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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Der Kristallberg

In einem Königreich lebte einmal ein König, der hatte drei Söhne. Eines Tages sagten die Kinder zum Vater: »Lieber Herr-Väterchen, Väterchen, segne uns, wir wollen in die weite Welt reiten, uns die Menschen anschauen, uns selber ihnen zeigen und unser Glück suchen!«

Der Vater segnete sie, und sie ritten nach verschiedenen Richtungen davon.

Der jüngere Sohn, Prinz Iwan, verirrte sich noch am selben Tage. Er ritt im Wald umher und gelangte zu einer Lichtung. Dort lag ein totes Pferd, und neben diesem Aas hatte sich eine Unzahl aller möglichen



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Tiere, Vögel und Schlangen versammelt. Als die Tiere den Prinzen Iwan sahen, trennte sich von den Vögeln ein heller Falke, flog zu ihm hin, setzte sich auf seine Schulter und sagte: »Prinz Iwan! Teile du für uns dieses Pferd; es liegt schon sehr lange hier, und wir alle streiten uns darum, denn wir wissen einfach nicht, wie wir es teilen sollen.«

Der Prinz stieg vom Pferd und teilte das Aas: den wilden Tieren gab er die Knochen, den Vögeln das Fleisch, die Haut den Schlangen, den Kopf aber den Ameisen.

»Danke, Prinz Iwan!« sagten alle mit einer Stimme: die wilden Tiere, die Vögel und die Schlangen. »Für diesen Dienst kannst du jetzt auf die Liebe der Tiere, der Vögel und der Schlangen rechnen. Du brauchst nur zu sagen: Ich will ein lichter Falke sein und unter dem Himmel dahinfriegen, oder: Ich will eine kleine Ameise sein und an den Gräschen herumkriechen -dein Wunsch wird in Erfüllung gehen.«

Prinz Iwan dankte den Tieren, den Vögeln und den Schlangen und ritt weiter. Endlich kam er in ein weit entferntes Reich. Dort sagten ihm die Einwohner: »Bei uns könnten alle gut, behaglich und zufrieden leben, aber es plagt uns ein großes Unglück. Neben unserer Hauptstadt steht ein kristallener Berg und darauf haben sich seit kurzer Zeit drei schreckliche Drachen eingenistet. Jeden Tag schleppen sie bald Menschen, bald Vieh zu sich auf den Berg, und auf diese Weise haben sie schon nahezu das halbe Königreich verschleppt.«

»Hat sich denn da bei euch niemand gefunden, der gegen diese Ungeheuer auszieht und sie bis in ihr Nest verfolgt?«

»Nein, guter Jüngling, ein solcher Held hat sich nicht gefunden!«

Da ging Prinz Iwan zum König dieses Reiches und sagte: »König und Herr! Willst du mich nicht in deinen Dienst nehmen?«

»Warum soll ich einen so jungen Helden nicht nehmen? Ich brauche wackere Jünglinge, denn ich schlafe sowieso weder bei Tag noch bei Nacht und denke immerzu darüber nach, wie ich meine Tochter vor den Drachen schützen kann, die jeden Tag die schönsten Mädchen auf den Berg schleppen und mein ganzes Reich zerstören.«

Prinz Iwan blieb bei diesem König im Dienst und begann sich überall umzusehen und zu erkundigen. Es war so: Kein Tag verging ohne



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Unglück. Bald kam einer, bald ein anderer zum König, weinte und klagte seinen Kummer . . . Der eine schrie: »König und Herr, bei mir hat ein dreiköpfiger Drache die letzte Kuh geholt!« Ein anderer klagte: »König und Herr, bei mir hat ein dreiköpfiger Drache die Tochter und Braut geraubt!«

Alle flehten den König an: »Väterchen-König! Suche doch für uns auf der ganzen Welt einen Mann, der uns von diesen Ungeheuern befreien kann! Einem solchen Helden würden wir alle unsere Tiere abgeben!«

Der König aber ließ den Kopf hängen und wußte nichts anderes, als ihnen allen Geschenke auszuteilen.

Prinz Iwan sagte zu ihm: »König und Herr! Es tut mir weh, dein Unglück zu sehen und das Weinen und Klagen zu hören. Ich will mein Glück versuchen, entweder opfere ich meinen Kopf, oder ich vernichte diese Ungeheuer.«

»Es tut mir leid um dich, guter Jüngling, du wirst sie sicher nicht vernichten.«

»Das laß nur meine Sorge sein; befiehl mir lediglich, deine königliche Herde zu weiden, und was auch mit ihr geschieht, bestrafe dafür nicht mich!«

»Meinetwegen verfüge du über die Herde und sogar über alle meine Schätze, wenn du uns nur aus unserem Elend hilfst.«

Prinz Iwan kleidete sich als alter Hirte und trieb seine Herde auf den kristallenen Berg. Auf einmal lärmte und rauschte es auf dem Berg, und es kam ein dreiköpfiger Drache geflogen, der dem Prinzen zuschrie: »Du hast dich im Beruf vergriffen, Prinz Iwan. Ein wackerer Bursche kämpft, du aber weidest die Herde! Gib drei Kühe her!«

»Das wäre zu fett!« antwortete der Prinz. »Ich esse selber an einem Tag nicht einmal eine Ente, und du verlangst gleich drei Kühe, nicht eine wirst du bekommen!« Der Drache warf sich auf ihn, aber Prinz Iwan verwandelte sich in einen hellen Falken, hackte ihm die Augen aus und schlug ihm nacheinander alle drei Köpfe ab.

Am anderen Tag trieb der Prinz seine Herde wieder auf den kristallenen Berg zur Weide. Da polterte und lärmte es wieder, und es flog ein sechsköpfiger Drache daher, der vom Prinzen Iwan sechs Kühe verlangte. Prinz Iwan aber sagte lachend zu ihm: »Ach du gefräßiges Ungeheuer! Ich esse selber nicht mehr als eine Ente am



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Tag, aber was hast du verlangt? Nein, nicht eine sollst du bekommen!« «

Der Drache schäumte vor Wut und warf sich auf den Prinzen. Der aber verwandelte sich wieder in einen lichten Falken, hackte dem Drachen die feurigen Augen aus und schlug dem Blinden alle sechs Köpfe ab. Jetzt lief im Volk das Gerücht um von der Kühnheit und Tapferkeit des Prinzen Iwan, und die Menschen kamen ihm entgegen, wenn er am Abend die königliche Herde in die Stadt trieb. Alle begegneten ihm wie einem Wohltäter, küßten ihm die Hände und warfen ihre Mützen in die Höhe. Der König selber kam von der Freitreppe seines Schlosses herab zu ihm und sagte: »Du sollst an Stelle meines eigenen Sohnes der Erbe meines Reiches sein, hier hast du meine einzige Tochter als Braut.«

Er rief die Prinzessin und führte sie zu dem Prinzen Iwan, das Volk aber frohlockte und schrie: »Heil unserem König! Heil unserem Befreier!«

Bei dem König wurde kein Bier gebraut, kein Schnaps gebrannt - gerade auf den anderen Tag war die Hochzeit festgesetzt. Aber es kam nicht dazu. . .! Am Morgen kamen die Mädchen der Prinzessin zum König gelaufen und sagten: »König-Väterchen! Wieder ist ein unerwartetes rätselhaftes Unglück über uns gekommen! Heute früh, als die Prinzessin kaum mit uns in den Garten hinausgegangen war, um zu lustwandeln, ist von irgendwoher ein zwölfköpfiger Drache gekommen. Er nahm sie unter seine Flügel und trug sie fort auf den kristallenen Berg.«

Da weinte der König wie ein kleines Kind, rief den Prinzen Iwan zu sich und flehte ihn an: »Hilf mir in meinem Schmerz, befreie meine Tochter von dem Drachen und rette deine Braut vor dem schlimmen Tod!«Prinz Iwan ließ sich nicht lange bitten, setzte seine Mütze auf, steckte sein Messer in den Gürtel und ging fort. Als er zum kristallenen Berg gekommen war, verwandelte er sich in eine Ameise und kroch durch eine kleine Ritze mitten in den kristallenen Berg. Dort sah er in einem kristallenen Zimmer auf Bänken, die mit geripptem Samt bedeckt waren, lauter schöne Mädchen sitzen, die Ströme von Tränen vergossen. Mitten unter diesen schönen Mädchen saß auch seine Braut voller Schmerz und Kummer und weinte bitterlich.



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»Weine nicht, schönes Mädchen«, sagte der Prinz zu ihr, »ich bin gekommen, um dich aus der Gefangenschaft zu befreien.«

»Du wirst uns aus der Gefangenschaft nicht befreien können, guter Jüngling! Nur der kann uns befreien, der den zwölfköpfigen Drachen niederschlägt, ihn in zwei Hälften zerschneidet, das Herz aus seiner Brust herausreißt und aus dem Herzen den Samen nimmt. Diesen Samen muß er anzünden und zum kristallenen Berg tragen. Dann schmilzt er, und wir alle gelangen in die Freiheit.«

»Wo kann ich diesen Drachen finden?«

»Geh zu dem See meines Vaters, dorthin fliegt er jeden Morgen zum Trinken, denn aus diesem See sammelt er seine Kraft.«

Prinz Iwan ging aus dem kristallenen Berg wieder in die freie Welt. Er kam zum König und sagte: »König und Herr, befiehl, daß morgen in aller Frühe noch vor Sonnenaufgang am Ufer deines Sees ein vierzigstel Faß grüner Wein aufgestellt wird, damit ich eine Stärkung habe, wenn ich mit dem Drachen kämpfe.«

Das Faß mit dem grünen Wein wurde ans Ufer des Sees gerollt; Prinz Iwan schlug den Deckel heraus, legte sich selber ins Dickicht und erwartete den Drachen.

Kaum fing es an zu dämmern, kaum fing der Nebel an sich zu zerstreuen, da lärmte und rauschte es in der Luft, der zwölfköpfige Drache ließ sich zum See nieder und fing an, Wasser zu trinken. Da erblickte er den Prinzen Iwan.

»Warum bist du hier, nichtsnutziger Wurm? Was willst du?« »Ich bin hier, um mit dir zu kämpfen und das Königreich von dir zu befreien.«

»Wie willst du denn mit mir kämpfen? Meine Kraft liegt in dem See. Solange ich nicht alles Wasser daraus getrunken habe, wirst du mich auch nicht besiegen können.«

»Aber meine Kraft liegt in diesem Faß: Sobald ich vom Kampfe schwach werde, brauche ich nur einen Schluck daraus zu nehmen, dann kann ich drei Tage kämpfen, ohne müde zu werden.«

Er begann mit dem Drachen zu kämpfen. Er schlug immerzu und entfernte sich von seinem Fasse.

Da dachte der Drache: Warte, ich werde deine Kraft ganz vernichten, warf sich auf das Faß, packte es und trank es auf einen Zug aus. Da fiel er auch schon hin und ward auf der Stelle ohnmächtig, völlig



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betrunken. Der brave Jüngling aber besann sich nicht lange, sprang auf ihn zu und schlug ihm sämtliche Köpfe ab. Dann riß er ihm das Herz aus der Brust, nahm den Samen, zündete ihn an und warf ihn auf den kristallenen Berg. Der Berg schmolz sofort, und alle, die darin waren, gelangten ans Tageslicht. Da gab es Freudentränen! Jetzt fand auch Prinz Iwan sein Glück und wurde mit der Prinzessin getraut.


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