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Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

III. BAND

DAS FABELHAFTE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



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EIN BAND ZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


2. Der Schakal und die Wildsau

Der Schakal lief ein wenig weiter, nahm ein Sieb in die Hand und hielt es unter das Gesicht. Dazu murmelte er wie lesend (solches Gepappel der koranlesenden Schüler heißt: itsergigi) vor sich hin. So saß er eine ganze Weile, da kam die Wildsau (thiltht - Eber - ileph) vorbei. Die Wildsau sah den Schakal über das Sieb gebeugt sitzen und rief ihm zu: "Was machst du da, mein Vetter (am'mi) Schakal?" Der Schakal sagte: "Geh weiter und störe nicht meine Andacht. Siehst du nicht, daß ich studiere ?" Der Schakal beugte sich wieder über das Sieb und murmelte weiter wie betend vor sich hin.

Die Wildsau sah eine Weile zu, dann kam sie leise näher und sagte ehrerbietig: "Entschuldige, ich sehe du liest. Du bist also jetzt ein gelehrter Mann (themuthniu, ein Weiser, ein Mann, der im Lesen und Lehren bewandert ist) geworden. Ich habe zu Hause sieben Kinder, die etwas Rechtes lernen sollen. Würdest du so freundlich sein, sie das Lesen zu lehren ?" Der Schakal sah von seinem Sieb auf und sagte: "Ich will es tun; Kinder zu belehren ist mein Beruf." Die Wildsau sagte: "Wie lange werden sie nötig haben, um das Lesen zu lernen?' Der Schakal sagte: "Wenn es kluge, größere Kinder sind, sind sie in einer Woche fertig." Die Wildsau sagte: "Ich werde die Kinder holen und dir bringen. Wo werde ich dich treffen?" Der Schakal sagte: "Bringe sie nur hierher." Die Wildsau lief fort.

Die Wildsau kam wieder und hinter ihr her kamen ihre sieben Kinder. Die Wildsau sagte: "Hier sind meine sieben Kinder. Belehre sie. Wann kann ich wieder zurückkommen?" Der Schakal sagte: "Wie ich dir schon sagte, komm in acht Tagen wieder. Wenn sie klug sind, haben sie dann schon das Ende gelernt. Dann wirst du sie verändert wiederfinden." Die Wildsau ging.



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Der Schakal nahm die sieben jungen Wildschweine mit sich In sein Haus. Daheim angekommen, sperrte er sechs der kleinen Wildschweine in einen Stall. Eines aber tötete und schlachtete er. Er bereitete es zu und aß es zur Hälfte zur Mittagszeit, zur andern Hälfte abends. Dann legte er sich gesättigt schlafen.

Der Schakal tötete jeden Tag eines der Kinder der Wildsau und bereitete sich so aus jedem eine Mittagsmahlzeit und eine Abendmahlzeit. Die Häute pflöckte er ausgespannt auf dem Hofe fest. Es kamen eine Unmenge Fliegen, die flogen auf den frischen Fellen umher und summten: "bwww! bwww! bwww!", so daß ein großes Geräusch im Hause entstand.

Am achten Tage hatte der Schakal alle sieben Jungen der Wildsau getötet und verspeist, ihre Häute aber auf dem Hofe seines Hauses ausgebreitet. Am achten Tage kam die Wildsau. Der Schakal kam ihr entgegen und begrüßte sie. Er sagte: "Guten Tag, meine Mutter!" Die Wildsau sagte: "Kann ich meine Kinder sehen und mit nach Hause nehmen ?" Der Schakal sagte: "Deine Kinder lernen eifrig. Störe sie nicht. Sie sind nicht so klug, wie ich dachte. Äußerlich sind sie schön wie ihre Mutter. Im Kopfe müssen sie aber mehr dem Vater ähnlich sein. Dein Mann ist wohl nicht so klug wie du ?" Die Wildsau sagte: "Nein, mein Mann ist in der Tat nicht sehr klug. Lesen und schreiben würde er nie lernen." Der Schakal sagte: "Nun, ganz so schlimm ist es mit den Kindern nicht. Sie haben ja dich zur Mutter. Rühmen muß ich, daß sie sehr fleißig sind. Möchtest du sie einmal hören?" Die Wildsau sagte: "Ja, mein Vetter, das möchte ich sehr gerne." Der Schakal sagte: "So komm mit mir und lege dein Ohr an die Tür meines Hauses. Du wirst sie lesen und lernen hören." Die Wildsau ging an die Haustür und horchte. Sie hörte die Fliegen, die auf den Fellen ihrer Kinder summten, brummen. Die Fliegen machten immer: "bwww! bwww! bwww!" Der Schakal sagte: "Nicht wahr, deine Kinder sind doch fleißig?" Die Wildsau sagte (gerührt): "In der Tat, sie sind sehr fleißig." Der Schakal sagte: "Ich gedenke ihnen etwas Ordentliches beizubringen." Die Wildsau sagte: "Oh, wie freue ich mich. Nun sage mir, Vetter, wann kann ich denn wiederkommen?" Der Schakal sagte: "Komm in acht Tagen wieder; dann werden sie schon artig fortgeschritten sein." Die Wildsau ging.

Sobald die Wildsau gegangen war, begann der Schakal sogleich, sich noch einen neuen Ausgang seines Hauses und zwar auf der entgegengesetzten Seite zu bauen, um so leichter fliehen zu können.



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Die Wildsau sehnte sich nach ihren Kindern. Sie wartete mit ihrem Besuche nicht acht Tage. Sie kam nach zwei Tagen wieder. Sie klopfte an die Türe des Hauses. Es öffnete niemand. Die Wildsau klopfte und schrie: "Macht auf, ich bin die Wildsau und will meine Kinder besuchen." Als der Schakal das hörte, sprang er zur Türe an der andern Seite des Hauses heraus.

Die Wildsau schrie noch mehr: "Macht auf, ich will meine Kinder besuchen!" Es kam niemand. Die Wildsau horchte und hörte das: "bwww! bwww! bwww!" Die Wildsau sagte: "Das sind nicht meine Kinder, die würden kommen und mir die Tür öffnen." Die Wildsau rannte mit aller Wucht gegen die Tür. Sie zerbrach die Tür. Sie rannte in das Haus und auf den Hof. Auf dem Hof sah sie die ausgebreiteten Felle ihrer Kinder, über denen die Fliegen hinsummten. Da erkannte sie, wie der Schakal sie betrogen hatte. Sie lief wütend über den Hof. Sie fand den zweiten Ausgang, durch den der Schakal weggesprungen war. Sie stürzte durch den Ausgang hinter dem Schakal her.

Der Schakal lief, so schnell er konnte. Die Wildsau lief hinter ihm her. Der Schakal war schnell, aber die wütende Wildsau war noch schneller. Die Wildsau kam dem Schakal immer näher. Der Schakal merkte, daß er nicht mehr weit laufen konnte. Da sprang er in ein Loch, das am Wege war. Die Wildsau kam fast gleichzeitig mit dem Schakal am Loch an. Sie schnappte schnell zu. Sie packte den Schakal am Hinterfuß.

Der Schakal fühlte, daß die Wildsau ihn am Hinterfuß gepackt hatte und an ihm zog. Der Schakal rief: "Weshalb ziehst du denn so an der Wurzel (asar)? Du denkst wohl, du hast meinen Fuß? Der ist daneben." Die Wildsau ließ los und schnappte daneben Der Schakal konnte woh den Fuß, nicht aber den Schwanz schnell genug zurückziehen. Die Wildsau packte den Schakal am Schwanz. Der Schakal schrie: "Weshalb ziehst du denn so an der Wurzel? Du glaubst wohl, das sei mein Schwanz ?" Die Wildsau sagte (zwischen den Zähnen): "Ja, das glaube ich!' Die Wildsau zog und zog am Schwanz; sie riß dem Schakal den Schwanz aus. Der Schakal aber lief, nun freigelassen, erst in das Innere des Loches und nachher auf der anderen Seite glücklich von dannen. Die Wildsau rief hinter ihm her: "Für heute bist du mir zwar entronnen. Ich habe dich aber gemarkt (dewark) und werde dich am Zeichen des fehlenden Schwanzes immer wieder unter deinesgleichen herausfinden."

Dann ging die Wildsau überall hin und sagte zu allen ihren Freunden



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und Verwandten: "Ein Schakal hat mir meine Jungen geraubt, getötet und gefressen. Wann und wo ihr ihn findet, tötet ihn oder sagt es mir. Ihr könnt ihn leicht erkennen, ich habe ihm den Schwanz ausgerissen."

Der Schakal hörte, daß nun alle Leute den Schakal ohne Schwanz suchten. Der Schakal sagte: "Wir wollen sehen, ob sie mich von meinen Stammesgenossen unterscheiden können." Der Schakal lief zu einem großen Feigenbaum, der nahe dem Hause eines Bauern stand und zu dessen Farm gehörte. Der Schakal lud alle andern Schakale zum Genuß der Feigen ein, die er ihnen herunterwerfen wolle. (Nach einer anderen Version pflanzte er die Feigen am Morgen, und am Abend ist der Baum schon hoch und mit Früchten bedeckt. Dies ist offenbar keine Fabelphrase, sondern ein Märchenmotiv.) Alle Schakale kamen unter dem Feigenbaum zusammen. Der Schakal sagte: "Ich werde jetzt hinaufsteigen und schütteln." Die anderen Schakale sagten: "Wir wollen auch hinaufsteigen und pflücken." Der Schakal sagte: "So geht es nicht, meine Brüder; die Aste würden brechen und es würde Streit entstehen um die besten Plätze. Der Bauer würde es hören und uns verjagen, ehe wir noch recht zum Genuß gekommen wären. Es ist viel richtiger, ich binde euch alle mit den Schwänzen an den Stamm. Dann hat jeder vor sich einen freien Platz, auf dem er die Feigen, die ich herabschüttle, auflesen kann. Jeder hat dann seine eigenen Feigen und jeder Streit wird vermieden." Die anderen Schakale waren einverstanden. Der Schakal band nun jeden seiner Brüder mit einem Strick fest an den Stamm

Dann stieg der Schakal auf den Feigenbaum hinauf und schüttelte Die Schakale sprangen sogleich auf die herabfallenden Feigen zu. Der Schakal aber schrie von oben: "Bauer, Bauer, komm schnell, die Schakale sind alle versammelt und fressen deine Feigen." Der Bauer kam mit einem Stock aus dem Hause. Der Bauer kam auf den Feigenbaum zu. Die Schakale zogen an den Stricken: so stark sie konnten; sie kamen nicht frei. Der Bauer kam mit einem Stock ganz dicht heran; er hob ihn, um auf die Schakale loszuschlagen. Da rissen die Schakale in ihrer Angst sich selbst die Schwänze ab, so daß die Schwänze am Baume festgebunden blieben, die Schakale aber nach allen Richtungen von dannen liefen. Als der Schakal auf dem Baume das sah, schrie er vor Freude und rief: "So, jetzt soll die Wildsau mich einmal aus unserer Mitte heraus erkennen!" Damit sprang er vom Baume und von dannen.



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Die Wildsau versammelte nun alle Schakale um sich. Sie sah, sie waren alle ohne Schwänze. Die Wildsau sagte: "Ich will doch den richtigen herausfinden, oder sie alle miteinander töten." Sie setzte den Schakalen nun in ihrem Garten ein Gericht Pfeffer (lii fil) vor und sagte bei sich: "Wer mir das Unheil zufügte, der wird zuerst ,ah' stöhnen." (Alter Zauberglaube.) Die Schakale fraßen alle von dem Pfeffer und nur der schuldige Schakal ließ den zum Munde geführten Pfeffer heimlich wieder zu Boden fallen. Nachdem die Schakale den Pfeffer gefressen hatten, sagten sie alle gemeinsam und gleichzeitig: "Ah!" Die Wildsau sagte: "Gut denn, kommt und macht die Probe mit dem Wasser." Die Wildsau führte alle Schakale an das Wasser und ließ sie saufen. Alle Schakale, die von dem Pfeffer gefressen hatten, tranken, bis sie tot hinfielen. Der schuldige Schakal aber, der die Ochsenspeise nur zum Munde und dann zur Erde hatte fallen lassen, trank nur wenig. Als alle andern Schakale tot hingefallen waren, sprang er auf, an der Wildsau vorbei, und rief aus der Ferne: "Dein Vetter ist hier."


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