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Kapitel 

Walter Keller


Tessiner


Sagen und Volksmärchen

Mit Illustrationen von


Aldo Patocchi

1981

EDITION OLMS ZÜRICH


DIE RACHE DES MALERS

Es war einmal ein Kunstmaler, der hatte gerade keine Arbeit und wollte sich in einem Kapuzinerkloster vorstellen, um einen Auftrag zu erbitten. Aber der Torhüter des Klosters empfing ihn mit Anmaßung und schickte ihn mit unfreundlichen Worten wieder fort, indem er sagte: «Wir haben keine Arbeit für die Vagabunden 1»

Der Mann fühlte sich gedemütigt und faßte den Entschluß, den Mönchen einen Streich zu spielen. In der Nacht nahm er einen Pinsel und schrieb über den Portaleingang des Klosters mit großen Buchstaben:

«Wir leben ohne Sorgen!»

Am andern Morgen ritt der König am Kloster vorüber, hielt sein Pferd an und las die Inschrift, die auf dem weißen Grund der Mauer sich gar deutlich abhob. Er war davon überrascht und entrüstet über diese stolzen Worte. Dann kehrte er in sein Schloß zurück, mit dem Vorsatz. die Bruder zu strafen. Er ließ deshalb den Abt des Klosters zu sich rufen. Dieser erschien und beteuerte vor dem König seine Unschuld, indem er erklärte, daß kein einziger der Mönche der Urheber dieser Aufschrift gewesen sei. Der König schenkte ihm jedoch keinen Glauben und gab ihm zur Strafe folgende drei Rätsel auf, die er binnen dreier Tage lösen müsse, ansonst das Kloster aufgehoben würde:

1. Wieviel wiegt der Mond?



Tessiner Sagen-310 Flip arpa

2. Welche Entfernung ist es von der Erde bis zum dritten Himmel?

3. Was denke ich im Augenblick?

Niedergeschlagen und bekümmert kehrte der Abt ins Kloster zurück. Dort schloß er sich in seine Zelle ein und bat Gott, er möge ihn erleuchten und ihm helfen, die drei Aufgaben zu lösen. Seine Betrübnis erweckte im ganzen Kloster Verwunderung, und auf wiederholtes Fragen der andern Brüder gab er zur Antwort, sie sollten zu Gott um Gnade bitten, denn es drohe ihrem Kloster eine große Gefahr. Zuletzt kam der Bruder Koch in die Zelle des Abtes gelaufen und bestürmte ihn mit der Bitte, er solle ihm die Ursache seiner großen Traurigkeit anvertrauen. Der Abt erzählte ihm den Vorfall, und der Koch, der ihm lächelnd zugehört hatte, sagte schließlich: «Ist das Euer ganzer Kummer? Laßt mich doch die Sache in die Hand nehmen. Morgen gehe ich mit Eurer Erlaubnis zum König und stelle mich mit den drei Antworten vor.»

Der Abt war damit zufrieden, und der Koch nahm andern Tags den Kochlöffel unter den Arm und meldete sich im königlichen Schloß. Als er vor den König geführt wurde, sprach er: «Hier bin ich, um auf die drei Fragen Antwort zu geben, die Eure Majestät uns aufgegeben hat!»

Der König erwiderte: «Nun gut, so laßt eure Antwort auf meine erste Frage hören: Wie schwer ist der Mond?»

«Der Mond wiegt ein Pfund, denn er zerfällt in vier Viertel, und vier Viertel bilden ein Pfund.»

«Gut geantwortet!» entgegnete der König. «Nun wollen wir aber hören, was ihr auf die zweite Frage für eine Antwort gehen könnt.»



Tessiner Sagen-311 Flip arpa

Der Mönch zog aus der weiten Tasche seiner Kutte drei mächtige Knäuel Faden hervor und sagte: «Das, Majestät, ist die Entfernung von der Erde bis zum dritten Himmel. Und solltet Ihr davon nicht überzeugt sein, so will ich hier den Anfang des Fadens halten und Ihr geht voraus bis hinauf vor die Himmelstür, um den Abstand nachzumessen.»

Da schaute der König den Mann im verstohlenen an und sagte: «Sehr gut! Und nun erratet mir, was ich in diesem Augenblick denke!»

«Ihr, mein Herr und Gebieter, denkt, ich sei der Abt des Klosters. Ich bin aber nur der Bruder Koch. Und hier, mein verehrter König, ist die Kelle, mit welcher ich die Suppe umrühre!»

Der König war verblüfft über die scharfsinnigen Antworten, und das Kloster war gerettet.

Für die Klosterbrüder war es aber gleichwohl eine heilsame Lehre, und wer fürderhin an ihre Pforte klopfte, wurde immer freundlich empfangen und mit Wohltaten entlassen.


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