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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Der goldene Karpfen

In längst vergangenen Zeiten, als noch grausame Khane das Land regierten, lebte am Ufer des Meeres ein alter Mann mit seinem Sohne. Ihr Leben lang hatten sie Fische gefangen. Der Rücken des Alten war schon ganz krumm geworden von der schweren Arbeit, aber reich waren sie nicht dadurch geworden. Das einzige, was die beiden besaßen, war ein leckes Boot und ein zerrissenes Netz.

Doch der junge Fischer Tair ließ den Mut nicht sinken. Immer war er lustig und sang schöne Lieder; die Kunde von seinem Gesang ging durch die ganze Welt. Von weither kamen die Menschen, um ihn singen zu hören. Einst warf der Alte das Netz aus, und als er es wieder ans Land zog, zappelte darin ein goldener Karpfen. Er wunderte sich darüber und sagte zu seinem Sohn: »Hüte du den wunderbaren Fisch. Ich aber laufe schnell zum Khan und erzähle ihm von unserem Fang. Sicher wird er uns reich belohnen.«

Der Alte ging davon, Tair aber schaute sich gedankenvoll den goldenen Karpfen an, der sich in dem Netz gefangen hatte. Der prachtvolle Fisch tat ihm leid, und er warf ihn zurück ins Meer. Kaum war der goldene Karpfen in den Fluten verschwunden, da kam auch schon der Khan mit seinem großen Gefolge.

»Na, nun zeig mir mal den seltenen Fisch!«

Tair verneigte sich tief und sprach: »Der goldene Karpfen hat mir leid getan, deshalb habe ich ihn wieder ins Meer zurückgeworfen.«

»Du Lügner!« sagte da der Khan wütend zu dem Alten. »Glaubst du, du kannst deinen Spaß mit mir treiben? Gibt es denn überhaupt



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goldene Karpfen auf der Welt?«fragte er den Ersten Wesir, dessen mächtiger Bart bis zur Erde reichte.

»Ich bin schon über hundert Jahre alt, aber noch nie habe ich von einem solchen Wunder gehört«, erwiderte der weißbärtige Wesir. Der Alte mochte noch so oft beteuern, daß er den goldenen Karpfen tatsächlich gefangen hätte, er vermochte den erzürnten Khan nicht zu überzeugen. Der befahl seinen Dienern, zur Strafe den jungen Fischer zu fesseln und in dem lecken Kahn den Wellen preiszugeben.

Der Khan segelte zu seinem Schloß zurück, der verwaiste Vater aber lief ratlos am Strand hin und her, ohne seinem unglücklichen Sohn helfen zu können.

Doch wie erstaunt war Tair, als sein Boot nicht sank. Endlich tauchte in der Ferne eine einsame Insel auf, und ein paar kräftige Wellen trugen das Boot auf den Strand. Plötzlich trat hinter den Sträuchern ein Jüngling hervor, der genauso aussah wie Tair. Er löste Tairs Fesseln und gab ihm zu essen. Sie fischten zusammen, gingen gemeinsam auf die Jagd, teilten alles redlich miteinander und wurden bald gute Freunde.

Einst trafen sie einen alten Hirten, der eine große Hammelherde vor sich hertrieb. Die Freunde wunderten sich, denn sie hatten geglaubt, daß niemand außer ihnen auf der Insel wohnte.

»Drei Tagereisen von hier«, erzählte der Hirt, »liegen die Güter des allmächtigen Khans. Er ist sehr unglücklich, denn seine einzige, durch ihre Schönheit in aller Welt berühmte Tochter sprach seit ihrer Geburt noch kein einziges Wort. Der Khan hat im ganzen Land verkünden lassen, daß derjenige, der seine Tochter zum Sprechen bringt, seine größte Kostbarkeit zur Belohnung erhält; bleibt sie aber weiter stumm, dann wird der Tollkühne geköpft, der sich vermessen hat, sie heilen zu wollen. Viele Köpfe von jungen Helden sind schon gefallen, aber die Tochter des Khans ist noch immer stumm.«

Als sie das hörten, beschlossen die beiden Freunde, sogleich ihr Glück zu versuchen, und als sie das Schloß des Khans erreicht hatten, sagte der Jüngling zu Tair: »Bitte, laß mich zuerst den Versuch wagen. Gelingt es mir, die Tochter des Khans zu heilen, dann wollen wir uns die Belohnung teilen.«



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Tair war einverstanden, und der Jüngling ging ins Schloß. An der Tür begegneten ihm zwei Dienstmägde. Die eine sagte: »Viele mutige Jünglinge haben wie du versucht, unsere Herrin zu heilen. Jetzt zieren ihre Köpfe die Gitterstangen des Schloßzaunes. Dich erwartet das gleiche Schicksal.«

Der Jüngling lächelte, betrat furchtlos das Gemach der Prinzessin und sagte zu ihr: »O wunderbare Herrin! Laß mich erzählen: Wir waren drei Brüder. Einst schnitzte unser ältester Bruder einen Vogel aus Holz. Dieser Vogel war so kunstvoll gemacht, daß er zu leben schien. Der zweite Bruder sammelte im Wald schöne Federn und schmückte damit den Vogel. Dadurch wurde er noch viel prächtiger. Ich aber fand eine Zauberquelle und tauchte den Vogel in das klare Wasser. Da wurde er lebendig und sang. Von da an aber herrschte Unfriede zwischen uns; jeder behauptete, der Vogel gehöre ihm. Es ist kein Ende unseres Streites abzusehen. Darum habe ich beschlossen, zu dir zu reisen und dich um Rat zu fragen, o wunderbare Herrin!« Die Jungfrau zeigte stumm auf ihren Mund und schüttelte den Kopf. Da rief der Jüngling zornig: »Wenn ich deinetwegen sterben soll, so stirb auch du!« Er zog sein Schwert aus der Scheide. Die Jungfrau duckte sich und schrie angstvoll auf. Dabei entschlüpfte ihrem Mund eine Schlange, die wütend zischte. Doch der Jüngling zertrat sie.

Nun sagte die Tochter des Khans: »Nimm diesen Ring und geh zu meinem Vater! Er wird dich reich belohnen.«

Der Jüngling nahm den Ring und ging zu Tair. Als der Fischer seinen Freund sah, stürzte er ihm voller Freuden entgegen. Der Jüngling zog den Ring vom Finger und sagte: »Es wird Zeit, dir das Geheimnis zu offenbaren. Ich bin der goldene Karpfen, dem du aus Mitleid die Freiheit geschenkt hast. Nimm diesen Ring und geh zum Khan! Er erwartet dich. Solltest du jemals meine Hilfe brauchen, so komm ans Meer und rufe dreimal. Dann werde ich dir helfen.« Mit diesen Worten stürzte sich der Jüngling ins Meer und verschwand alsbald in der Tiefe. Der junge Fischer sah ihm lange nach. Dann ging er zum Khan. Der verneigte sich vor dem Jüngling bis zur Erde und sagte: »Zum Dank für deine Tat gebe ich dir meine größte Kostbarkeit - nimm meine Tochter zur Frau!«

Die Diener brachten dem Fischer schöne Seidengewänder, mit Gold



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und Edelsteinen reich bestickt, und am nächsten Tage wurde die Hochzeit gefeiert. Von nun an lebte der junge Fischer im Schloß. Doch bald schon merkte die Tochter des Khans, daß ihr Mann oft sehnsüchtig zum Meer hinausschaute. Da fragte sie ihn nach dem Grund seiner Sehnsucht, und er antwortete ihr: »Das goldene Schloß des Khans bedrückt mich. Meine Hände sind an Arbeit gewöhnt. Ich mag nicht mehr singen und habe an nichts mehr Freude. Fern, jenseits des Meeres, am Strand einer stillen Bucht, die mit leuchtendweißem Sand bedeckt ist, habe ich meine Kindertage zugebracht. Dort lebt mein lieber alter Vater. Ich bin traurig darüber, daß einmalfremde Menschen ihm die Augen schließen werden. Oh, würdest du dich entschließen, mit mir dorthin zu ziehen, so wäre ich der Glücklichste aller Menschen! Aber in meinem Heimatlande wärst du nicht mehr die Tochter des Kahns, sondern nur die Frau eines armen Fischers. Du müßtest Sorge und Not mit mir teilen.«

»Ich bin bereit!« antwortete seine Frau. »Aber wie kommen wir übers Meer? In unserem Land gibt es keine Schiffe.«

Der junge Fischer ging ans Meer, rief dreimal, und der goldene Karpfen kam ans Ufer geschwommen.

»Ich möchte gern in meine Heimat zurückkehren. Aber ich habe kein Schiff. Das Boot, in dem ich dereinst ankam, ist längst zerborsten.«

»Dir kann leicht geholfen werden«, antwortete der Karpfen. »Sobald es dunkel wird, schicke ich dir den größten Fisch der Erde. Befiehl ihm, seinen Rachen zu öffnen, und tritt furchtlos hinein. Am nächsten Morgen schon bist du daheim.«

»Und der Fisch wird uns nicht verschlucken?«

»Hab nur ja keine Angst! Selbst eine Kinderhand wäre für seine Kehle zu groß. Glück auf den Weg!«

Und bevor der junge Fischer noch Zeit fand, seinem Freunde zu danken, war der goldene Karpfen in die Meerestiefe verschwunden.

Sobald es dunkel wurde, rauschte das Meer auf, und ein riesiger Fisch kam ans Ufer geschwommen. Aus seiner Nase stieg eine Fontäne, und der Schwanz schlug voller Ungeduld die Wellen.

Die Tochter des Khans erschrak.

Aber ihr Mann beruhigte sie, nahm sie auf den Arm und trug sie in



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den Riesenrachen des Fisches. Sobald sie darin waren, schwamm der Fisch eilig mit ihnen übers Meer. Der junge Fischer aber und seine Frau schliefen ein, eingewiegt vom gleichmäßigen Rauschen der Wellen.

Am Morgen kam der wunderbare Fisch zu der stillen Bucht. Der junge Fischer wachte auf und erblickte seinen heimatlichen Strand und die halbzerfallene Hütte, auf deren Schwelle sein alter Vater saß. Tair stürzte sich in seine Arme, und der Alte, der den Sohn tot geglaubt hatte, weinte vor Freude.

»Weine nicht, Vater!« tröstete ihn Tair. »Wir beide, meine Frau und ich, sind jung und gesund. Bis ans Ende unserer Tage wollen wir für dich sorgen. Du bist schon alt, es wird Zeit, daß du dich ausruhst.«

Der Alte trocknete sich die Augen und küßte seinen Sohn.

So lebten sie denn alle drei in der alten Fischerhütte. Der junge Fischer hat seine seltsamen Abenteuer in einem Liede erzählt, und dieses Lied wird auch heute noch in Turkmenien gesungen.


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