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Kapitel 

C. M. Wieland's Werke.

Sechster Band.

Zweites {Kapitel.}

Eine Unterredung zwischen Agathon und Archytas.

Es war an einem paradiesischen Sommermorgen, als Agathon den ehrwürdigen Alten, in welchem er immer seinen guten Dämon zu sehen glaubte, in einem Saale, dessen Thüren gegen den Garten und die aufgehende Sonne offen standen, mit einem aufgeschlagnen Buch auf den Knien, allein und, wie es schien, in Gedanken sitzen sah. Er wollte aus Bescheidenheit unbemerkt vorübergehen; aber Archytas, der ihn schon von fern erblickt hatte, stand auf, rief ihm näher zu kommen, und bot sich ihm auf seinem Spaziergang zum Begleiter an.Die Wohnung, wo Archytas mit einem Theil seiner Familie sich den Sommer über aufzuhalten pflegte, war, ungeachtet ihrer geringen Entfernung von der Stadt, eine eigentliche Villa, und größtentheils mit weitläufigen Gärten umgeben,

die sich auf der einen Seite in einem sanften Abhang bis zum Meerufer hinzogen, auf der andern eben so unmerklich zu einer Anhöhe emporstiegen, wo ein kleiner Tempel des Apollo, aus einem Lorberwäldchen hervorglänzend, dem Aug' einen schönen Ruhepunkt gab. Schlängelnde Gänse zwischen Hecken von Myrten, hier und da von schlanken Pappeln und weinbekränzten Ulmen unterbrochen, und mit blühenden Lauben und Moosbänken zum Ausruhen abgesetzt, führten von verschiedenen Seiten zu diesem Tempel, dessen auf Ionischen Säulen ruhende Vorhalle eine herrliche Aussicht auf die Stadt Tarent, ihren Hafen und ihren von allen Arten von Fahrzeugen, Handelsschiffen und Fischerbarken belebten Meerbusen gewährte.Du hättest mir nicht gelegner begegnen können, Agathon, sagte Archytas, indem sie einen der Gänge einschlugen, die zu dem Tempel führten; ich war eben mit dir beschäftigt, und eine Stelle deiner Lebensgeschichte, die ich schon zum zweitenmale lese, erregte das Verlangen in mir, dir die Gedanken, auf welche sie mich führte, auf der Stelle mitzutheilen. Du wirst dich erinnern, daß es dir schon mehr als Einmal begegnet ist, der schönen Schwärmerei deiner Jugend gegen mich zu erwähnen, und von dem glücklichen Zustande, worein sie dich versetzte, als von etwas, dessen unwiederbringlichen Verlust du beklagtest, zu sprechen. Wie ich finde, trug deine Versetzung aus der heiligen Stille des Delphischen Hains in das Getümmel von Athen, und eine allzu frühe Verwicklung in politische Verhältnisse und Geschäfte allerdings etwas, aber doch im Grunde nur sehr wenig zu diesem Verluste bei; denn

die Unfälle, die dort auf dich zusammenstürzten, schienen vielmehr deiner Seele ihren ganzen vorigen Schwung wieder gegeben zu haben. Das Haus der schönen Danae zu Smyrna war es, wo eine fur dich ganz neue Art ben Bezauberung dein nichts Böses besorgendes Herz unvermerkt auf den Ton der Personen und Gegenstände, die dich umgaben, herabstimmte. Ich finde ein sehr treffendes Bild der Täuschung, die du damals erfuhrest, in dem Wettstreite der Sirenen und Musen, den dir Danae in den ersten Tagen einer noch schuldlosen Liebe zu hören — und zu sehen gab. Du glaubtest durch den Gesang einer Muse in den Tempel der himmlischen Aphrodite versetzt zu seyn; und in der That war es die gefährlichste aller Sirenen, die dich, an Aug' und Ohr und Herz gefesselt, ohne dein Wissen in ihre Klippen zog. Die Verwandlung, die während dieser süßen Bezauberung mit dir vorging, war in der That groß, Agathon: viel größer vielleicht — als du dir selbst vorstellst. —Du erschreckst mich, Archytas! — rief Agathon erblassend, indem er seine Augen mit verdoppelter Aufmerksamkeit und Erwartung auf das freundlich-ernste Gesicht des Alten heftete.Hier ist die Stelle, fuhr Archytas fort, deren ich vorhin erwähnte, und die mich auf diese Vermuthung gebracht hat. Du bestrebtest dich, der schönen Danae — welcher wahrscheinlich alles, was du ihr damals vorsagtest, seltsam und wunderbar genug vorkommen mußte — einen Begriff davon zu geben, wie es möglich gewesen sey, daß die Orphische Theosophie, in welcher du zu Delphi erzogen wurdest, sich deiner Seele so gänzlich habe bemächtigen können; und du thatest dieß mit

Wendungen und Ausdrücken, die, wenn ich nicht sehr irre, eine Art von falscher Scham verrathen, als ob du befürchtetest, deiner Zuhörerin, wiewohl du sie damals noch nicht als die Pflegetochter Aspasiens kanntest, lächerlich zu scheinen, wenn du jener schönen Schwärmerei, wie du es nanntest, einen höhern Werth beilegtest, als sie (damals wenigstens) in ihren Augen haben konnte. Und doch hätte Orpheus und Pythagoras selbst das Wahre und Erhabne jener göttlichen Philosophie nicht stärker in so wenig Worten zusammenfassen und darstellen können, als du es in folgender Stelle thatest: — "Wie willkommen ist uns in diesem Alter eine Philosophie, welche den Vortheil unsrer Wißbegierde mit der Neigung zum Wunderbaren, die der Jugend eigen ist, vereiniget, alle unsre Fragen beantwortet, alle Räthsel erklärt, alle Aufgaben auflöset! — Eine Philosophie, die alles Todte aus der Natur verbannt, jeden Atom der Schöpfung mit geistigen Wesen bevölkert, jeden Punkt der Zeit mit Begebenheiten befruchtet, die für künftige Ewigkeiten reifen! — Ein System, in welchem die Schöpfung so unermeßlich ist als ihr Urheber; welches uns in der anscheinenden Verwirrung der Natur eine majestätische Symmetrie, in der Regierung der moralischen Welt einen unveränderlichen Plan; in allen Classen und Geschlechtern der Wesen einen einzigen Staat, in den verwickelten Bewegungen aller Dinge einen allgemeinen Ruhepunkt, in unsrer Seele einen künftigen Gott, in der Zerstörung unsers Körpers die Wiedereinsetzung in unsre ursprüngliche Vollkommenheit, und im finstern Abgrunde der Zukunft helle Aussichten in gränzenlose Wonne zeigt!" — Und von einer solchen Philosophie,

Agathon, konntest du der schönen Danae sagen: "Glückliche Erfahrungen" — welche andere als die, wozu sie selber dir verholfen hatte? — "hätten dich das Schwärmende und Unzuverlässige derselben kennen gelehrt?" —Wiewohl Archytas seinem jungen Freunde diesen in eine Frage an sein Herz gehüllten Vorwurf wit einem Blick und einem Tone der Stimme machte, die ihm die Hälfte seiner Strenge benahmen: so zeigte doch Agathon durch sein Erröthen und sein niedergeschlagenes Auge, daß er dessen ganze Stärke fühle. Nur zu gewiß, sagte er, befand ich mich damals unter einem gefährlichen Zauber, da ich meine Erfahrungen mit den Schlüssen, die ich daraus zog, verwechselte, ohne gewahr zu werden, wie viel Antheil die Verführung meiner Sinne an dessen Trugschlüssen hatte. Daß die Orphischen Geheimlehren so viel von der vollen Stärke ihrer vormaligen Wirkung auf mein Gemüth verloren hatten, bewies im Grunde nichts gegen ihre Zuverlässigkeit: es war die natürliche Folge unmerklich entgegenwirkender Einflüsse, des täglichen Umgangs mit Danae und ihrer Gesellschaft, der für mich ganz neuen Welt; in der ich lebte, der neuen Sprache und Vorstellungsart, an die ich unvermerkt in ihr gewöhnt wurde, und der süßen Trunkenheit, in welche mich die Liebe zu einer in jeder Betrachtung so außerordentlichen Person gesetzt hatte. Noch itzt fühle ich mich, durch ich weiß nicht welche innere Gewalt, genöthigt zu glauben, daß es damit eben so natürlich zuging, als wenn das ganze majestätische Heer der Sterne, dessen Anblick eine in sich gesammelte Seele mit so großen Gefühlen und Ahnungen begeistert, vor der Allgewalt der emporsteigenden Sonne aus

unsern Augen weggedrängt wird. Die Täuschung ist in beiden Fällen dieselbe, wiewohl wir unser Leben für die Wahrheit dessen, was wir dabei fühlen, verbürgen könnten.Weil das, was wir fühlen, für uns wirklich wahr ist, versetzte Archytas. Denn die Sterne bleiben zwar in Gegenwart der Sonne wo sie sind, und funkeln immer mit gleicher Lebhaftigkeit fort: aber da sie nicht mehr in unsre Augen funkeln, sind sie für uns erloschen. Indessen läßt sich daraus nicht folgern, wir hätten uns getäuscht als wir sie sahen. Eher ließe sich mit einigem Scheine vermuthen, daß die Sonne, deren Licht das ganze Sternenheer in unsern Augen vernichtet, ein mächtigeres Wesen sey als sie: und doch wäre auch dieser Schluß trüglich; denn der kleinste dieser Sterne würde eben so wohl vermögend seyn die Sonne aus unsern Augen verschwinden zu machen, wenn er uns näher stände als sie. Auch bedarf es, um den ganzen gestirnten Himmel auszulöschen, eben keiner Sonne: ein so armseliges Ding als eine Pechfackel, wenn sie unserm Auge nah' genug ist, vermag eben dasselbe, wo nicht mit ihrem Scheine, wenigstens mit ihrem Dampfe. Aber wir wollen der Würde unsrer Natur nichts vergeben, lieber Agathon. Auch damals, da die Fackel in Amors Hand, die deinen bezauberten Augen eine Sonne schien, das erhabene System der Orphischen Theosophie nach und nach in deiner Seele verschwinden machte, blieb doch noch etwas zurück, das ohne Zweifel, wenn du ihm getreuer gewesen wärest, und dich der ganzen Kraft, die es dir mittheilen konnte, hättest bedienen wollen, dich schon damals zum Herrn über deine Leidenschaft gemacht, und alles in deinem Innern

wieder in den vorigen, oder vielmehr in einen noch bessern Stand gesetzt haben würde.O gewiß, fiel Agathon ein; denn in dem nämlichen Augenblicke, da ich schwach oder verblendet genug war, der schönen Danae mit einem so großen Siege zu schmeicheln, war dieß Etwas mächtig genug wir das Geständniß abzunöthigen, "ich fühlte, daß in jenen Ideen, — die dem sinnlichen Menschen nichts Besseres als ausschweifende Träume scheinen, wiewohl ihre Uebereinstimmung mit unsern edelsten Neigungen der ächte Stempel ihrer Wahrheit ist, — daß selbst in jenen Träumen mehr Wirklichkeit mehr Unterhaltung und Aufmunterung für unsern Geist, eine Quelle reinerer Freuden, und ein festerer Grund der Selbstzufriedenheit liege, als in allem was uns die Sinne Angenehmes anzubieten haben."Dieß fühltest du, mein Bester, sagte Archytas, — und wie hättest du nicht fühlen sollen was die gewisseste aller Wahrheiten ist? — du fühltest es selbst im Angesicht der reizenden und mit Schwärmerei geliebten Danae, und unterlagest dennoch der Versuchung, dieses so mächtige, so wohlthätige, so heilige Gefühl unbenutzt wieder erkalten zu lassen? Oder ließest du dich wohl gar durch die Sophistereien einer von Leidenschaft und Sinnlichkeit besprochenen Vernunft bereden, es für schwärmerisch und unzuverlässig zu halten?In der That, erwiederte Agathon, schwankte mein Gemüth in jenem Zeitraume zwischen zwei entgegengesetzten, gleich mächtigen Gefühlen, und ich wußte den Zwiespalt, der aus meiner veränderten Vorstellungsart in meinem Inwendigen entstanden war, zuletzt nicht anders beizulegen als durch

einen gezwungnen Waffenstillstand, der eine bloße Folge der Erschöpfung beider streitenden Parteien ist, und, da der Gegenstand des Kriegs unentschieden bleibt, die Gelegenheit zu neuen Fehden immer offen läßt. Nachdem einmal jene sublimen Ideen und Grundlehren in der Zauberluft, die ich in Danaens Hause athmete, eben so viel von ihrer Macht über meine Seele verloren hatten, als Liebe und Befriedigung der feinsten und (wenn ich so sagen kann) geringsten Sinnlichkeit über sie gewann: so war es nur allzunaturlich, daß die Allgewalt gegenwärtiger wirklicher Gefühle auch die lebhaftesten Erinnerungen ehmaliger Empfindungen, deren Gegenstände außerhalb dieser sichtbaren Welt lagen, verdunkelte, und unvermerkt dem Gedanken Raum verschaffte, daß diese Empfindungen wohl nur Kinder der Phantasie, schöne Träume und süße Täuschungen einer jugendlichen, nach hoher Glückseligkeit dürstenden Seele gewesen seyn könnten. Die mannichfaltigen Vollkommenheiten der liebenswürdigen Danae, die Feinheit der Bande, womit sie mein ganzes Wesen umwickelte, die Natur meiner Liebe selbst, die mit der Liebe der Musen, mit dem reinsten Wohlgefallen an allem, was Natur und Kunst dem feinsten Geschmack Schönes zu genießen geben können, so innig verwebt war, und selbst an die edelsten Triebe und Gesinnungen des Herzens, an alles sittlich Schöne und Gute, so sanft und gefällig sich anschmiegte, — alles dieß gab unvermerkt der Einbildung immer mehr Wahrscheinlichkeit, in Danae das wirklich gefunden zu haben, was ich in den Hainen von Delphi nur geahnet, und aus Unerfahrenheit in die überirdischen Formen und Bilder, die durch die Orphischen

Mysterien in meine Seele gekommen wären, gekleidet hätte. Und nun war es einer von Liebe und Vergnügen, wie du sagtest, bestochenen Vernunft ein Leichtes, die Einwürfe eines Hippias gegen die Realität jener übersinnlichen Ideen und Lehrpunkte, zumal aus den reizenden Lippen einer Danae, immer scheinbarer, und zuletzt gar unwiderleglich zu finden. Nun schien mir nichts überzeugender, als daß es Thorheit sey, von Platons überhimmlischen Gegenden — einer Welt die uns von allen Seiten verschlossen und unzugangbar ist — mehr wissen zu wollen, als daß wir nichts von ihr wissen. Unsre größte Angelegenheit (sagte ich mir) ist, zu wissen, wer wir selbst sind, wo wir sind, und wozu wir sind. Hierin führen uns unsre Sinne mit Hülfe unsrer Vernunft gerade so weit, aber nicht einen Schritt weiter, als nöthig ist um einzusehen, daß wir in diesem kurzen Daseyn unsern Wünschen und Bestrebungen kein höheres Ziel setzen können, als selbst glücklich zu seyn, und so viel Glück als möglich um uns her zu verbreiten. Weiter reicht unser Vermögen nicht. Den undurchdringlichen Schleier, der auf dem Geheimnisse der Natur liegt, aufdecken zu wollen, wäre eben so vergeblich als vermessen. Ich soll nicht wissen, weder woher ich kam noch wohin ich gehe; soll nicht wissen, wie und durch welche Kraft dieses unermeßliche All, worin ich der unbedeutende Bewohner eines Sonnenstaubes bin, zusammen gehalten wird: und so will ich denn auch nichts von dem allen wissen, was die Natur eben darum vor mir verborgen hat, weil ich nichts davon wissen soll! — Dieß, mein ehrwürdiger Freund, waren die Resultate der Vorstellungsart, die sich während meines Aufenthalts

in Smyrna meines Kopfes bemächtigte, ohne jedoch weder mein Herz gänzlich zu befriedigen, noch verhindern zu können, daß nicht von Zeit zu Zeit eine geheime Stimme in mir sich gegen die Gleichgültigkeit erhob, mit welcher meine Vernunft dem Gebrauch ihrer wesentlichsten Kräfte so enge Gränzen setzte. Immer, so oft ich diese Stimme hörte, nahm ich mir vor, sobald ich wieder zu der Stille gelangen könnte, die zum Forschen in den Tiefen unsers eigenen Wesens nöthig ist, eine scharfe Untersuchung über mich selbst ergehen zu lassen, und nicht eher zu ruhen, bis ich eine völlige Harmonie zwischen meinem Kopf und Herzen wieder hergestellt hätte. Aber der Wirkungskreis, worin ich mich zu Syrakus herumtrieb, ließ mich nie zu dieser Stille kommen. Ich lebte dort in einem Elemente, das meine Vorstellungsart, so zu sagen, immer noch mehr verdickte; die neuen Erfahrungen, die ich machte, waren der Hippiassischen Theorie zu günstig, als daß die entgegenstehende nicht eher dadurch hätte verlieren als gewinnen sollen. Mein Herz blieb zwar noch immer mein einziger Führer: aber auch dieses gerieth durch allzugroße Sicherheit in Gefahr sich selbst zu täuschen; und es bedurfte des unvermutheten Besuchs, den ich von Hippias in meinem Verhaft erhielt, mich aus dem Zauberschlummer einer allzugroßen Selbstzufriedenheit zu erwecken. Denn dieser veranlaßte mich zu einer Prüfung meines Innern, wovon das Resultat war, daß ich zwar erfahrner und klüger, aber nicht besser von Syrakus weggehen würde, als ich gekommen sey. Ich fühlte nun mehr als jemals den Mangel der Unterstüzung, die ein inniges Gefühl unsers Zusammenhangs mit

der unsichtbaren Welt der Tugend gibt; meine zeitherige Vorstellungsart wurde mir zweifelhaft; und wiewohl meine Ruhe nicht sehr dadurch gestört wurde, so war es mir doch zuweilen lästig, daß ich mir die Einwürfe meiner Vernunft gegen jene Lehrsätze, zu denen mein Herz eine so besondere Anmuthung hatte, auf keine befriedigende Weise aufzulösen vermögend war. In dieser Verfassung, bester Archytas, kam ich hierher; sahe dich, sahe dein Haus, dein Privatleben, dein öffentliches Leben, und war so glücklich in Verhältnisse mit dir zu kommen, die mir Gelegenheit verschafften mich zu überzeugen, daß diese moralische Vollkommenheit, die dich so hoch über alle gewöhnlichen Menschen erhebt, die Frucht eben derselben Ideen und Grundsätze ist, von denen ich noch im Hause des Sophisten zu Smyrna begeistert wurde: mit dem großen Unterschied zwischen uns, daß bei dir Weisheit ist, was bei mir schwerlich fur etwas Besseres als schöne Schwärmerei gelten konnte, da es mehr auf Gefühl und Phantasie als auf feste Ueberzeugung und deutlich gedachte Begriffe gegründet war, und daher auch in der Probe, worauf Hippias und Danae diese vermeinte Weisheit setzten, so schlecht bestand. Nun, Archytas, habe ich dir alles gesagt, was du wissen mußtest, um meinen Zustand gründlich zu beurtheilen, und zu sehen (setzte er lächelnd hinzu), ob Hoffnung da ist, mich mit mir selbst in bessere Uebereinstimmung zu bringen.Die beste Hoffnung, erwiederte Archytas in einem eben so muntern Tone, sofern (wie ich bei dir mit gutem Fug voraussehen kann) der Grund des Uebels nicht im Willen sitzt. Denn dieß haben die Krankheiten der Seele vor den

körperlichen voraus, daß keine unheilbar ist sobald der Patient geheilt seyn will.Unter diesen Reden waren sie unvermerkt bei dem Tempel des Apollo angekommen, in dessen von Lorberbäumen umschatteter Vorhalle sie sich auf einen marmornen Sitz niederliessen. Der herrliche Anblick des von der Morgensonne angestrahlten Meerbusens hätte zu einer andern Zeit alle andern Bilder in Agathons Seele ausgelöscht: aber itzt zog er seinen nur flüchtig über diese prächtige Scene hinlaufenden Blick gar bald wieder zurück, um ihn auf die ernst-heitere Stirne des alten Weisen zu heften, und alle seine Sinne den Aufschlitzen zu öffnen, die er aus einem Munde erwartete, von welchem man, wie von Homers Nestor, sagen konnte:

Daß von der Zunge ihm süßer als Honig die Rede dahin floß.
Nach einer kurzen Stille fuhr Archytas fort: nichts ist gewisser, Agathon, als daß den heiligen Schleier, der das Geheimniß der Natur verhüllt, kein Sterblicher aufzudecken vermag, und daß es, wie du sagtest, thörichte Vermessenheit wäre, es versuchen zu wollen. Aber hieraus mit den Hippiassen zu folgern, was über uns sey, gehe uns nichts an, wäre der rasche Schluß einer zum Dienst der Sinnlichkeit erniedrigten Vernunft, die sich selbst ihre verlorne Würde zu verbergen sucht, und auf ihr edelstes Vorrecht Verzicht thut. Denn wer, der jenem goldenen, vom Delphischen Gotte dem Menschen empfohlnen "Erkenne dich selber" gehorsam war, könnte läugnen wollen, daß diese Vernunft, die uns über unsre thierischen Halbbrüder so hoch erhebt, noch eine edlere Bestimmung habe, als die bloße Verschönerung unsers animalischen

Lebens? Unstreitig ist der Mensch, wenigstens in dieser Periode seines Daseyns, nach allen seinen Anlagen zu schließen, weniger zum Forschen als zum Thun geboren. Aber wenn ihm gleich verborgen ist und bleiben soll, woher er kam, und wohin er geht (beides vermuthlich weil es für ihn selbst so besser ist), so steht es doch in seiner Macht, zu wissen, wie und wodurch er mit dem großen Ganzen, dessen Theil er ist, zusammenhängt, und wie er handeln muß, um seiner Natur gemäß zu handeln, und seine Bestimmung im Weltall zu erfüllen. Lass' ihn immerhin nur einen beseelten Atom auf einem Planeten seyn, der selbst nur ein Atom im Unendlichen ist: der Geist, der in diesem Atom webt und wirkt, strebt mit seinen Gedanken über Raum und Zeit empor, und ist stark genug, mit seiner Kraft einer über ihm zusammenstürzenden Welt Trotz zu bieten. Seine Sinne begränzen sich, so zu sagen, selbst, und scheinen ihn in den engen Kreis der Thierheit einzuschließen: aber wo sind die Gränzen der Kraft und Thätigkeit jenes Geistes, der ihm Erde und Meer unterwürfig gemacht hat? des Geistes, der ihm Mittel entdeckt hat, in tausend Fällen die Unzulänglichkeit des äußern Sinnes zu ersetzen, die Irrthümer desselben zu berichtigen, und selbst im Umfang der sichtbaren Natur, der durch ihn unermeßlich erscheint, der wirklichen Beschaffenheit der Dinge viel näher zu kommen, als der bloße Sinn vermögend ist?Doch lass' es auch seyn, daß in der sichtbaren Welt das Meiste für uns Täuschung, alles nur Erscheinung ist; lass' seyn, daß wir mit unsern äußerlichen Sinnen so wenig in das innere Wesen der Dinge als in Platons überhimmlische

Gegend dringen können: liegt nicht unserm innern Sinn eine unsichtbare Welt in uns selbst aufgedeckt, deren Gränzen noch kein Sterblicher erflogen hat? Und was liegt uns näher, geht uns mehr an, als diese nur dem Auge des Geistes anschauliche Welt unsrer eigenen Gefühle, Gedanken, Ahnungen, Triebe und Bestrebungen, in deren Mitte unser geistiges Ich, wie ein Gott im Chaos, Gesetze gibt, Licht werden heißt, das Verschiedene trennt, das Gleichartige zusammenordnet, Wirkungen mit Ursachen, Mittel mit Zwecken verbindet, und indem er so, vermöge seiner gottähnlichen Natur, das Viele und Mannichfaltige immer zu Einem zu verbinden, und das Besondere dem Allgemeinen, das Zufällige dem Nothwendigen, das Geringere dem Bessern, unterzuordnen beschäftigt ist, von Ursache zu Ursache, von Zweck zu Zweck, von System zu System, als auf einer von der Erde über die Wolken emporsteigenden Leiter, sich bis zur Idee eines alles umfassenden allgemeinen Systems und eines alles belebenden, allem gesetzgebenden, alles erhaltenden und regierenden Geistes zu erheben fähig ist? Hier, in diesem heiligen Kreise, Agathon, liegt unser wahres, höchstes, ja, genau zu reden, einziges Interesse; dieß ist der Kreis unsrer edelsten und freiesten Thätigkeit; hier, oder nirgends müssen wir die Wahrheit suchen, die uns zum sichern Leitfaden durch diese Sinnenwelt dienen soll; und hier ist für den, der sie redlich sucht, keine Täuschung möglich!Diese Redlichkeit gegen mich selbst, dieß unverwandte innere Streben, dem was ich für den Zweck meines Daseyns erkenne genug zu thun, ist das, was deine Liebe zu mir nur

sehr uneigentlich Vollkommenheit nennt —denn diese ist ein Ziel, das wir nie ergreifen werden, wiewohl wir ihm ewig nähern. — Aber es ist hinlänglich dein Zutrauen zu rechtfertigen; und mir selbst legt es die Pflicht auf, dir den ganz einfachen Weg vorzuzeichnen, auf welchem ich zu diesem Frieden mit mir selbst und der ganzen Natur, zu dieser mitten im Getümmel der Welt sich immer erhaltenden, nur selten durch vorübergehende Wolken leicht beschatteten Heiterkeit der Seele, und zu dieser Ruhe, womit ich dem Ende eines langen, immer beschäftigten Lebens entgegenstehe, gelangt bin, die von allem was ich besitze das Einzige sind, was ich mein nennen kann, und denen ich den reinen Genuß alles andern Guten zu danken habe.

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