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Kapitel 

C. M. Wieland's Werke.

Vierter Band.

Erstes Capitel.

Prolog eines interessanten Discurses.

Wenn wir auf das Thun und Lassen der Menschen Acht geben, mein lieber Kallias, so scheint zwar, daß alle ihre Sorgen und Bemühungen kein andres Ziel haben als sich glücklich zu machen: allein die Seltenheit derjenigen die es wirklich sind, oder es doch zu seyn glauben, beweiset zugleich, daß die meisten nicht wissen, durch was für Mittel sie sich glücklich machen sollen, wenn sie es nicht sind, das ist, wie sie sich ihres gutes Glückes bedienen sollen, um in denjenigen Zustand zu kommen den man Glückseligkeit nennt. Es gibt eben so viele, die im Schooße des Ansehens, des Glücks und der Wollust, als solche, die in einem Zustande von Mangel, Dienstbarkeit und Unterdrückung elend sind. Einige haben sich aus diesem letztern Zustand empor gearbeitet, in der Meinung, daß sie nur darum unglückselig wären, weil es ihnen am Besitze der Güter des Glücks fehle. Allein die

Erfahrung hat sie gelehrt, daß, wenn es eine Kunst gibt, die Mittel zur Glückseligkeit zu erwerben, es vielleicht eine noch schwerere, zum wenigsten eine seltnere Kunst sey, diese Mittel recht zu gebrauchen. Es ist daher allezeit die Beschäftigung der Verständigsten unter den Menschen gewesen, durch Verbindung dieser beiden Künste diejenige heraus zu bringen, die man die Kunst glücklich zu leben nennen kann, und in deren Ausübung, nach meinem Begriffe, die Weisheit besteht, die so selten ein Antheil der Sterblichen ist. Ich nenne sie eine Kunst, weil sie von der fertigen Anwendung gewisser Regeln abhängt, die nur durch die Uebung erlangt werden kann: allein sie setzt, wie alle Künste, einen gewissen Grad von Fähigkeit voraus, den nur die Natur gibt, und den sie nicht allen zu geben pflegt.Einige Menschen scheinen kaum einer größern Glückseligkeit fähig zu seyn als die Austern; und wenn sie ja eine Seele haben, so ist es nur so viel als vonnöthen ist, um ihren Leib eine Zeit lang vor der Fäulniß zu bewahren. Ein größerer, und vielleicht der größte Theil der Menschen befindet sich nicht in diesem Falle; aber, weil es ihnen an genugsamer Stärke des Gemüths, und an einer gewissen Feinheit der Empfindung mangelt, so ist ihr Leben, gleich dem Leben der übrigen Thiere des Erdbodens, zwischen Vergnügen, die sie weder zu wählen noch zu genießen, und Schmerzen, denen sie weder zu widerstehen noch zu entfliehen wissen, getheilt. Wahn und Leidenschaften sind die Triebfedern dieser menschlichen Maschinen: beide setzen sie einer unendlichen Menge von Uebeln aus, die es nur in einer

betrogenen Einbildung, aber eben darum, wo nicht schmerzlicher, doch anhaltender und unheilbarer sind, als diejenigen die uns die Natur auferlegt. Diese Art von Menschen ist keines gesetzten und anhaltenden Vergnügens, keines Zustandes von Glückseligkeit fähig; ihre Freuden sind Augenblicke, und ihr übriges Leben ist entweder wirkliches Leiden, oder ein unaufhörliches Gefühl verworrener Wünsche, eine immerwährende Ebbe und Flut von Furcht und Hoffnung, von Phantasien und Gelüsten; kurz, eine unruhige Bewegung, die weder ein gewisses Maß noch ein festes Ziel hat, und also weder ein Mittel zur Erwerbung dessen was gut ist seyn kann, noch dasjenige genießen läßt, was man wirklich besitzt. Es scheint also unmöglich zu seyn, ohne eine gewisse Feinheit und Zartheit des Gefühls, die uns in einem weiten Umkreise, mit schärfern Sinnen, und auf eine angenehmere Art genießen läßt, und ohne die Stärke der Seele, die uns fähig macht das Joch der Einbildung und des Wahns abzuschütteln und die Leidenschaften in unsrer Gewalt zu haben, zu demjenigen ruhigen Zustande von Genuß und Zufriedenheit zu kommen, der die Glückseligkeit ausmacht. Nur derjenige ist in der That glücklich, der sich von den Uebeln, die nur in der Einbildung bestehen, gänzlich frei zu machen, diejenigen aber, denen die Natur den Menschen unterworfen hat, entweder zu vermeiden oder doch zu vermindern gelernt hat, und das Gefühl derselben einzuschläfern; hingegen sich in den Besitz alles des Guten, dessen uns die Natur fähig gemacht, zu setzen, und was er besitzt, auf die angenehmste Weise zu genießen weiß; und dieser Glückselige allein ist der Weise.

Wenn ich dich anders recht kenne, Kallias, so hat dich die Natur mit den Fähigkeiten es zu seyn so reichlich begabt, als mit den Vorzügen, deren kluger Gebrauch uns die Gunstbezeugungen des Glückes zu verschaffen pflegt. Demungeachtet bist du weder glücklich, noch wirst du es jemals werden, so lange du nicht von beiden einen andern Gebrauch zu machen lernest, als du bisher gethan hast. Du wendest die Stärke deiner Seele an, dein Herz gegen das wahre Vergnügen unempfindlich zu machen, und beschäftigest deine Empfindlichkeit mit unwesentlichen Gegenständen, die du nur in der Einbildung siehest, und nur im Traume genießest. Die Vergnügungen, welche die Natur dem Menschen zugetheilt hat, sind für dich Schmerzen, weil du dir Gewalt anthun mußt sie zu entbehren; und du setzest dich allen Uebeln aus, die sie uns vermeiden lehrt, indem du, statt einer nützlichen Geschäftigkeit, dein Leben in den süßen Einbildungen wegträumest, womit du dir die Beraubung des wirklichen Vergnügens zu ersetzen suchest. Dein Uebel, lieber Kallias, entspringt von einer Einbildungskraft, welche dir ihre Geschöpfe in einem überirdischen Glanze zeigt, der dein Herz verblendet, und ein falsches Licht über das was wirklich ist ausbreitet; von einer dichterischen Einbildungskraft, die sich beschäftiget schönere Schönheiten und angenehmere Vergnügungen zu erfinden als die Natur hat; einer Einbildungskraft, ohne welche weder Homere, noch Alkamene, noch Polygnote wären; welche gemacht ist unsre Ergötzungen zu verschönern, aber nicht die Führerin unsers Lebens zu seyn. Um weise zu seyn, hast du nichts nöthig, als die gesunde Vernunft an die Stelle

dieser begeisterten Zaubrerin, und die kalte Ueberlegung an den Platz eines sehr oft betrüglichen Gefühls zu setzen. Bilde dir auf etliche Augenblike ein, daß du den Weg zur Glückseligkeit erst suchen müssest; frage die Natur, höre ihre Antwort, und folge dem Pfade, den sie dir vorzeichnen wird.

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