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Märchen aus England Schottland und Irland


Illustrationen


von Antje Schönau

Märchen europäischer Völker


König John und der Abt von Canterbury

Zur Zeit, als König John regierte, lebte ein Abt von Canterbury, der in seiner Abtei einen sehr großen Aufwand betrieb. Hundert Leute speisten jeden lieben langen Tag mit ihm in seinem Refektorium, und fünfzig Ritter, in Samtwämsen und mit goldenen Ketten angetan, bedienten ihn täglich.

Nun, wie ihr wißt, war König John ein schlechter König und konnte es nicht vertragen, daß irgend jemand in seinem Königreich, und wäre er noch so heilig, mehr geehrt werde als er. Also befahl er den Abt von Canterbury vor seinen Thron.

Der Abt kam mit großem Gefolge, mit seinen fünfzig Rittern in Samtwämsen und mit goldenen Ketten. Der König ließ ihn rufen und sprach: »Wie ist das, Vater Abt? Ich höre von dir, du treibst mehr Staat als ich selbst? Das steht unserer königlichen Würde nicht an und riecht geradezu nach Verrat.«

»Mein Herr und König«, antwortete der Abt, sich tief verneigend, »gestattet mir zu erwidern, daß alles, was ich ausgebe, aus Spenden bestritten wird, die das Volk freiwillig und aus Frömmigkeit aufbrachte. Ich vertraue darauf, daß Eure Gnade es mir nicht verübelt, wenn ich in der Abtei verbrauche, was der Abtei geschenkt wurde.«

»Du irrst, stolzer Prälat«, antwortete der König, »alles in diesem großen Reiche England ist unser, des Königs, und es kommt dir nicht zu, mich zu beschämen, indem du einen derartigen Pomp



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treibst. Doch ich bin voller Güte und will dir Leben und Besitz lassen, wenn du mir drei Fragen beantworten kannst.«

»Das will ich gern, mein Herr und König«, sagte der Abt, »soweit mein kleines Menschenhirn es vermag.«

»Nun gut«, fuhr der König fort, »sage mir, wo ist der Mittelpunkt der ganzen Welt. Dann sage mir, in welcher Zeit kann ich von einem Ende der Welt bis zum anderen reiten. Und als letztes sage mir, was ich denke.«

»Euer Majestät scherzen«, stammelte der Abt.

»Du wirst sehen, es ist kein Scherz«, erwiderte der König. »Kannst du mir diese Frage nicht drei Tage, ehe die Woche endet, beantworten, wird dein Kopf vom Rumpf getrennt.« Und damit wandte er sich und ging.

Ach, mit Furcht und Zittern ritt der Abt zunächst nach Oxford in der Hoffnung, einer der hochgelehrten Doctores würde ihm diese drei Fragen beantworten können. Doch keiner konnte ihm helfen, und er wandte sich jetzt angst- und sorgenvoll nach Canterbury, um von seinen Mönchen Abschied zu nehmen. Unterwegs aber traf er seinen Schäfer, der auf dem Weg zu seiner Herde war.

»Willkommen daheim, Herr Abt«, grüßte ihn der Schäfer, »Neuigkeiten vom guten König John?«

»Schlechte Neuigkeiten, schlechte Neuigkeiten, mein Schäfer«, seufzte der Abt und erzählte ihm alles.

»Da tröstet Euch, Herr Abt«, rief der Schäfer. »Ein Dummer kann mitunter beantworten, was ein kluger Mann nicht weiß. Laßt mich an Euer Statt nach London gehen. Leiht mir nur Eure Kleider und Euer Gefolge von Rittern. Notfalls kann ich auch statt Euer sterben.«

»Nein, Schäfer, das sei ferne«, rief der Abt aus, »ich selbst muß die Gefahr bestehen. Und deswegen kannst du mich nicht vertreten.«

»Ich kann, und ich will, Herr Abt. Wer sollte wissen, wer ich bin, wenn ich eine Kapuze trage?«

Schließlich erlaubte es der Abt und sandte ihn mit allem Gepränge nach London. Wie zuvor näherte er sich König John mit sämtlichem



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Gefolge, nur daß er selbst das schlichte Mönchsgewand und die Kapuze bis tief ins Gesicht hinein trug.

»Nun willkommen, Herr Abt«, sagte König John, »wie ich sehe, kennst du dein Schicksal.«

»Ich bin bereit, Euer Majestät zu antworten«, sagte der nur.

»Schön. Also Frage eins: Wo ist der Mittelpunkt der Erdkugel?«

»Hier«, sagte der Schäfer Abt, indem er seinen Abtstab in den Boden stieß, »und wenn Euer Majestät mir nicht glauben, meßt selbst und geht nachsehen.«

»Bei St. Botolph!« rief der König. »Eine hübsche Antwort und eine kluge dazu. Jetzt die zweite Frage: Wie lange muß ich reiten, bis ich um die Erde herumgekommen bin?«

»Wenn Euer Majestät die Güte haben wollten, mit der Sonne aufzubrechen und ihr entlangzureiten, bis sie am nächsten Morgen wieder da ist: Ich denke, Euer Gnaden werden dann um die ganze Erde herumgeritten sein.«

»Bei St. John«, lachte König John, »ich hatte nicht geglaubt, daß es so schnell ginge; doch lassen wir es dabei und beantworte nun meine dritte und letzte Frage: Was denke ich jetzt?«

»Das ist leicht geraten, Euer Gnaden«, sagte er. »Euer Majestät denken, ich sei der Abt von Canterbury, aber wie Ihr sehen könnt«, und damit riß er die Kapuze ab, »ich bin nur sein armer Schäfer, der hergekommen ist, um für ihn und für mich Eure Verzeihung zu erbitten.«

Laut lachte der König. »Gut gemacht! Du hast mehr Verstand als dein Herr und sollst daher an seiner Stelle Abt sein.«

»Ach nein, das ist nicht gut möglich«, widersprach der Schäfer, »ich kann ja weder schreiben noch lesen.«

»Gut, dann sollst du jede Woche vier Nobel für deinen wachen Witz haben. Und sage dem Abt, daß ich ihm verzeihe!«

Und König John sandte den Schäfer mit einem großen königlichen Geschenk, außer der festgesetzten Pension, wieder heim.


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