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Kapitel 

C. M. Wieland's Werke.

Sechster Band.

Viertes Kapitel.

Beschluß der Geschichte Agathons.

Die Geschichte der ehmaligen Danae, ihre Verhältnisse gegen Agathon, und alles was seit ihrem unverhofften Wiedersehen zwischen ihnen vorgegangen, war nun, nachdem Agathon den Archytas mit allen besondern Umständen der seinigen bekannt gemacht hatte, für diesen Weisen und seine Familie kein Geheimniß mehr. Es erfolgte was Agathon voraus gesehen hatte. Chariklea, welche zu edel gesinnt war um eine erschlichene Hochachtung usurpiren zu wollen, fand daß sie durch die Geständnisse, wozu sie ihren Freund selbst aufgemuntert hatte, in den Augen dieser im höchsten Grade gutartigen Menschen mehr gewonnen als verloren habe; oder vielmehr, sie konnte dadurch, daß sie alles von ihr wußten, nicht anders als gewinnen, indem das, was sie als Danae gewesen war, den

Werth des Charakters erhöhte, den sie als Chariklea behauptete, und sie um so viel achtungswürdiger machte, je weniger ihr die Opfer, die sie der Tugend brachte, zu kosten schienen.Archytas belebte und stärkte, wie leicht zu erachten ist, die lobenswürdige Entschließung, welche Chariklea unserm Helden abgedrungen hatte; und Psyche entschädigte Charikleen für das, was sie dabei verlor, durch Verdopplung der Freundschaft, die sie einander gleich beim ersten Anblick einflößten. Die letztere erwählte nun Tarent zu ihrem gewöhnlichen Aufenthalte. Durch die Bande der Sympathie mit der Familie des Weisen vereinigt, schien sie in kurzer Zeit einen Theil derselben auszumachen. Ihre angenehmste Beschäftigung war, der Schwester Agathons drei Töchter erziehen zu helfen, über welche die Grazien alle ihre Gaben ausgegossen hatten. Sie gewöhnte sich unvermerkt, diese holdseligen Kinder als ihre eigenen anzusehen. Die Kinder wuchsen in der Ueberredung auf, als ob sie zwei Mütter hätten, und Psyche fand das größte Vergnügen daran, den angenehmen Irrthum, der aus ihr und ihrer Freundin nur Eine Person machte, in diesen jungen Herzen zu unterhalten.Agathon, dem Gelübde getreu, welches er der Tugend und Charikleen gethan hatte, betrug sich von dieser Zeit an so vorsichtig, daß — den einzigen Archytas und vielleicht Charikleen selbst ausgenommen — niemand gewahr wurde, wie viel ihm die Gewalt kostete, die er sich dabei anthun mußte. Aber nach Verdruß einiger Monate erfuhr er, daß er mehr versprochen habe als er halten könne. Es gibt Augenblicke von Begeisterung, wo unsre Seele Kräfte in sich fühlt, die nicht

ihre eigenen sind, und auf deren Fortwirken sie vergebens Rechnung macht. Entfernung allein konnte ihn retten. Der Gedanke, sich von seinen Freunden, von Psyche, von Charikleen entfernen zu müssen, war entsetzlich für ihn: aber von dem Augenblick an, da er die Nothwendigkeit dieser Trennung fühlte, war sein Entschluß gefaßt. Archytas billigte denselben; und die Schwestern (so pflegten sich Psyche und Chariklea zu nennen) liebten ihren Bruder zärtlich genug, um ihm eine Trennung, deren wahren Beweggrund sie stillschweigend vermutheten, so viel als nur möglich war zu erleichtern.Agathon durchreisete, in Gesellschaft eines gelehrten Freundes aus der Pythagorischen Schule und eines Malers von Sicilien, alle Provinzen der damals bekannten Welt, in welchen die Griechische Sprache geredet oder wenigstens verstanden wurde. Natur und Kunst, und was in beiden für den Menschen das wichtigste ist, der Mensch, waren die Gegenstände seiner aufmerksamen Beobachtung.Er nahm wenig Vorurtheile mit, da er auszog, und fand sich auch von diesen wenigen entledigt, als er wieder zurück kam. Da er während der ganzen Zeit seiner philosophischen Wanderschaft einen bloßen Zuschauer des Weltschauspiels abgab, so konnte er desto unbefangener von den Handlungen sowohl als von den handelnden Personen urtheilen.Seine Beobachtungen vollendeten, was der Umgang mit Archytas und anhaltendes Nachdenken über seine eigenen Erfahrungen angefangen hatten: sie überzeugten ihn, daß die Menschen, im Durchschnitt genommen, überall so sind, wie

Hippias sie schilderte, wiewohl sie so seyn sollten, wie Archytas durch sein Beispiel lehrte.Er sah allenthalben — was man bis auf diesen Tag sehen kann —daß sie nicht so gut sind; als sie seyn könnten, wenn sie weiser wären: aber er sah auch, daß sie unmöglich besser werden können, ehe sie weiser werden; und daß sie nicht weiser werden können, bis ihre Väter und Mütter, Ammen, Pädagogen, Lehrer und Priester, mit allen ihren übrigen Vorgesetzten durch alle Stufen, vom Gassenvogte bis zum Könige, so weise geworden sind, als jedes, nach dem Maße seiner Beziehung und seines Einflusses, seyn müßte, um seiner Pflicht genug zu thun und der menschlichen Gesellschaft wirklich nützlich zu seyn.Er sah also, daß wahre Aufklärung zu moralischer Besserung das Einzige ist, worauf sich die Hoffnung besserer Zeiten, das ist, besserer Menschen, gründet. Er sah, daß alle Völker, die wildesten Barbaren so gut als die cultivirten und verfeinerten Griechen, die Tugend ehren, und daß keine Gesellschaft, sollte es auch nur eine Horde Arabischer Räuber seyn, ohne einigen Grad von Tugend, oder, richtiger zu reden, ohne etwas das ihr ähnlich ist und ihre Stelle vertritt, bestehen kann. Er fand jeden Ort, jede Provinz, jede Nation, die er kennen lernte, desto glücklicher, je besser die Sitten der Einwohner waren; und, ohne Ausnahme, sah er die meiste Verderbniß, wo äußerste Armuth, oder äußerster Reichthum herrschte.Er fand bei allen Völkern, die er durchwanderte, die Religion in Aberglauben gehüllt, zum Schaden der bürgerlichen

Gesellschaft gemißbraucht, und durch Heuchelei oder offene Gewalt zum Werkzeuge des Betrugs, der Herrschsucht, des Geizes, der Wollust und des Müßiggangs herabgewürdigt. Er sah, daß einzelne Menschen und ganze Völker Religion ohne Tugend haben können, und daß sie dadurch desto schlimmer sind; aber er sah auch, ohne Ausnahme, daß einzelne Menschen und ganze Völker, wenn sie schon gut sind, durch Gottesfurcht desto besser werden.Er sah die Gesetzgebung, die Staatsverwaltung und die Polizei allenthalben voller Mängel und Gebrechen: aber er sah auch, daß die Menschen ohne eben diese Gesetze, Staatsverwaltung und Polizei noch weit schlimmer und unglücklicher wären. Er hörte allenthalben über Mißbräuche klagen, sah daß jedermann die Welt verbessert wissen wollte, sah eine Menge Leute, die an der Verbesserung derselben zu arbeiten bereit und an Vorschlägen unerschöpflich waren; aber keinen einzigen, der die Verbesserung an ihm selbst anfangen lassen wollte; — und er erklärte sich ganz natürlich daraus, warum es nirgends besser werden wollte. Er sah die Menschen überall durch zwei einander entgegen stehende Triebe beherrscht, den Trieb zur Gleichheit, und den Trieb willkürlich über andre den Meister zu spielen; und dieß überzeugte ihn, daß es, so lange diesem Uebel nicht abgeholfen ist, durch keine Veränderung der Regierungsform besser mit den Menschen werden kann, sondern daß sie, in einem ewigen Cirkel, von königlichem Despotismus und aristokratischem Uebermuth — zu Volks- und Pöbels-Tyrannie, und von dieser wieder zu jenen, so lange herumgewälzt werden müssen, bis eine aus den

Grundlehren der reinsten Religion und Moral abgeleitete Gesetzgebung, und eine durch dieselbe veranstaltete Erziehung, den thierischen Trieb zu gesetzloser Willkür in allen Menschen gebändiget haben wird.Er sah, daß allenthalben Künste, Fleiß und gute Wirthschaft den Reichthum, der Reichthum den Luxus, der Luxus verdorbene Sitten, verdorbene Sitten den Untergang des Staats, zur Folge haben: aber er sah auch, daß die Künste, wenn sie ihre Richtung von der Weisheit erhalten, die Menschheit verschönern, entwickeln, veredeln; daß Kunst die Hälfte unsrer Natur, und der Mensch ohne Kunst das elendeste unter allen Thieren ist.Er sah durch die ganze Oekonomie der Menschheit die Gränzen des Wahren und Falschen, des Guten und Bösen, des Rechts und Unrechts, unmerklich in einander fließen; und überzeugte sich dadurch immer mehr von der Nothwendigkeit weiser Gesetze, und von der Pflicht des guten Burgers, dem Gesetz mehr zu glauben als seinem eigenen Gefühle.Alles aber, was er gesehen hatte, befestigte ihn in der Ueberzeugung: "daß der Mensch — auf der einen Seite den Thieren des Feldes, auf der andern den höhern Wesen und der Gottheit selbst verwandt — zwar eben so unfähig sey, ein bloßes Thier als ein bloßer Geist zu seyn; aber, daß er nur alsdann seiner Natur gemäß lebe, wenn er immer empor steige; daß jede höhere Stufe der Weisheit und Tugend, die er erstiegen hat, seine Glückseligkeit erhöhe; daß Weisheit und Tugend allezeit das richtige Maß sowohl der öffentlichen als der Privatglückseligkeit unter den Menschen gewesen; und daß

diese einzige Erfahrungswahrheit, welche kein Zweifler zu entkräften fähig ist, alle Trugschlüsse der Hippiasse zerstäube, und die Theorie der Lebensweisheit des Archytas unerschütterlich befestige."Diese Kenntnisse und diese Ueberzeugung waren die Früchte, welche Agathon in Stunden der einsamen Betrachtung oder des geselligen Nachforschens in freundschaftlichen Unterredungen, zum Vortheil seines Moralsystems, aus seinen Beobachtungen zog. Sie machten nur einen kleinen, aber in der That den wichtigsten Theil des Schatzes von schönen und nützlichen Kenntnissen aus, den er von einer dreijährigen Reise durch die vornehmsten Theile der damaligen Welt nach Tarent zurück brachte.Er hatte die überschwängliche Freude, seinen alten Freund Archytas und alle die er liebte in eben dem glücklichen Zustande wieder anzutreffen, worin er sie verlassen hatte. Der Tag des Wiedersehens war ein Fest der Freundschaft, an welchem das ganze Tarent Antheil nahm. Was ihre Freude vollkommen machte, war die Bemerkung, daß Agathon zwischen Psyche und Chariklea keinen Unterschied machte, und gänzlich vergessen zu haben schien, daß die letztere —einst Danae, und wie sehr sie es für ihn gewesen war.Er befestigte sich nunmehr in dem Entschlusse, Tarent zu seinem beständigen Sitze zu erwählen. Die Tarentiner beschenkten ihn mit ihrem Bürgerrecht: er verdiente das Glück, im Schooße der Freiheit und des Friedens unter gutartigen Menschen zu leben, und sie waren eines solchen Mitbürgers würdig.Durch alles was er erfahren und beobachtet hatte überzeugt,

"daß man in einem großen Wirkungskreise zwar mehr schimmern, aber in einem kleinen mehr Gutes schaffen kann," widmete er sich mit Vergnügen und Eifer den öffentlichen Angelegenheiten dieser Republik; und so lange Kritolaus und Agathon lebten, glaubten die Tarentiner nichts dadurch verloren zu haben, daß Archytas in eine bessere Welt gegangen war.

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