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Kapitel 

C. M. Wieland's Werke.

Vierter Band.

Zweites Capitel.

Fortsetzung der Rede des Hippias. Seine Theorie der angenehmen Empfindungen.

Und wen anders als die Natur können wir fragen, um zu wissen, wie wir leben sollen, um wohl zu leben? "Die Götter?" Sie sind entweder die Natur selbst, oder die Urheber der Natur: in beiden Fällen ist die Stimme der Natur die Stimme der Gottheit. Sie ist die allgemeine Lehrerin aller Wesen; sie lehrt jedes Thier vom Elephanten bis zum Insect, was seiner besondern Verfassung gut oder schädlich ist. Um so glücklich zu seyn als es diese innerliche Einrichtung erlaubt, braucht das Thier nichts weiter, als dieser Stimme der Natur zu folgen, welche bald durch den süßen Zug des Vergnügens, bald durch das ungeduldige Fordern des Bedürfnisses, bald durch das ängstliche Pochen des Schmerzens, es entweder zu demjenigen locket, was ihm zuträglich ist, oder es zur Erhaltung seines Lebens und seiner Gattung auffordert, oder es vor demjenigen warnet, was seinem Wesen die Zerstörung dräuet. Sollte der Mensch

allein von dieser mütterlichen Vorsorge ausgenommen seyn, oder er allein irren können, wenn er der Stimme folget, die zu allen Wesen spricht? Oder ist nicht vielmehr die Unachtsamkeit und der Ungehorsam gegen ihre Erinnerungen die einzige wahre Ursache, warum unter einer unendlichen Menge von lebenden Wesen der Mensch das einzige unglückselige ist?Die Natur hat allen ihren Werken eine gewisse Einfalt eingedrückt, die ihre mühsamen Anstalten und die genaueste Regelmäßigkeit unter einem Scheine von Leichtigkeit und Anmuth verbirgt. Mit diesem Stempel sind auch die Gesetze der Glückseligkeit bezeichnet, welche sie dem Menschen vorgeschrieben hat. Sie sind einfältig, leicht auszuüben, führen gerade und sicher zum Zweck. Die Kunst glücklich zu leben würde die gemeinste unter allen Künsten seyn, wie sie die leichteste ist, wenn die Menschen nicht gewohnt wären sich einzubilden, "daß man große Zwecke nicht anders als durch große Anstalten erreichen könne." Es scheint ihnen zu einfältig, daß alles, was uns die Natur durch den Mund der Wahrheit zu sagen hat, in diese drei Erinnerungen zusammen fließen soll: befriedige deine Bedürfnisse; vergnüge alle deine Sinnen; erspare dir so viel du kannst alle schmerzhaften Empfindungen. Und doch wird dich eine kleine Aufmerksamkeit überführen, daß die vollständigste Glückseligkeit, deren die Sterblichen fähig sind, in die Linie, die von diesen dreien Formeln bezeichnet wird, eingeschlossen ist.Es hat Narren gegeben, welche die Frage mühsam untersucht haben, ob das Vergnügen ein Gut, und der Schmerz

ein Uebel sey? Es hat noch größere Narren gegeben, welche wirklich behaupteten, der Schmerz sey kein Uebel und das Vergnügen kein Gut; und, was das lustigste dabei ist, beide haben Thoren gefunden, die albern genug waren, diese Narren für klug zu halten. Das Vergnügen ist kein Gut, sagen sie, weil es Fälle gibt wo der Schmerz ein größeres Gut ist; und der Schmerz ist kein Uebel, weil er zuweilen besser ist als das Vergnügen. Sind diese Wortspiele einer Antwort werth? Was würde ein Zustand seyn, der in einem vollständigen unaufhörlichen Gefühl des höchsten Grades aller möglichen Schmerzen bestände? Wenn dieser Zustand das höchste Uebel ist, so ist der Schmerz ein Uebel.Doch wir wollen die Schwätzer mit Worten spielen lassen, die ihnen bedeuten müssen was sie wollen. Die Natur entscheidet diese Frage, wenn es eine seyn kann, auf eine Art, die keinen Zweifel übrig läßt. Wer ist, der nicht lieber vernichtet als unaufhörlich gepeiniget werden wollte? Wer sieht nicht einen schönen Gegenstand lieber als einen ekelhaften? Wer hört nicht lieber den Gesang der Nachtigall, als das Geheul der Nachteule? Wer zieht nicht einen angenehmen Geruch oder Geschmack einem widrigen vor? Und würde nicht der enthaltsame Kallias selbst lieber auf einem Lager von Blumen in den Rosenarmen irgend einer schönen Nymphe ruhen, als in den glühenden Armen des ehernen Götzenbildes, welchem die unmenschliche Andacht gewisser syrischer Völker ihre Kinder opfert? Eben so wenig scheint einem Zweifel unterworfen zu seyn, daß der Schmerz und das Vergnügen so unverträglich sind, daß eine einzige gepeinigte Nerve genug

ist, uns gegen die vereinigten Reizungen aller Wollüste unempfindlich zu machen. Die Freiheit von allen Arten der Schmerzen ist also unstreitig eine unumgängliche Bedingung der Glückseligkeit, allein da sie nichts Positives ist, so ist sie nicht sowohl ein Gut, als der Zustand, worin man des Genusses des Guten fähig ist. Dieser Genuß allein ist es, dessen Dauer den Stand hervorbringt, den man Glückseligkeit nennt.Es ist unläugbar, daß nicht alle Arten und Grade des Vergnügens gut sind. Die Natur allein hat das Recht uns die Vergnügen anzuzeigen, die sie uns bestimmt hat. So unendlich die Menge dieser angenehmen Empfindungen zu seyn scheint, so ist doch leicht zu sehen, daß sie alle entweder zu den Vergnügungen der Sinne, oder der Einbildungskraft, oder zu einer dritten Classe, die aus beiden zusammen gesetzt ist, gehören. Die Vergnügen der Einbildungskraft sind entweder Erinnerungen an ehemals genossene sinnliche Vergnügen; oder Mittel, uns den Genuß derselben reizender zu machen; oder angenehme Dichtungen und Träume, die entweder in einer neuen willkürlichen Zusammensetzung angenehmer sinnlicher Vorstellungen, oder in einer eingebildeten Erhöhung der Grade jener Vergnügen, die wir erfahren haben, bestehen. Es sind also, wenn man genau reden will, alle Vergnügungen im Grunde sinnlich, indem sie, es sey nun unmittelbar oder vermittelst der Einbildungskraft, von keinen andern als sinnlichen Vorstellungen entstehen können.Die Philosophen reden von Vergnügen des Geistes,

von Vergnügen des Herzens, von Vergnügen der Tugend. Alle diese Vergnügen sind es für die Sinnen, oder für die Einbildungskraft, oder sie sind — nichts.Warum ist Homer unendliche Mal angenehmer zu lesen als Heraklitus? Weil die Gedichte des ersten eine Reihe von Gemälden darstellen, die — entweder durch die eigenthümlichen Reizungen des Gegenstandes, oder die Lebhaftigkeit der Farben, oder einen Contrast, der das Vergnügen durch eine kleine Mischung mit widrigen Empfindungen erhöhet, oder die Erregung angenehmer Gemüthsbewegungen — unsere Phantasie bezaubern: da hingegen die trocknen Schriften des Philosophen nichts darstellen, als eine Reihe von Wörtern, welche nicht Bilder, sondern bloße Zeichen abgezogener Begriffe sind, von welchen sich die Einbildungskraft nicht anders als mit vieler Anstrengung, und mit einer beständigen Bemühung, die Verwirrung so vieler gestalt- und farbenloser Schatten zu verhüten, einige Vorstellungen machen kann. Es ist wahr, es gibt abgezogene Begriffe, die für gewisse enthusiastische Seelen entzückend sind; aber warum sind sie es? In der That bloß darum, weil die Einbildungskraft sie auf eine schlaue Art zu verkörpern weiß. Untersuche alle angenehmen Ideen von dieser Art, so unkörperlich und geistig sie scheinen mögen und du wirst finden, daß das Vergnügen, das sie deiner Seele machen, von den sinnlichen Vorstellungen entsteht, womit sie begleitet sind. Bemühe dich so sehr als du willst, dir Götter ohne Gestalt, ohne Glanz, ohne etwas das die Sinnen rührt, vorzustellen; es wird dir unmöglich seyn. Der Jupiter des Homer und Phidias, die Idee eines

Hercules oder Theseus, wie unsere Einbildungskraft sich diese Helden vorzustellen pflegt, die Ideen eines überirdischen Glanzes, einer mehr als menschlichen Schönheit, eines ambrosischen Geruchs, werden sich unvermerkt an die Stelle derjenigen setzen, die du dich vergeblich zu machen bestrebest, und du wirst noch immer an dem irdischen Boden kleben, wenn du schon in den empyräischen Gegenden zu schweben glaubst.Sind die Vergnügen des Herzens weniger sinnlich? Sie sind die allersinnlichsten. Ein gewisser Grad derselben verbreitet eine wollüstige Wärme durch unser ganzes Wesen, belebt den Umlauf des Blutes, ermuntert das Spiel der Fibern, und setzt unsre ganze Maschine in einen Zustand von Behaglichkeit, der sich der Seele um so mehr mittheilet, als ihre eignen natürlichen Verrichtungen auf die angenehmste Art dadurch erleichtert werden. Die Bewunderung, die Liebe, das Verlangen, die Hoffnung, das Mitleiden, jeder zärtliche Affect bringt diese Wirkung in einigem Grade hervor, und ist desto angenehmer, je mehr er sich derjenigen Wollust nähert, die unsere Alten würdig gefunden haben, in der Gestalt der personificirten Schönheit, aus deren Genusse sie entspringt, unter die Götter gesetzt zu werden. Derjenige, den sein Freund niemals in Entzückungen gesetzt hat, die den Entzückungen der Liebe ähnlich sind, ist nicht berechtigt von den Vergnügen der Freundschaft zu reden. Was ist das Mitleiden, welches uns zur Gutthätigkeit treibt? Wer anders ist desselben fähig, als diese empfindlichen Seelen, deren Auge durch den Anblick, deren Ohr durch den ächzenden

Ton des Schmerzens und Elends gequälet wird, und die in dem Augenblicke, da sie die Noth eines Unglücklichen erleichtern, beinahe dasselbe Vergnügen fühlen, welches sie in eben diesem Augenblick an seiner Stelle gefühlt hätten? Wenn das Mitleiden nicht ein wollüstiges Gefühl ist, warum rührt uns nichts so sehr als die leidende Schönheit? Warum lockt die klagende Phädra in der Nachahmung zärtliche Thränen aus unsern Augen, da die winselnde Häßlichkeit in der Natur nichts als Ekel erweckt? Und sind etwan die Vergnügen der Wohlthätigkeit und Menschenliebe weniger sinnlich? Dasjenige was in dir vorgehen wird, wenn du dir die contrastirenden Gemälde einer geängstigten und einer fröhlichen Stadt vorstellest, die Homer aus den Schild des Achilles setzt, wird dir diese Frage auflösen. Nur diejenigen, die der Genuß des Vergnügens in die lebhaftere Entzückung setzt, sind fähig, von den lachenden Bildern einer allgemeinen Freude und Wonne so sehr gerührt zu werden, daß sie dieselbe außer sich zu sehen wünschen; das Vergnügen der Gutthätigkeit wird allemal mit demjenigen in Verhältniß stehen, welches ihnen der Anblick eines vergnügten Gesichts, eines fröhlichen Tanzes, einer öffentlichen Lustbarkeit macht: und es ist nur der Vortheil ihres Vergnügens, je allgemeiner diese Scene ist. Ie größer die Anzahl der Fröhlichen und die Mannichfaltigkeit der Freuden, desto größer die Wollust, wovon diese Art von Menschen, an denen alles Sinn, alles Herz und Seele ist, beim Anblick derselben überströmet werden. Laß uns also gestehen, Kallias, daß alle Vergnügen, die uns die Natur anbeut, sinnlich sind; und daß die hochfliegendste,

abgezogenste und geistigste Einbildungskraft uns keine andern verschaffen kann, als solche, die wir auf eine weit vollkommnere Art aus dem rosenbekränzten Becher und von den Lippen der schönen Cyane saugen könnten.Es ist wahr, es gibt noch eine Art von Vergnügen, die beim ersten Anblick eine Ausnahme von meinem Satze zu machen scheint. Man könnte sie künstliche nennen, weil wir sie nicht aus den Handen der Natur empfangen, sondern nur gewissen Einverständnissen der menschlichen Gesellschaft zu danken haben, durch welche dasjenige, was uns dieses Vergnügen macht, die Bedeutung eines Gutes erhalten hat. Allein die kleinste Ueberlegung wird uns überzeugen, daß diese Dinge keine andere Art von Vergnügen gewähren, als die uns der Besitz des Geldes gibt; welches wir mit Gleichgültigkeit ansehen würden, wenn es uns nicht für alle die wirklichen Vergnügen Gewähr leistete, die wir uns dadurch verschaffen können. Von der nämlichen Art ist dasjenige, welches der Ehrgeizige empfindet, wenn ihm Bezeigungen einer scheinbaren Hochachtung gemacht werden, die ihm als Zeichen seines Ansehens, und der Macht, die ihm dasselbe über andere gibt, angenehm sind. Ein morgenländischer Despot bekümmert sich wenig um die Hochachtung seiner Völker; sklavische Unterwürfigkeit ist für ihn genug. Ein Mensch hingegen, dessen Glück in den Händen solcher Leute liegt, die seinesgleichen sind, ist genöthigt, sich ihre Hochachtung zu erwerben. Allein diese Unterwürfigkeit ist dem Despoten, diese Hochachtung ist dem Republicaner nur darum angenehm, weil sie ihm das Vermögen oder die Gelegenheit gibt, die

Leidenschaften und Begierden desto besser zu befriedigen, welche die unmittelbaren Quellen des Vergnügens sind. Warum ist Alcibiades ehrgeizig? Alcibiades bewirbt sich um einen Ruhm, der seine Ausschweifungen, seinen Uebermuth, seinen schleppenden Purpur, seine Schmäuse und Liebeshändel bedeckt; der es den Athenern erträglich macht, den Liebesgott mit dem Blitze Jupiters bewaffnet auf dem Schilde ihres Feldherrn zu sehen; der die Gemahlin eines spartanischen Königs so sehr verblendet, daß sie stolz darauf ist, für seine Buhlerin gehalten zu werden. Ohne diese Vortheile würde ihm Ansehen und Ruhm so gleichgültig seyn, als ein Haufen Rechenpfennige einem Korinthischen Wechsler."Allein," spricht man, "wenn es seine Richtigkeit hat, daß die Vergnügen der Sinne alles sind, was uns die Natur zuerkannt hat: was ist leichter und was braucht weniger Kunst und Anstalten, als glücklich zu seyn? Wie wenig bedarf die Natur um genug zu haben?"Es ist wahr, die rohe Natur bedarf wenig. Unwissenheit ist der Reichthum des Wilden. Eine Bewegung, die seinen Körper munter erhält, eine Nahrung, die seinen Hunger stillt, ein Weib, schön oder häßlich, wenn ihn die Ungeduld des Bedürfnisses spornt, ein schattiger Rasen, wenn er des Schlafs bedarf, und eine Höhle, sich vor dem Ungewitter zu sichern, ist alles was der wilde Mensch nöthig hat, um in einem Leben von achtzig Jahren sich nur nicht träumen zu lassen, daß man mehr vonnöthen haben könne. Die Vergnügungen der Einbildungskraft und des Geschmackes sind nicht für ihn; er genießt nicht mehr als die

übrigen Thiere, und genießt wie sie. Wenn er glücklich ist, weil er sich nicht für unglücklich hält, so ist er es doch nicht in Vergleichung mit demjenigen, für den die Künste des Witzes und des Geschmackes die angenehmste Art zu genießen, und eine unendliche Menge von Ergötzungen der Sinne und der Einbildung erfunden haben, wovon die Natur in ihrem rohen Zustande keinen Begriff hat. Wahr ist's, diese Vergleichung findet nur in dem Stand einer Gesellschaft statt, die in einer langen Reihe von Jahrhunderten sich endlich zu einem gewissen Grade der Vollkommenheit erhoben hat. In diesem Stande aber wird alles das zum Bedürfniß, was der Wilde nur darum nicht vermisset, weil es ihm unbekannt ist; und Diogenes könnte zu Korinth nicht glücklich seyn, wenn er nicht — ein Narr wäre.Gewisse poetische Köpfe haben sich ein goldnes Alter, ein idealisches Arkadien, ein reizendes Hirtenleben geträumt, welches zwischen der rohen Natur und der Lebensart des begüterten Theils eines gesitteten und sinnreichen Volkes das Mittel halten soll. Sie haben die verschönerte Natur von allem demjenigen entkleidet, wodurch sie verschönert worden ist, und diesen abgezogenen Begriff die schöne Natur genannt. Allein (außerdem, daß diese schöne Natur in der nackten Einfalt, welche man ihr gibt, niemals irgendwo vorhanden war) wer siehet nicht, daß die Lebensart des goldnen Alters der Dichter zu derjenigen, welche durch die Künste mit allem bereichert und ausgeziert wird, was uns im Genuß einer ununterbrochenen Wollust vor dem Ueberdruß der Sättigung bewahren kann, daß, sage ich, jene

dichterische Lebensart zu dieser sich eben so verhält, wie die Lebensart des wildesten Sogdianers zu jener? Wenn es angenehmer ist, in einer bequemen Hütte zu wohnen, als in einem hohlen Baum: so ist es noch angenehmer, in einem geräumigen Hause zu wohnen, das mit den ausgesuchtesten und wollüstigsten Bequemlichkeiten versehen, und allenthalben mit Bildern des Vergnügens ausgeziert ist. Und wenn eine mit Bändern und Blumen geschmückte Phyllis reizender ist, als eine schmutzige Wilde: muß nicht eine von unsern Schönen, deren natürliche Reizungen durch einen wohl ausgesonnenen und schimmernden Putz erhoben werden, um eben so viel besser gefallen als jene Schäferin?

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