese Widerwärtigkeiten zu meinem Besten zu kehren. Diese Ruhmbegierde, welcher ich mich bisher mit zu vieler Sicherheit überlassen hatte, und die mir itzt so oft die peinlichste Unruhe verursachte, wurde vor Gericht gefordert, um die Gültigkeit ihrer Ansprüche und Beschwerden untersuchen zu lassen; und es befand sich, daß sie nicht zu Recht bestehen konnten. Was hat die Ungerechtigkeit andrer Menschen mit deiner Pflicht zu

schaffen? sagte der Richter in meinem Busen: wie? du thust also deine Schuldigkeit als Bürger, du handelst edel und großmüthig als Mensch, um durch fremden Beifall dafür belohnt zu werden? Erröthe vor dir selbst! Willst du die Ruhe deines Gemüths vor den Pfeilen des Neides sicherstellen, so strebe nach jeder Tugend, jedem Verdienst, weil es deine Schuldigkeit ist! Thue bei jeder Aufforderung zum Handeln das Beste, was dir möglich ist, weil du nicht weniger thun könntest, ohne einen Vorwurf von deinem eignen Herzen zu verdienen: und laß dir an dem Bewußtseyn genügen deine Pflicht gethan zu haben, andere mögen es erkennen oder nicht! — Ich fühlte die Wahrheit und Gerechtigkeit dieses Urtheils, und bestrebte mich von diesem Augenblick an, jede Empfindlichkeit über Beleidigungen meiner Eigenliebe zu ersticken, und eben so gleichgültig gegen unverdiente Demüthigung, als bescheiden bei verdientem Ruhme zu bleiben.Auf diese Weise, lieber Agathon, bildete und befestigte sich mein moralischer Charakter, bevor ich mich noch in mir selbst gedrungen, oder von außen veranlaßt fand, über die theoretischen Grundsätze, in welchen ich erzogen war, und an denen ich mehr durch Gefühl und Glauben als durch wissenschaftliche Ueberzeugung hing, schärfer nachzudenken. Als der Friede in meinem Vaterlande wieder hergestellt war, unternahm ich eine Reise nach Griechenland, Asien und Aegypten. Ich ließ mich in den Mysterien von Eleusis und Samothrake, und zu Sais in den geheimen Orden der Isis und des Osiris iniziiren, und machte zufälligerweise Bekanntschaft mit verschiedenen Philosophen und Sophisten von Profession, deren Lehrsätze von den

Pythagorischen weit abgingen, und von welchen einige durch die Subtilität ihrer Unterscheidungen in Begriffen, worin ich nichts mehr zu unterscheiden fand, und durch die scheinbare Stärke ihrer Einwürfe gegen Sätze, die ich immer als ausgemacht angenommen hatte, meine bisherige Sicherheit über diese Dinge um so mehr zu beunruhigen anfingen, da ich eben so wenig aufgelegt war einen Schüler als einen Antagonisten dieser spitzfindigen Vernünftler abzugeben. Mein entschiedner Widerwille gegen alles was nach Sophisterei schmeckte, und gegen alle Speculationen, die mir ins praktische Leben keinen Einfluß zu haben schienen, oder das Gemüth nur in einen Labyrinth von Zweifeln führten, um es ihm dann selbst zu überlassen wie es sich wieder herausfinden könnte, hatte mich immer von subtilen Nachforschungen über bloß intelligible Gegenstände entfernt. Aber die Ideen von einem allgemeinen System der Wesen; von einem unendlichen Geiste, der diesen unendlichen Körper beseelt, und einer unsichtbaren Welt, die der Typus der sichtbaren ist; von Gott als dem obersten Gesetzgeber dieser beiden Welten; von der ewigen Fortdauer aller Bürger der Stadt Gottes, und von den Stufen, aus welchen die verschiedenen Classen der Wesen sich dem unerreichbaren Ziele der Vollkommenheit ewig nähern: diese erhabenen Ideen waren mir immer wichtig gewesen, hatten stark auf mein Gemüth gewirkt und, da sie durch die Pythagorische Erziehung zu Glaubenspunkten bei mir geworden waren, sich mit meiner ganzen Vorstellungsart so verwebt, daß es mir itzt, da ich dem Grund ihrer Wahrheit nachforschen sollte, beinahe eben so vorkam, als ob man mir zumuthete den Grund von meinem

eigenen Bewußtseyn anzugeben. Indessen sah ich scharfsinnige und gelehrte Männer, denen diese Ideen unerweislich, andere, denen sie schwärmerisch und chimärisch vorkamen; und je mehr ich die Welt kennen lernte, desto augenscheinlicher bewies mir der ungeheure Contrast der gemeinen Vorstellungsart und Lebensweise der Menschen mit derjenigen, die unmittelbar aus jenen Ideen folgt, wie unendlich klein die Zahl derjenigen seyn müsse, die von der Wahrheit derselben überzeugt genug wären, um sie zum Regulativ ihres Lebens zu machen. Gleichwohl schienen unsere weisesten Gesetzgeber, so wie die Stifter unsrer ehrwürdigsten Mysterien, sie als etwas Ausgemachtes angenommen, und entweder von ihnen ausgegangen zu seyn, oder auf sie hingeführt zu haben. Von jeher glaubten die besten unter den Menschen an sie, und lebten nach Maximen, die sich auf diesen Glauben gründeten. Und du selbst, sagte ich mir, würdest du den deinigen um irgend einen Preis aufgeben wollen? dich nicht für höchst unglücklich halten, wenn es jemals einem Sophisten gelingen könnte, dich zu bereden, daß er Täuschung sey? Wäre dieß, wenn diese Ideen nicht in dem Innersten deiner Natur gegründet wären? Und sind sie dieß, sollte es wohl so schwer seyn, bloß mit Hülfe des allgemeinen Menschenverstandes bis auf ihren Grund zu kommen?Ich beschloß mich von dieser Möglichkeit durch die That selbst zu überzeugen."Die Wahrheit, sagte ich zu mir selbst, die für alle wahr und allen unentbehrlich ist, die den Menschen zu seiner Bestimmung, zu dem was für ihn das höchste Gut ist führen soll, kann nicht in dem Brunnen des Demokritus versenkt liegen;

sie kann kein Arcanum seyn, dessen Besitz die Natur einigen Wenigen ausschließlich anvertraut hätte, und welchem zu Liebe man nach Memphis oder Sais, oder zu den Gymnosophisten am Ganges reisen müßte. Sie muß uns allen nahe genug liegen, um durch bloße Aufmerksamkeit auf uns selbst, durch bloßes Forschen in unsrer eignen Natur, so weit das Licht in uns selbst den Blick des Geistes dringen läßt, gefunden zu werden."Das erste, was die auf mich selbst geheftete Betrachtung an mir wahrnimmt, ist, daß ich aus zwei verschiedenen und einander entgegengesetzten Naturen bestehe: einer thierischen, die mich mit allen andern Lebendigen in dieser sichtbaren Welt in Eine Linie stellt; und einer geistigen, die mich durch Vernunft und freie Selbstthätigkeit unendlich hoch über jene erhebt. Durch jene hange ich auf tausendfache Weise von allem, was außer mir ist, ab, bin den Bedürfnissen, die allen Thieren gemein sind, unterworfen, und selbst in der thätigen Aeußerung meiner Triebe an die Gesetze der Bewegung, der Organisation und des animalischen Lebens durch eben dieselbe Nothwendigkeit gefesselt, welcher jedes andere Thier unterthan ist. Durch diese fühle ich mich frei, unabhängig, selbstthätig, und bin nicht nur Gesetzgeber und König einer Welt in mir selbst, sondern auch fähig, mich bis auf einen gewissen Grad zum Herrn über meinen Körper und über alles andere, was innerhalb der Gränzen meines Wirkungskreises liegt, zu machen."Natürlicherweise wird durch diese wunderbare, mir selbst unerklärliche Vereinigung zweier so ungleichartiger Naturen,

die thierische auf tausendfache Weise veredelt, die geistige hingegen, die ihrer Natur nach lauter Kraft, Licht und Feuer ist, abgewürdigt, verdüstert, erkältet, und, um mich eines sehr passenden Platonischen Bildes zu bedienen, durch die Verwicklung in die niedrigen Geschäfte und Bedürfnisse des Thiers, wie ein Vogel der an der Leimruthe hängen blieb, verhindert, ihren natürlichen freien Flug zu nehmen, und sich in ein reineres Element zu gleichartigen Wesen aufzuschwingen."Gleichwohl, da nun einmal diese Vereinigung das ist, was den Menschen zum Menschen macht: worin anders könnte die höchste denkbare Vollkommenheit der Menschheit bestehen, als in einer völligen, reinen, ungestörten Harmonie dieser beiden zu Einer verbundenen Naturen? — Eine Vollkommenheit, welche, wie unerreichbar sie auch mir, und vermuthlich jedem andern Menschen seyn mag, dennoch, insofern ich sie durch getreue Anwendung der Mittel, die in mir selbst liegen, befördern kann, das unverrückte Ziel meiner ernstlichsten Bestrebung seyn muß."Wenn aber eine solche Harmonie unter irgend einer Bedingung stattfinden kann, so ist es gewiß nur unter dieser, daß der thierische Theil meines Wesens von dem geistigen, nicht umgekehrt der leztere von dem erstern, regiert werde; denn was kann widersinniger seyn, als daß der Blinde den Sehenden führe, und der Verständige dem Unverständigen gehorche? Diese Unterordnung ist um so gerechter, weil der thierische Theil bei der Regierung des vernünftigen keine Gefahr läuft, und nicht die geringste Beeinträchtigung in seinen rechtmäßigen

Forderungen von ihm zu besorgen hat: indem dieser zu gut erkennt, was zum gemeinsamen Besten des ganzen Menschen erfordert wird, um dem thierischen Theil etwas zu versagen, was die Natur zu einer Bedingung seiner Erhaltung und seines Wohlseyns gemacht hat. Das Thier hingegen weiß nichts von den höhern Bedürfnissen des Geistes; es kümmert sich nichts darum, ob sein unruhiges Bestreben jede seiner Begierden zu befriedigen den Geist in edlern Geschäften und reinern Vergnügungen beeinträchtiget, und ist so wenig geneigt, seinen eigennützigen Forderungen Ziel und Maß setzen zu lassen, daß es sich vielmehr jeder Einschränkung entgegen sträubt, und, sobald die Vernunft einschlummert oder den Zügel nicht fest genug hält, sich einer Willkürlichkeit und Oberherrschaft anmaßt, wovon die Zerrüttung der ganzen innern Oekonomie des Menschen die unfehlbare Folge ist."Da nun dieß (wie die Erfahrung zeigt) der Fall — wo nicht bei allen, doch gewiß bei der ungleich größern Zahl der Menschen auf dem ganzen Erdboden ist, und von jeher gewesen zu seyn scheint; und da nicht nur die allgemein anerkannte sittliche Verdorbenheit, sondern selbst der größte Theil der physischen Uebel und Leiden, die das Menschengeschlecht drücken und peinigen, nothwendige Folgen dieser Herrschaft des thierischen Theils unsrer Natur über den geistigen sind, und der schändlichen Dienstbarkeit, zu welcher die Vernunft sich nur zu leicht bequemt, wenn der Sirenengesang der Leidenschaften einmal den Eingang zu unserm Herzen gefunden hat: so folgt hieraus, als eine Regel, die — ohne Rücksicht auf mögliche, seltne Ausnahmen — mit gutem Fug für allgemein

gelten kann: "daß ein rastloser Kampf der Vernunft mit der Sinnlichkeit, oder des geistigen Menschen mit dem thierischen, das einzige Mittel sey, wodurch der Verderbniß unsrer Natur und den Uebeln aller Arten, die sich aus ihr erzeugen, abgeholfen werden könne; und daß dieser innerliche Krieg in jedem Menschen so lange dauern müsse, bis das zum Dienen geborne Thier die weise und gerechte Herrschaft der Vernunft anerkennt und willig dulden gelernt hat." — Eine Bedingung, wozu das thierische Ich, dessen Thätigkeit immer nur seine eigene Befriedigung zum Zweck hat, schwerlich auf eine andere Art zu bringen ist, als wenn das geistige durch jede mögliche Verstärkung seiner Kraft und Energie eine ganz entschiedene Uebermacht gewonnen hat."Wenn dieß, wie ich innigst überzeugt bin, Wahrheit ist, so habe ich von diesem Augenblick an kein dringenderes Geschäft, als mich zu diesem Endzweck aller Kräfte und Hülfsquellen, die in der Natur meines Geistes liegen, in ihrer ganzen Stärke bedienen zu lernen; und nun begreife ich erst, warum der Delphische Apollo (hierin das Organ der höchsten Weisheit die zu allen Menschen spricht) denen, die in seinen Tempel eingehen, nichts Wichtigeres zu empfehlen wußte, als: kenne dich selbst! Denn worin anders als in dieser Unbekanntheit mit der hohen Würde unsrer Natur mit der unendlichen Erhabenheit des Unsichtbaren in uns über das Sichtbare, und mit der unerschöpflichen Stärke unsrer bloß durch Nichtgebrauch so wenig vermögenden Geisteskraft worin anders liegt die erste Quelle aller unsrer Uebel? — Ich entschlage mich hierbei jeder Untersuchung die aus Mangel eines festen Grundes, worauf

die Vernunft fußen könnte, sich in bloße Hypothesen verliert. Woher es auch komme — es sey nun, daß die Seele, wie Plato sagt, durch den Sturz aus jenen überhimmlischen Gegenden (dem Element ihres vorigen Lebens) in die Materie, wo sie in einen irdischen Körper gefesselt wird, betäubt, nur langsam und stufenweise wieder zur Besinnung kommen könne; oder daß die Schwäche des kindischen Alters, die langsame und meistens sehr mangelhafte Ausbildung des Instruments, von dessen Tauglichkeit und reiner Stimmung ihre eigene Entwicklung größtentheils abhängt, und die übrigen Umstände, deren Einfluß sich bei den meisten auf ihr ganzes Leben erstreckt, hinlänglich sey, jene traurige Erfahrung zu erklären — genug, die Sache selbst liegt am Tage. Nur die Unkunde seiner eigenen Natur und Würde kann den Geist in einen so unnatürlichen Zustand versetzen, daß er, anstatt zu herrschen, dient; anstatt sich vom Stoffe loszuwinden, immer mehr in ihn verwickelt wird; anstatt immer höher emporzusteigen, immer tiefer herabsinkt; anstatt mit Götterspeise sich zu nähren, an thierischen Genüssen oder leeren Schaugerichten sich genügen läßt. Aber selbst in diesem schmählichen Zustande dringt sich ihm ein geheimes Gefühl seiner höhern Natur wider Willen auf; er ist weit entfernt sich in seiner Erniedrigung wohl zu befinden; er macht sich selbst Vorwürfe über jede seiner unwürdige Gefälligkeit gegen die Tyrannen, deren Ketten er sich zu tragen schämt, und die ewige Unruhe in seinem Innern, das stete Bestreben sein eigenes Bewußtseyn zu übertäuben, das häufige Wechseln der Gegenstände seiner Begierden und Leidenschaften, das ewige Sehnen nach einem unbekannten Gute, dessen er

bei jeder Veränderung vergebens habhaft zu werden hofft, beweiset überflüssig, wie wenig Befriedigung er in jenen Genüssen findet, und daß keine Glückseligkeit für ihn ist, so lang' ihm ihre reinste Quelle im Grunde seines eigenen Wesens verborgen und verschlossen ist."Wohl mir, sagte ich bei diesen Betrachtungen zu mir selbst, daß ein Zusammenfluss günstiger Umstände, Erziehung, Unterricht, frühzeitige Anstrengung des Geistes, und Aufmerksamkeit auf die Stimme meines guten Dämons mich davor bewahrt haben, diese unglücklichen Erfahrungen an mir selbst zu machen! Wohl mir, daß weder ein überwiegender Hang zur Sinnlichkeit, noch irgend eine andre selbstsüchtige Leidenschaft, die Liebe zur Wahrheit, und das Bestreben den Beifall des Richters in meinem Herzen zu verdienen, in mir überwältigte! Aber darf ich mir darum schmeicheln, die Oberherrschaft der Vernunft in mir sey nun auf immer so fest gegründet, daß es keiner Vorsicht gegen den vielleicht nur versteckten Feind bedürfe, der, gerade wenn ich mich seiner am wenigsten versehe, aus irgend einem Hinterhalt hervorbrechen, und mein unbesonnenes Selbstvertrauen zu Schanden machen könnte? Ich habe die Laufbahn des Lebens kaum begonnen — Geburt, Erziehung, Verhältnisse und die Erwartung meiner Mitbürger bestimmen mich zu den öffentlichen Geschäften meines Vaterlandes — tausend Gelegenheiten, wo meine Rechtschaffenheit, meine Geduld, meine Gewalt über mich selbst, meine Beharrlichkeit im Guten aus unerwartete Proben gesetzt werden mögen, stehen mir bevor — mancher schwere Kampf, vielleicht mit einem mir noch unbekannten Gegenkämpfer

in meinem Busen, oder doch gewiß mit den Leidenschaften, Irrthümern und Lastern andrer Menschen, mit welchen mein Lauf in der Republik oder meine Verhältnisse im bürgerlichen Leben mich verwickeln werden, und — was von allen Gefahren vielleicht die gefährlichste ist — der Geist der Welt, die unmerkliche Ansteckung herrschender Beispiele, Vorurtheile und Gewohnheiten! — Werde ich auf einer so schlüpfrigen Bahn nie ausglitschen? unter so mancherlei Geschäften, Sorgen und Zerstreuungen, bei einer so vielfach getheilten Aufmerksamkeit auf die Dinge außer mir, die Aufmerksamkeit auf mein Inneres nie verlieren? unter dem lärmenden Getümmel von außen die Stimme der Weisheit, die leisen Warnungen meines guten Dämons nie überhören? — Es ist so schwer emporzusteigen, so leicht herabzuschlüpfen; und auf der Bahn, die ich zu gehen entschlossen bin, kommt man durch bloßes Stillstehen schon zurück! — O gewiß, Archytas, hast du jede mögliche Verstärkung, die deinem Willen eine auf immer entschiedene Uebermacht geben kann, gewiß hast du ein System von Lebensweisheit vonnöthen, das auf einem Grunde stehe, den keine entgegenwirkende Kraft weder von außen noch innen zu erschüttern vermögend sey!"Aber warum solltest du suchen was du bereits gefunden hast? Oder wie wolltest du unter den Träumereien müßiger Grübler, oder in den Schulen geschwätziger Sophisten, die aus ihrer Denkkraft eine gymnastische Kunst machen, und stolz darauf sind, mit gleicher Fertigkeit und gleichem Erfolg heute für die Ideen des Parmenides, morgen für die Atomen des Leucippus zu fechten, wie solltest du bei ihnen eine bessere Norm

deiner ganzen innern Verfassung, einen sicherern Leitfaden durch den Labyrinth des Lebens, ein edleres Ziel deines Daseyns, mehr Aufmunterung und Kraft zur Tugend, und einen festern Grund guter Hoffnungen finden können, als in den Grundlehren eben dieser erhabenen Weisheit, in welcher du erzogen wurdest? Den Glauben, "daß dieses unermeßliche Weltall — worin die Vernunft, sobald ihr reiner Blick durch keine zufällige Ursache verdüstert ist, selbst in den bloßen Schattenbildern der wesentlichen Dinge, die durch die äußern Sinne in den innern fallen, einen so genauen Zusammenhang von Ursache und Wirkung, Mittel und Endzweck, eine so schöne Einfalt in der unerschöpflichsten Mannichfaltigkeit, im ewigen Streit der verschiedensten Elemente und Zusammensetzungen so viel Harmonie, im ewigen Wechsel der Dinge so viel Einförmigkeit; bei aller anscheinenden Verwirrung so viel Ordnung, im Ganzen einen so reinen Zusammenklang aller Theile zu Einem gemeinschaftlichen Zweck wahrnimmt, — nicht das Werk eines blinden Ungefährs oder mechanisch wirkender plastischer Formen sey, sondern die sichtbare Darstellung der Ideen eines unbegränzten Verstandes, die ewige Wirkung einer ewigen geistigen Urkraft, aus welcher alle Kräfte ihr Wesen ziehen, eine einzige nach einerlei Gesetz regierte Stadt Gottes, deren Bürger alle vernünftige Wesen, deren Gesetzgeber und Regierer die Gerechtigkeit und Weisheit selbst, deren ewiges Grundgesetz gemeinschaftliches Aufstreben nach Vollkommenheit ist."Je mehr ich diesen großen, alles umfassenden Gedanken durchzudenken strebe, je völliger fühle ich mich überzeugt, daß sich die ganze Kraft meines Geistes in ihm erschöpft, daß er

alle seine wesentlichen Triebe befriedigt, daß ich mit aller möglichen Anstrengung nichts Höheres, Besseres, Vollkommneres denken kann, und — daß eben dieß der stärkste Beweis seiner Wahrheit ist. Von dem Augenblick an, da mir dieser göttlichste aller Gedanken, in der ganzen Klarheit, womit er meine Seele durchstrahlt, so gewiß erscheint, als ich mir selbst meiner vernünftigen Natur bewußt bin, fühle ich, daß ich mehr als ein sterbliches Erdenwesen, unendlich mehr als der bloße Thiermensch bin, der ich äußerlich scheine; fühle, daß ich durch unauflösliche Bande mit allen Wesen zusammenhange, und daß die Thätigkeit meines Geistes, anstatt in die traumähnliche Dauer eines halb thierischen Lebens eingeschränkt zu seyn, für eine ewige Reihe immer höherer Auftritte, immer reinerer Enthüllungen, immer kraftvollerer, weiter gränzender Anwendungen eben dieser Vernunft bestimmt ist, die mich schon in diesem Erdenleben zum edelsten aller sichtbaren Wesen macht.Von diesem Augenblick an fühle ich, daß der Geist allein mein wahres Ich seyn kann, daß nur seine Geschäfte, sein Wohlstand, seine Glückseligkeit, die meinigen sind; daß es Unsinn wäre, wenn er einen Körper, der ihm bloß als Organ zur Entwicklung und Anwendung seiner Kraft und zu Vermittlung seiner Gemeinschaft und Verbindung mit den übrigen Wesen zugegeben ist, als einen wirklichen Theil seiner selbst betrachten, und das Thier, das ihm dienen soll, als seinesgleichen behandeln wollte; aber mehr als Unsinn, Verbrechen gegen das heiligste aller Naturgesetze, wenn er ihm die Herrschaft über sich einräumen, oder sich in ein schnödes Bündniß gegen sich selbst mit ihm einlassen, eine Art von Centaur aus

sich machen, und die Dienste, die ihm das Thier zu leisten genöthigt ist, durch seiner selbst unwürdige Gegendienste erwiedern wollte.Von diesem Augenblick an, da mein Rang in der Schöpfung, die Würde eines Bürgers der Stadt Gottes, die mich zum Genossen einer höhern Ordnung der Dinge macht, entschieden ist, gehöre ich nicht mir selbst, nicht einer Familie, nicht einer besondern Bürgergesellschaft, nicht einer einzelnen Gattung, noch dem Erdschollen, den ich mein Vaterland nenne, ausschließlich an; ich gehöre mit allen meinen Kräften dem großen Ganzen an, worin mir mein Platz, meine Bestimmung, meine Pflicht, von dem einzigen Oberherrn, den ich über mir erkennen darf, angewiesen ist. Aber eben darum, und nur darum, weil in diesem Erdenleben mein Vaterland der mir unmittelbar angewiesene Posten, meine Hausgenossen, Mitbürger, Mitmenschen, diejenigen sind, auf welche meine Thätigkeit sich zunächst beziehen soll, erkenne ich mich verbunden, alles mir Mögliche zu ihrem Besten zu thun und zu leiden, sofern keine höhere Pflicht dadurch verletzt wird. Denn von diesem Augenblick an sind Wahrheit, Gerechtigkeit, Ordnung, Harmonie und Vollkommenheit, ohne eigennützige Rücksicht auf mich selbst; die höchsten Gegenstände meiner Liebe; ist das Bestreben, diese reinsten Ausstrahlungen der Gottheit in mir zu sammeln und außer mir zu verbreiten, mein letzter Zweck, die Regel aller meiner Handlungen, die Norm aller Gesetze, zu deren Befolgung ich mich verbindlich machen darf. Mein Vaterland hat alles von mir zu fordern, was dieser höchsten Pflicht nicht widerspricht: aber sobald sein vermeintes Interesse eine ungerechte Handlung von mir forderte,

so hörten für diesen Moment alle seine Ansprüche an mich auf, und wenn Verlust meiner Güter, Verbannung und der Tod selbst auf meiner Weigerung stände, so wäre Armuth, Verbannung und Tod der beste Theil den ich wählen könnte.Kurz, Agathon, von dem Augenblick an, da jener große Gedanke von meinem Innern Besitz genommen hat und die Seele aller meiner Triebe, Entschließungen und Handlungen geworden ist, verschwindet auf immer jede Vorstellung, jede Begierde, jede Leidenschaft, die mein Ich von dem Ganzen, dem es angehört, trennen, meinen Vortheil isoliren, meine Pflicht meinem Nutzen oder Vergnügen unterordnen will. Nun ist mir keine Tugend zu schwer, kein Opfer, das ich ihr bringe, zu theuer, kein Leiden um ihrentwillen unerträglich. Ich scheine, wie du sagtest, mehr als ein gewöhnlicher Mensch; und doch besteht mein ganzes Geheimniß bloß darin, daß ich diesen Gedanken meines göttlichen Ursprungs, meiner hohen Bestimmung, und meines unmittelbaren Zusammenhangs mit der unsichtbaren Welt und dem allgemeinen Geist, immer in mir gegenwärtig, hell und lebendig zu erhalten gesucht habe, und daß er durch die Länge der Zeit zu einem immerwährenden leisen Gefühl geworden ist. Fühle ich auch (wie es kaum anders möglich ist) zuweilen das Loos der Menschheit, den Druck der irdischen Last, die an den Schwingen unsers Geistes hängt, verdüstert sich mein Sinn, ermattet meine Kraft, — so bedarf es nur einiger Augenblicke, worin ich den schlummernden Gedanken der innigen Gegenwart, womit die alles erfüllende Urkraft auch mein innerstes Wesen umfaßt und durchdringt, wieder in mir erwecke, und es wird mir, als ob

ein Lebensgeist mich anwehe, der die Flamme des meinigen wieder ansagt, wieder Licht durch meinen Geist, Wärme durch mein Herz verbreitet, und mich wieder stark zu allem macht, was mir zu thun oder zu leiden auferlegt ist.Und ein System von Ideen, dessen Glaube diese Wirkung thut, sollte noch eines andern Beweises seiner Wahrheit bedürfen als seine bloße Darstellung? Ein Glaube, der die Vernunft so völlig befriedigt, der mir sogar durch sie selbst aufgedrungen wird, und dem ich nicht entsagen kann ohne meiner Vernunft zu entsagen; ein Glaube, der mich auf dem geradesten Wege zur größten sittlichen Güte und zum reinsten Genuß meines Daseyns führt, die in diesem Erdenleben möglich sind; ein Glaube, der, sobald er allgemein würde, die Quellen aller sittlichen Uebel verstopfen, und den schönen Dichtertraum vom goldnen Alter in seiner höchsten Vollkommenheit realisiren würde; — ein solcher Glaube beweiset sich selbst, Agaton! und wir können alle seine Gegner getrost auffordern, einen vernunftmäßigern und der menschlichen Natur zuträglichen aufzustellen. Wirf einen Blick auf das, was die Menschheit ohne ihn ist, — was sie wäre, wenn sich nicht in den Gesetzgebungen, Religionen, Mysterien und Schulen der Weisen immer einige Strahlen und Funken von ihm unter den Völkern erhalten hätten, — und was sie werden könnte, werden müßte, wenn er jemals herrschend würde, — was sie schon allein durch bloße stufenweise Annäherung gegen dieses vielleicht nie erreichbare Ziel werden wird: und alle Zweifel, alle Einwendungen, die der Unglaube der Sinnlichkeit und die Sophisterei der Dialektik gegen ihn aufbringen können, werden

dich so wenig in deiner Ueberzeugung stören, als ein Sonnenstäubchen eine vom Uebergewicht eines Centners niedergedrückte Wagschale steigen machen kann.Ich kenne nur einen einzigen Einwurf gegen ihn, der beim ersten Anblick einige Scheinbarkeit hat; den nämlich, daß er zu erhaben für den großen Haufen, zu rein und vollkommen für den Zustand sey, zu welchem das Schicksal die Menschheit auf dieser Erde verurtheilt habe. Aber, wenn es nur zu wahr ist, daß der größte Theil unsrer Brüder sich in einem Zustande von Rohheit, Unwissenheit, Mangel an Ausbildung, Unterdrückung und Sklaverei befindet, der sie zu einer Art von Thierwelt zu verdammen scheint, worin dringende Sorgen für die bloße Erhaltung des animalischen Lebens den Geist niederdrücken und ihn nicht zum Bewußtseyn seiner eignen Würde und Rechte kommen lassen: wer darf es wagen, die Schuld dieser Herabwürdigung der Menschheit auf das Schicksal zu legen? Liegt sie nicht offenbar an denen, die aus höchst sträflichen Bewegursachen alle nur ersinnlichen Mittel anwenden, sie so lange als möglich in diesem Zustande von Thierheit zu erhalten? — Doch, diese Betrachtung würde uns jetzt zu weit führen. — Genug, wir, mein lieber Agathon, wir kennen unsre Pflicht: nie werden wir, wenn Macht in unsre Hände gegeben wird, unsre Macht anders als zum möglichsten Besten unsrer Brüder gebrauchen; und wenn wir auch sonst nichts vermögen, so werden wir ihnen, so viel an uns ist, zu jenem "Kenne dich selbst" behülflich zu seyn suchen, welches sie unmittelbar zu dem einzigen Mittel führt, wodurch den Uebeln der Menschheit gründlich geholfen werden

kann. Freilich ist dieß nur stufenweise, nur durch allmähliche Verbreitung des Lichtes, worin wir unsre wahre Natur und Bestimmung erkennen, möglich: aber auch bei der langsamsten Zunahme desselben, wofern es nur zunimmt, wird es endlich heller Tag werden; denn so lange die Unmöglichkeit einer stufenweise wachsenden Vervollkommnung aller geistigen Wesen unerweislich bleiben wird, können wir jenen trostlosen Cirkel, worin sich das Menschengeschlecht, nach der Meinung einiger Halbweisen, ewig herumdrehen soll, zuversichtlich für eine Chimäre halten. Bei einer solchen Meinung mag wohl die Trägheit einzelner sinnlicher Menschen ihre Rechnung finden; aber sie ist weder der Menschheit im Ganzen zuträglich, noch mit dem Begriffe, den die Vernunft sich von der Natur des Geistes macht, noch mit dem Plane des Weltalls vereinbar, den wir uns, als das Werk der höchsten Weisheit und Güte, schlechterdings in der höchsten Vollkommenheit, die wir mit unsrer Denkkraft erreichen können, vorzustellen schuldig sind; und dieß um so mehr, da wir nicht zweifeln dürfen, daß die undurchbrechbaren Schranken unsrer Natur, auch der der höchsten Anstrengung unsrer Kraft, uns immer unendlich weit unter der wirklichen Vollkommenheit dieses Plans und seiner Ausführung zurückbleiben lassen.Auch der Einwurf, daß der Glaube einer Verknüpfung unsers Geistes mit der unsichtbaren Welt und dem allgemeinen System der Dinge gar zu leicht die Ursache einer der gefährlichsten Krankheiten des menschlichen Gemüthes, der religiösen oder dämonistischen Schwärmerei, werden könne, ist von keiner Erheblichkeit. Denn es hängt ja bloß von uns

selbst ab, dem Hange zum Wunderbaren die Vernunft zur Gränze zu setzen, Spielen der Phantasie und Gefühlen des Augenblicks keinen zu hohen Werth beizulegen, und die Bilder, unter welchen die alten Dichter der Morgenländer ihre Ahnungen vom Unsichtbaren und Zukünftigen sich und andern zu versinnlichen gesucht haben, für nichts mehr als das was sie sind, für Bilder übersinnlicher und also unbildlicher Dinge anzusehen. Verschiedenes in der Orphischen Theologie, und das Meiste, was uns in den Mysterien geoffenbaret wird, scheint aus dieser Quelle geflossen zu seyn. Diese lieblichen Träume der Phantasie sind dem kindischen Alter der Menschheit angemessen, und die Morgenländer scheinen auch hierin, wie in allem Uebrigen, immer Kinder bleiben zu wollen. Aber uns, deren Geisteskräfte unter einem gemäßigtern Himmel und unter dem Einfluß der bürgerlichen Freiheit entwickelt, und durch keine Hieroglyphen, heilige Bücher und vorgeschriebene Glaubensformeln gefesselt werden, — uns, denen erlaubt ist, auch die ehrwürdigsten Fabeln des Alterthums für — Fabeln zu halten, liegt es ob, unsre Begriffe immer mehr zu reinigen, und überhaupt von allem, was außerhalb des Kreises unsrer Sinne liegt, nicht mehr wissen zu wollen, als was die Vernunft selber davon zu glauben lehrt, und als für unser moralisches Bedürfniß zureicht. Die Schwärmerei, die sich im Schatten einer unbeschäftigten Einsamkeit mit sinnlichgeistigen Phantomen und Gefühlen nährt, läßt sich freilich an einer so frugalen Beköstigung nicht genügen; sie möchte sich über die Gränzen der Natur wegschwingen, sich durch Ueberspannung ihres innern Sinnes schon in diesem Leben in einen

Zustand versetzen können, der uns vielleicht in einem andern bevorsteht; sie nimmt Träume für Erscheinungen, Schattenbilder für Wesen, Wünsche einer glühenden Phantasie für Genuß; gewöhnt ihr Auge an ein magisches Helldunkel, worin ihm das volle Licht der Vernunft nach und nach unerträglich wird, und berauscht sich in süßen Gefühlen und Ahnungen, die ihr den wahren Zweck des Lebens aus den Augen rücken, die Thätigkeit des Geistes einschläfern, und das unbewachte Herz wehrlos jedem unvermutheten Anfall auf seine Unschuld Preis geben. Gegen diese Krankheit der Seele ist Erfüllung unsrer Pflichten im bürgerlichen und häuslichen Leben das sicherste Verwahrungsmittel; denn innerhalb dieser Schranken ist die Laufbahn eingeschlossen, die uns hienieden angewiesen ist, und es ist bloße Selbsttäuschung, wenn jemand sich berufen glaubt, eine Ausnahme von diesem allgemeinen Gesetze zu seyn. Die reine, einfache, ganz und allein auf das Bedürfniß unsers Geistes gegründete Theosophie der Pythagoräer setzt uns unmittelbar in diese Laufbahn; und, weit entfernt uns von den Geschäften des Lebens abzuziehen, unterweiset und übt sie uns vielmehr in der besten Art sie auszurichten, und bewaffnet uns mit moralischen Kräften, die uns jede Tugend, jede Selbstüberwindung, jedes Opfer das wir der Pflicht zu bringen haben, nicht nur möglich, sondern sogar leicht und natürlich machen. Meine Erfahrung, liebster Agathon, gibt mir das Recht hierüber so zuversichtlich zu sprechen. Wenn ich in fünfzig den öffentlichen Angelegenheiten meines Vaterlandes aufgeopferten Jahren, worin ich alle Stufen durchgegangen und fünfmal die höchste Würde unsrer

Republik in Krieg und Frieden bekleidet habe, nie müde wurde meine Schuldigkeit zu thun, wie mannichfaltig und hartnäckig auch der Widerstand war, den ich zu bekämpfen hatte; wenn ich jeden Wechsel des Glücks und der Volksgunst mit Mäßigung und Geduld ertrug, und aus jeder Prüfung meiner Rechtschaffenheit reiner und geläuterter hervorging; wenn endlich, wie ich mit frohem Herzen sagen kann, die allgemeine Liebe und das unbegränzteste Vertrauen meiner Mitbürger die einzige, wiewohl in meinen Augen die reichste Belohnung ist, die ich mit meinen Diensten gewonnen habe: so sagt mir mein innerstes Bewußtseyn, daß ich nicht dazu hätte gelangen können, wenn meine Kräfte nicht immer durch den Glauben an dieses geistige Band, das mich mit einer höhern Ordnung der Dinge, mit der allgemeinen Stadt Gottes und mit der Gottheit selbst verknüpft, — genährt, ermuntert, gestillt, und in besondern Lagen sogar über ihr gewöhnliches Maß erhöhet worden wären. Indessen darf ich nicht vergessen, hinzuzusetzen, daß mir in dem langen Laufe meines Lebens vornehmlich zwei Maximen zu Statten gekommen sind, ohne welche dieser Glaube seine ganze Wohlthätigkeit nicht erweisen, ja vielmehr in manchen Fällen eher nachtheilig wirken könnte. Die erste war: bei jeder Aufforderung der Pflicht eben so zu handeln und meiner selbst so wenig zu schonen, als ob alles bloß auf meine eigenen Kräfte ankäme, und nur nach gewissenhaftester Erfüllung dieser Bedingung mich eines höhern Beistandes gewiß zu halten; die zweite: ungeachtet meines Glaubens an den Zusammenhang unsers gegenwärtigen Lebens mit einem zukünftigen, welches den Schlüssel zu allem, was uns

in jenem unerklärbar ist, enthält — mein gegenwärtiges Leben als ein Ganzes zu betrachten, ihm eine eben so große Wichtigkeit beizulegen, und allem, was meine jetzigen Verhältnisse von mir forderten, eben so sorgfältig genug zu thun, kurz, so viel möglich, jeden Augenblick desselben eben so wohl und weislich anzuwenden, als ob mein ganzes Daseyn auf die Dauer dieses Erdenlebens eingeschränkt wäre. Du wirst, bei eigenem Nachdenken, diese Maximen in der Anwendung auf die gemeinen und täglichen Pflichten des Lebens so reich an praktischem Nutzen finden, Agathon, daß ich nicht nöthig habe, sie dir als die heilsamsten Mittel gegen eine gewisse subtile Schwärmerei, die uns unsre Schuldigkeit bequemer als recht ist zu machen sucht, anzupreisen.Hier hielt der ehrwürdige Greis ein, um seine noch nicht dunkel gewordnen Augen auf dem Gesichte seines jungen Freundes ruhen zu lassen, aus welchem ihm die reine Beistimmung seiner ganzen Seele lebendiger und stärker entgegen glänzte, als er sie durch die beredtesten Worte auszudrücken vermögend gewesen wäre. Agathon war um diese Zeit in jeder Ansicht völlig dazu vorbereitet, durch eine solche Darstellung von der Orphisch-Pythagorischen Glaubenslehre und Lebensphilosophie überzeugt zu werden; und wofern auch noch einer oder ein anderer Zweifelsknoten zurück geblieben wäre, so wurde er in den Unterredungen, welche sie in der Folge öfters über diesen Gegenstand und einige besondere Punkte des Pythagorischen Systems mit einander pflogen, zu einer so völligen Befriedigung seiner Vernunft, als in Dingen dieser Art verlangt werden kann, aufgelöst. Denn sobald das Herz keine geheimen

Einwendungen gegen eine Lehre zu machen hat, die uns so schwere Pflichten auferlegt, und die Aufopferungen, welche sie fordert, bloß durch Vortheile und Freuden, die nur ein reines Herz dafür zu erkennen und zu genießen fähig ist, vergütet: so fällt es einem gesunden Verstande so wenig schwer, sich von ihrer Wahrheit gewiß zu machen, daß es ihm vielmehr unmöglich ist sie nicht zu glauben, oder sich durch Zweifel und Einwürfe, selbst im Falle daß er sie nicht ganz aus dem Wege räumen könnte, irre und ungewiß machen zu lassen.

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