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Kapitel 

C. M. Wieland's Werke.

Sechster Band.

Erstes {Kapitel.}

Agathon faßt den Entschluß, sich dem Archytas noch genauer zu entdecken, und zu diesem Ende sein eigener Biograph zu werden.

Je näher Agathon mit dem Charakter des vortrefflichen Mannes bekannt wurde, in welchem sein glückliches Schicksal ihn einen zweiten Vater finden ließ, desto dringender wurde sein Verlangen, mit einem solchen Manne in ganz reinem Verhältnisse zu stehen. Zwar konnte er ziemlich sicher seyn, daß ein Archytas in seiner guten Meinung von ihm weder aus Uebereilung noch aus Schwäche zu weit gehen werde: aber er fühlte nichtsdestoweniger, daß er nicht ganz ruhig seyn könne, bis er selbst von allem, was ihn vielleicht besser scheinen machte als er in seinem eigenen Bewußtseyn war, sich vor den Augen desselben entkleidet haben würde. Mit jedem Tage, den er in seinem Hause verlebte, bestärkte er sich in der Hoffnung, durch seinen Beistand wieder zu jener heitern

Stille der Seele, jenem seligen Frieden in und mit sich selbst zu gelangen, die er zu Smyrna unvermerkt verloren, und deren Verlust er zu Syrakus zwar öfters lebhaft und schmerzlich empfunden, aber, mit allem Bestreben sich in seiner neuen Vorstellungsart fest zu machen, nicht zu ersetzen vermocht hatte. Archytas, oder sonst niemand in der Welt, konnte ihn von den leidigen Zweifeln befreien, die ihm seit jenem Zeitraume die erhabenen Grundlehren der Orphischen Theosophie, in welchen er erzogen worden war, und mit ihnen die seligsten Gefühle seiner Jugend verdächtig gemacht hatten. Er betrachtete diesen ehrwürdigen Greis als einen Sterblichen, der den höchsten Punkt der Vollkommenheit, nach welchem ein menschliches Wesen streben kann, erreicht habe; ja, wenn er ihn, nach Beendigung der Geschäfte des Tages, in der Vorhalle seiner Wohnung, an den Strahlen der untergehenden Sonne, so traulich im Kreise seiner Kinder und Freunde sitzen sah, schien er ihm oft weniger ein angesessener Einwohner dieser Welt, als ein Wesen von höherer Art, ein den Menschen gewogener Genius zu seyn, der sich freundlich zu diesen guten Seelen herabgelassen, um sie durch die leise Einwirkung seiner Gegenwart in der Liebe der Weisheit und der Tugend zu befestigen, und dadurch für jede schöne Freude des Menschenlebens desto empfänglicher zu machen. Auch er glaubte schon allein dadurch, daß er ein Hausgenosse dieses göttlichen Mannes war, sich in seinem Innern mit jedem Tage besser zu befinden: aber nur um so fester wurde sein Entschluß, sich ganz vor ihm zu enthüllen, und ihm besonders von jener Veränderung in seiner moralischen Verfassung, die sich während

seines Aufenthalts in Smyrna zugetragen hatte, die genaueste Rechenschaft zu geben; denn sein Herz sagte ihm, daß er seit diesem Zeitpunkt an innerem Werth eher ab- als zugenommen habe. Er konnte und wollte die Lücken, die damals im System seiner Meinungen und Ueberzeugungen entstanden waren, nicht länger unberichtigt lassen. Die Uneinigkeit, die sich unvermerkt zwischen seinem Kopf und seinem Herzen entsponnen hatte, mußte schlechterdings aufs Reine gebracht werden: und wer hätte ihn in dieser, für die Ruhe und Gesundheit seiner Seele so wichtigen Angelegenheit, sicherer leiten, ihm gewisser zu einem glücklichen Ausgang aus dem Labyrinth seiner Zweifel verhelfen können, als Archytas?Dieser Vorsatz auf der einen Seite, und auf der andern die Besorgniß, daß ihm bei einer mündlichen Erzählung, im Feuer der unvermerkt sich erhitzenden Einbildungskraft, mancher erhebliche Umstand entfallen, oder ohne seinen Willen manches in ein verschönerndes Licht, manches in einen zu dunkeln Schatten gestellt werden könnte, brachte ihn auf den Gedanken, seine Beichte schriftlich abzulegen, und die Geschichte seiner Seele in den verschiedenen Epochen seines Lebens so getreu und lebendig, als er sie in der Stille einsamer Stunden in sein Gedächtniß zurückrufen könnte, zu Papier zu bringen. Er wandte hierzu hauptsächlich die frühen Morgenstunden an, über welche ihm sein Aufenthalt auf dem Lande freie Hand ließ, und war größtentheils damit zu Stande gekommen, als das unverhoffte Wiederfinden der schönen Danae, das neue Verhältniß, worein sie sich gegen ihn setzte, und sein Verlangen, sie in die Familie des Archytas aufgenommen

zu sehen, ihm zur Pflicht zu machen schien, denjenigen Theil seiner Geschichte, worin sie die Hauptrolle spielt, sorgfältiger zu bearbeiten, als er es anfangs, bei der Voraussetzung, daß die Heldin dieses erotischen Drama's in Tarent persönlich unbekannt bleiben werde, für nöthig befunden hatte. Nicht als ob er sich erlaubt hätte, der Wahrheit in diesem Theile seiner Erzählung weniger getreu zu seyn als in allen übrigen. Bei solchen Personen wie Archytas, Kritolaus, und die übrigen Glieder dieser edeln Familie, lief eine Chariklea auch als Danae keine Gefahr, durch die Aufrichtigkeit ihres Biographen zu viel zu verlieren; denn wahre Weisheit ist immer gerecht, und wahre Tugend immer geneigt, mehr Nachsicht gegen andere zu beweisen, als gegen sich selbst. Aber es kommt doch immer bei Gegenständen von so großer Zartheit sehr vieles auf die Darstellung an; und wer sollte es ihm verdenken können, wenn er den Schleier der Grazien, dessen Danae in ihrer Geschichte Erwähnung that, über einige Theile derselben warf, die einer leichten Bedeckung nicht wohl entbehren konnten? — Auf diese Weise entstand nun die von Agathon selbst ausgesetzte geheime Geschichte seines Geistes und Herzens, welche aller Wahrscheinlichkeit nach die erste und reinste Quelle ist, woraus die in diesem Werk enthaltenen Nachrichten geschöpft sind.Es währte nicht lange, bis Agathon sowohl in dem freundschaftlichen Verhältniß, in welches Chariklea durch ihn mit dem Hause des Archytas gekommen war, als in seinem eigenen Gefühle, daß er den Beistand eines solchen Freundes gegen sich selbst vonnöthen haben würde, neue Bewegungsgründe

fand, sobald als möglich den Gebrauch von seiner Arbeit zu machen, um dessentwillen er sie unternommen hatte. Er suchte also nur eine bequeme Gelegenheit, und diese gab ihm Archytas selbst, da er, in einem traulichen Gespräche, worin Agathon der schönen Schwärmerei seiner Jugend mit Bedauern ihrer nicht mehr fähig zu seyn erwähnte, ihm ein Verlangen zeigte, von den Umständen und der Art und Weise, wie seine Seele von jenem hohen Ton herabgestimmt worden, recht genau unterrichtet zu seyn. Dein Wunsch, mein Vater, kommt dem meinigen entgegen, sagte Agathon: schon lange fühl' ich ein dringendes Bedürfniß, dir das Innerste meiner Seele aufzuschließen. Ich glaubte dieß durch eine schriftliche Darstellung alles dessen, was ich mir seit ihrer ersten Bildung von den verschiedenen Veränderungen, durch welche sie bisher gegangen ist, bewußt bin, vollständiger und getreuer als durch eine mündliche Erzählung, bewerkstelligen zu können. Diese Arbeit beschäftigt mich schon seit einiger Zeit; ich bin vor kurzem damit fertig geworden, und wartete nur auf einen günstigen Augenblick sie dir zu übergeben. Du kannst, versetzte Archytas, keinen bequemern erwarten, als den gegenwärtigen, da ich gerade auf mehrere Tage ohne Geschäfte bin. — Und so eilte Agathon seine Handschrift zu holen, stellte sie seinem ehrwürdigen Freunde zu, und entfernte sich mit der sichtbaren Freude eines Menschen, der sich eines drückenden Geheimnisses erledigt hat.Archytas, dessen zärtliche Theilnehmung an unserm Helden durch das Lesen dieser Papiere noch inniger wurde als

sie bereits war, glaubte daraus zu sehen, daß es, um ihn auf den Weg zu bringen, auf welchem er das höchste Ziel menschlicher Vollkommenheit nicht verfehlen könnte, nur noch auf zwei Punkte ankomme: seine Liebe zu Chariklea auf immer vor einem Rückfall in die Leidenschaft für Danae sicher zu stellen; und durch unerschütterliche Gründung seines Gedankensystems über das, was die wesentlichste Angelegenheit des moralischen Menschen ausmacht, seinen Kopf mit seinem Herzen auf ewig in Einverständniß zu setzen. Jenes war, seiner Meinung nach, nur durch eine ziemlich lange Entfernung möglich, auf deren Nothwendigkeit er aber aus eigner Bewegung kommen, und wobei ein großer Zweck seinen Geist in beständiger Thätigkeit erhalten müßte: zu diesem hoffte Archytas ihm selbst um so gewisser verhelfen zu können, da er noch nie einen Sterblichen gefunden zu haben glaubte, der einen hellern Sinn für Wahrheit, mit einer so reinen Liebe zum Guten und mit einem so herzlichen Widerwillen gegen Sophisterei und Selbsttäuschung in sich vereinigt hätte, als Agathon.Dieses letztere war nun von Stund' an sein Hauptaugenmerk, und veranlaßte verschiedene Unterredungen zwischen ihm und seinem jungen Freunde, die es ohne Zweifel verdienten, denjenigen von unsern Lesern, denen es mehr um Unterricht und Besserung als um Kürzung der langen Weile zu thun ist, mitgetheilt zu werden, wenn sie — noch vorhanden wären. Daß dieß nicht der Fall ist, davon liegt die Schuld bloß an Agathon, der von allen diesen Gesprächen nur ein einziges — vermuthlich ihm selbst das wichtigste —

zu Papier brachte, und der mehrerwähnten geheimen Geschichte, wovon die Handschrift (wie es scheint) sich lange Zeit bei seiner Familie erhielt, als einen Anhang beifügte. Glücklicher Weise hat eben der gute Genius, der jene für uns aufbewahrte, sich auch des letztern angenommen, und uns in den Stand gesetzt, dieses Werk mit einem Dialog zu bereichern, welchem wir wünschen, daß er allen unsern Lesern, oder doch einigen, allenfalls auch nur Einem von ihnen, eben so nützlich seyn möchte, als er unserm Helden war.

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