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Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


Gehe dorthin - Ich weiß nicht wohin Bringe das - Ich weiß nicht was

In einem Königreich am blauen Meer lebte einmal ein König. Er war nicht verheiratet. In einem seiner Regimenter, die für ihn auf die Jagd zogen, Vögel schossen und die königliche Tafel versorgten, diente auch ein junger Mann mit Namen Fedot als einfacher Schütze. Er traf stets mitten ins Ziel und schoß niemals daneben. Deshalb schätzte ihn der König mehr als alle seine übrigen Untergebenen. Eines Tages nun ging Fedot schon früh bei Morgengrauen auf Jagd. Er kam in einen finsteren dichten Wald und sah da auf einem Baum eine Taube sitzen. Fedot spannte den Bogen, zielte und schoß —aber sein Schuß streifte den Flügel des Vogels nur leicht. Der Vogel jedoch fiel zur Erde. Der Schütze hob ihn auf, wollte ihm den Kopf abreißen und ihn in seine Tasche stecken. Da fing die Taube an zu reden:

»Ach, lieber junger Schütze! Reiße mir das Köpfchen nicht ab und verbanne mich nicht aus dieser so schönen Welt! Bringe mich lebendig zu dir nach Hause und setze mich dort aufs Fensterbrett. Sobald dann der Schlaf über mich kommt, schlage mich leicht mit dem Rücken deiner rechten Hand, und du wirst ein großes Glück erfahren!«

Der Schütze war höchst verwundert. >Was ist das?<dachte er, >von außen ist's ganz ein Vogel und spricht doch mit menschlicher Stimme! Bisher ist mir so etwas nie begegnet.<

Er brachte den Vogel heim, setzte ihn aufs Fensterbrett und wartete. Nach einiger Zeit schob die Taube ihr Köpfchen unter den Flügel und schlief ein. Da erhob der Schütze die rechte Hand und schlug das Täubchen leicht mit dem Handrücken. Die Taube fiel zur Erde und verwandelte sich in ein Mädchen von ganz unbeschreibbarer Schönheit.

Es sagte zu dem wackeren Jungen, dem königlichen Schützen: »Du



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hast mich erjagen können, nun darfst du auch mit mir leben. Werde mein mir vom Schicksal erwählter Gatte, und ich will dir deine von Gott zubestimmte Gattin sein!«

So taten sie auch; Fedot heiratete, lebte für sich und erfreute sich an seiner jungen Frau. Darüber aber vergaß er nicht seinen Dienst. An jedem Frühmorgen noch in der Dämmerstunde griff er nach seinem Bogen und ging in den Wald, schoß dieses und jenes Wild und brachte es zur königlichen Küche.

Seine Frau aber sah, daß ihn diese Jagerei stark ermüdete, und sie sagte zu ihm: »Höre zu, mein Lieber! Du tust mir leid. An jedem Tag, den Gott uns schenkt, schweifst du in Wäldern und Sümpfen umher und kommst meist pitschnaß nach Hause, aber wir haben davon keinen rechten Nutzen. Was ist das schon für ein Handwerk! Doch höre, ich selber verstehe mich auf eines, das uns Nutzen bringen kann. Besorge dir zweihundert Rubel, das andere schaffen wir dann schon.«

Fedot wandte sich an seine Kameraden. Bei dem einen lieh er sich einen, bei dem anderen zwei Rubel und brachte genau zweihundert Rubel zusammen.

»Jetzt«, sagte sie, »kaufe du für das ganze Geld verschiedene Arten von Seide.«Der Schütze kaufte für zweihundert Rubel verschiedene Seiden.

Die Frau nahm sie und sagte: »Kümmere dich nicht, bete und leg dich schlafen. Der Morgen ist klüger als der Abend!«

Der Mann legte sich zur Nachtruhe, die Frau aber trat auf die Freitreppe hinaus, schlug ihr Zauberbuch auf, und alsbald erschienen vor ihr zwei Jünglinge.

»Was wünschst du? Befiehl!«

»Nehmt diese Seide hier und macht mir in einer Nacht einen Teppich, einen so wunderbaren, wie er in der ganzen Welt noch nicht gesehen worden ist. In den Teppich muß das ganze Königreich eingewebt sein mit allen Städten, Dörfern, Flüssen und Seen.«

Sie machten sich an die Arbeit und fertigten einen ganz wunderbaren Teppich an. Am Morgen übergab ihn die Frau ihrem Mann.

»Hier nimm«, sagte sie, »trage ihn zum Markt und verkaufe ihn an die Kaufleute, aber beachte genau: Verlange ja keinen Preis, sondern nimm willig das, was sie dafür geben.«



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Fedot nahm den Teppich, legte ihn zusammen, hängte ihn über den Arm und ging durch die Gassen zum Markt. Ein Kaufmann sah ihn, ging zu ihm hin und fragte: »Höre, mein Lieber, verkaufst du das?«

»Ja.«

»Was soll der Preis sein?«

»Du bist ein Handelsmann, setze nur du den Preis fest.«

Der Kaufmann dachte, grübelte und rechnete und konnte einfach den Wert des Teppichs nicht schätzen. Da kam ein anderer Kaufmann hinzu, dann ein dritter und vierter - und schließlich standen eine ganze Anzahl von Händlern beisammen: sie beschauten den Teppich, bewunderten ihn, konnten aber seinen Wert nicht schätzen.

Indessen ging der königliche Tafeldecker an den Verkaufsständen vorüber, sah die Händler miteinander reden und wollte wissen, worüber sie sich unterhielten. »Wir können uns für einen Teppich über den Preis nicht einigen.«

Der Tafeldecker schaute den Teppich genau an und geriet vor Verwunderung völlig außer sich.

»Höre, Schütze!« sagte er. »Sprich mir die Wahrheit und sage aufrichtig, wo hast du diesen wunderbaren Teppich her?«

»Meine Frau hat ihn angefertigt.«

»Was soll ich dir dafür geben?«

»Den Preis weiß ich selber nicht; meine Frau hat mir befohlen, nicht zu handeln und zu nehmen, was man gibt -das soll dann uns gehören.«

»Gut, dann gebe ich dir gern zehntausend.«

Der Schütze nahm das Geld und gab ihm den Teppich. Dieser Tafeldecker aber war ständig um den König - er aß und trank mit ihm auch am Tisch. Auch an diesem Tag fuhr er zum König zum Mittagessen und nahm den Teppich mit: »Wollen Eure Hoheit sehen, was für einen Teppich ich heute gekauft habe?«

Der König schaute - und sah da sein ganzes Reich wie auf einer Handfläche. »Oh«, rief er voller Staunen, »das ist mir aber ein Teppich! In meinem ganzen Leben habe ich ein solches Kunstwerk nicht gesehen! Mach, was du willst, den Teppich gebe ich dir nicht wieder.«

Der König nahm fünfundzwanzigtausend und übergab sie dem Tafeldecker,



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den Teppich selber aber hängte er in seinem Schloß auf. >Macht nichts<, dachte der Tafeldecker, >ich werde mir einen anderen, noch besseren bestellen.<

Sogleich ritt er zum Schützen, fand sein Häuschen und ging ins Giebelzimmer. Aber kaum daß er die Frau des Schützen gesehen hatte, da vergaß er sich selber und alle seine Angelegenheiten. Nur mit großer Anstrengung riß er sich los und ging zu Fuß nach Hause. Er wußte von diesem Zeitpunkt an nicht mehr, was er tat: bei Tag und Nacht dachte er nur noch an die schöne Schützenfrau.

Der König merkte das und fragte ihn: »Was ist so plötzlich über dich gekommen? Hast du etwa irgendeinen Kummer?«

»Ach, Väterchen König, ich habe bei dem Schützen eine Frau gesehen-eine solche Schönheit gibt es in der ganzen Welt nicht mehr!«

Dem König kam die Lust an, sich selbst zu ergötzen, und er fuhr in das Lager der Schützen. Er betrat die Hütte und sah eine unbeschreibbare Schönheit. Eine heiße Leidenschaft erfaßte ihn.

>Warum<, dachte er bei sich, >lebe ich eigentlich als Junggeselle? Ich will diese Schönheit heiraten. Warum soll sie die einfache Frau eines Schützen sein? Ihrer Natur nach ist sie zur Königin geboren.<

Der König kehrte ins Schloß zurück und sagte zum Tafeldecker: »Höre! Du hast mir die Frau des Schützen, diese unbeschreibbare Schönheit, zeigen können, jetzt mußt du ihren Mann fortbringen. Ich selber will diese Frau heiraten .

Wenn du ihn aber nicht rasch fortbringst, dann mach dir nur gleich selber Vorwürfe. Wenn du auch mein getreuer Diener bist, so wirst du dann doch an den Galgen kommen!«

Der Tafeldecker ging fort und war noch trauriger als zuvor. Er wußte nicht, was er mit dem Schützen anstellen sollte. Er ging verwirrt über unbebaute Plätze und durch verwinkelte Gassen. Da begegnete ihm ein ärmliches altes Weib und sagte: »Halt, königlicher Diener, ich erkenne alle deine Gedanken und Sorgen. Willst du, daß ich dir in deinem großen Kummer helfe?«

»Hilf mir, Großmütterchen! ich zahle dir, was du verlangst.«

»Du hast den königlichen Befehl, den Schützen Fedot zu entfernen. Da ist nichts Großes dabei. Er selber ist ein einfacher Mensch, aber seine Frau ist sehr schlau. Wir werden ein Rätsel ersinnen, das nicht so bald zu lösen ist. Geh zum König und sage, er möge den Schützen



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schicken: dorthin -ich weiß nicht wohin, zu bringen das - ich weiß nicht was. Diese Aufgabe wird er sicherlich in alle Ewigkeit nicht zu erfüllen vermögen. Entweder geht er spurlos verloren, oder er kommt mit leeren Händen zurück.«

Der Tafeldecker belohnte die Alte mit Gold und eilte zum König. Der hörte ihn an und ließ den Schützen herbeirufen.

»Fedot! Du bist ein wackerer Mann, bist mir der erste Schütze im Regiment. Erweise mir jetzt einen besonderen Dienst: Gehe dorthin — ich weiß nicht wohin, bring mir das - ich weiß nicht was! Aber wisse, wenn du es nicht bringst; hier ist mein Schwert, und dir kommt der Kopf von den Schultern.«

Der Schütze machte linksum kehrt und ging aus dem Schloß. Nachdenklich und traurig kam er nach Hause. Da fragte ihn die Frau: »Warum bist du so bekümmert, mein Lieber? Hast du einen Verdruß?«

»Der König schickt mich - ich weiß nicht wohin, und befiehlt zu bringen das -ich weiß nicht was. Um deiner Schönheit willen werde ich alles Unglück ertragen?«

»Ja, das ist keine kleine Aufgabe. Um dorthin zu gelangen, muß man neun Jahre hin- und neun Jahre zurückgehen, das macht achtzehn Jahre, ob es aber einen Sinn hat, das weiß Gott allein.«

Was tun? Was anfangen?

»Bete und leg dich schlafen, der Morgen ist klüger als der Abend, morgen wirst du alles erfahren.«

Der Schütze legte sich schlafen. Die Frau aber erwartete die Mitternacht, schlug ihr Zauberbuch auf, und sogleich erschienen vor ihr zwei Jünglinge.

»Was wünschest du? Was brauchst du?«

»Wißt ihr nicht, wie man es fertigbringt, zu gehen dorthin -ich weiß nicht wohin, zu bringen das - ich weiß nicht was?«

»Nein, das wissen wir nicht!«

Sie schlug das Buch zu, und die Jünglinge verschwanden wieder. Am Morgen weckte die Schützenfrau ihren Mann: »Geh zum König und verlange einen Goldschatz auf den Weg. Du mußt ja achtzehn Jahre lang wandern. Wenn du das Geld bekommen hast, komme wieder zu mir, damit wir Abschied nehmen.«

Der Schütze ging zum König, empfing einen ganzen Haufen Gold



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und ging dann zu seiner Frau, um sich zu verabschieden. Sie gab ihm ein Handtuch und einen kleinen Spielball und sagte: »Wenn du aus der Stadt hinauskommst, dann wirf diesen Ball vor dich hin. Wohin er rollt, genau dorthin gehe auch du. Und hier hast du noch eine Handarbeit von mir: Wo du auch bist und dich wäschst, trockne immer dein Gesicht nur mit diesem Handtuch ab.«

Der Schütze nahm Abschied von seiner Frau und seinen Kameraden, verneigte sich nach allen vier Seiten und ging durch den Schlagbaum. Dort warf er den Ball weg. Dieser rollte dahin, und er folgte seiner Spur.

Ein Monat verging, da rief der König den Tafeldecker und sagte zu ihm: »Der Schütze ist fortgegangen, um sich achtzehn Jahre in der Welt herumzutreiben. Vermutlich ist er nicht mehr am Leben. Achtzehn Jahre sind weit mehr als zwei Wochen. Was kann da unterwegs alles passieren? Geh ins Lager der Schützen und bringe seine Frau zu mir aufs Schloß.«

Der Tafeldecker ging ins Lager zu der schönen Schützenfrau, trat in die Hütte und sagte: »Guten Tag, du Kluge! Der König hat mir befohlen, dich ins Schloß zu bringen.«

Sie kam ins Schloß und wurde vom König freudig begrüßt. Er führte sie in seine vergoldeten Zimmer und fragte sie: »Willst du Königin sein? Ich werde dich zur Frau nehmen.«

»Wo ist das jemals gesehen und gehört worden, daß man einem lebenden Mann seine Frau wegnimmt? Sei es, wie es wolle, wenn er auch nur ein einfacher Schütze ist, aber er ist doch mein rechtmäßiger Mann.

»Wenn du nicht freiwillig kommst, werde ich dich mit Gewalt nehmen!«

Da lachte die schöne Frau, stampfte auf den Boden, verwandelte sich in eine Taube und flog zum Fenster hinaus.

Viele Reiche und Länder durchwanderte der Schütze. Der Ball rollte immer vor ihm her. Wo sie an einen Fluß kamen, dort bildete er eine Brücke; wo der Schütze ausruhen wollte, dort breitete der Ball ein Daunenbett aus. Endlich gelangte der Schütze zu einem großen, prächtigen Schloß. Dort rollte der Ball durchs Tor und war verschwunden.

Der Schütze dachte lange Zeit nach.



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>Jetzt gehe ich einfach geradeaus!< sagte er sich und ging über die Treppe in ein Zimmer. Dort begegneten ihm drei schöne Mädchen. »Woher und warum, guter Mann, bist du gekommen?«

»Ach, ihr schönen Mädchen, hättet ihr mich nicht zuerst mal von meinem anstrengenden Weg ausruhen lassen und später fragen können? Gebt mir lieber zuerst mal Essen und Trinken und führt mich ins Bett. Dann fragt mich nach Neuigkeiten.«

Sie holten sofort einen Tisch herbei, ließen ihn Platz nehmen, speisten ihn und brachten ihn in ein Bett.

Nachdem der Schütze ausgeschlafen hatte, stand er aus seinem weichen Bett auf. Die schönen Mädchen brachten ihm eine Waschschüssei und ein Handtuch. Er wusch sich mit dem Quellwasser, aber das Handtuch nahm er nicht an.

»Ich habe mein eigenes Handtuch zum Abwischen des Gesichtes«, sagte er.

Er nahm das Handtuch und trocknete sich ab. Da fragten ihn die schönen Mädchen:

»Guter Mann! Sage, wo hast du dieses Handtuch her?«

»Das hat mir meine Frau gegeben.«

»Da bist du also mit unserer eigenen Schwester verheiratet.«

Sie riefen ihre alte Mutter herbei, und als sie das Handtuch sah, erkannte sie es sofort: »Das ist eine Handarbeit meines Töchterleins!«

Sie fragte den Fremden aus, und er erzählte alles, wie er ihre Tochter geheiratet habe und wie ihn der König geschickt habe, dorthin -ich weiß nicht wohin, zu bringen das - ich weiß nicht was.

»Ach, Schwiegersöhnchen! Von diesem Wunder habe nicht einmal ich etwas vernommen! Warte, vielleicht wissen meine Diener etwas davon.«

Die Alte holte ihr Zauberbuch hervor, schlug es auf, und sofort standen zwei Riesen vor ihr: »Was wünschest du? Was brauchst du?«

»Hört ihr, meine treuen Diener! Bringt mich mit meinem Schwiegersohn auf das weite Meer und haltet gerade in der Mitte, wo es am tiefsten ist.«

Sogleich ergriffen die Riesen den Schützen und die Alte und brachten sie wie ein Wirbelwind auf das weite Meer und machten in dessen



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Mitte halt. Dort standen sie wie zwei Säulen und hielten den Schützen und die Alte in ihren Händen. Jetzt schrie die Alte mit lauter Stimme, und alle Fische und Meerungeheuer kamen zu ihr herangeschwommen. Es wimmelte nur so von ihnen. Vom Meer war gar nichts mehr zu sehen! »Heißa, ihr Fische und Meerungeheuer! Ihr schwimmt überall herum, habt ihr nicht gehört, wie man gehen kann dorthin - ich weiß nicht wohin und bringen das - ich weiß nicht was?«

Alle Ungeheuer und Fische antworteten einstimmig: »Nein, davon haben wir nichts gehört!«

Auf einmal aber drängte sich ein alter krummbeiniger Frosch nach vorne und sagte: »Quack, quack! Ich weiß, wo ein solches Wunder zu finden ist!«

»Gut, mein Lieber, da kann ich dich brauchen!«sagte die Alte, nahm den Frosch und befahl den Riesen, sie und den Schwiegersohn nach Hause zu tragen. Im Nu waren sie wieder im Schloß.

Dort fragte die Alte den Frosch: »Wie und auf welchem Weg muß mein Schwiegersohn gehen?« Der Frosch antwortete: »Dieser Ort liegt am Rande der Welt -weit -weit! Ich hätte ihn wohl selber hingeführt, aber ich bin schon sehr alt und kann kaum meine Beine dahin schleppen. Ich würde in fünfzig Jahren nicht hinspringen.« Da brachte die Alte eine große Büchse, goß frische Milch hinein, setzte den Frosch dort hinein und gab sie dem Schwiegersohn:

»Trage diese Büchse in der Hand, der Frosch soll dir den Weg zeigen.«

Der Schütze nahm die Büchse mit dem Frosch, verabschiedete sich von der Schwiegermutter und den Schwägerinnen und machte sich auf die Reise. Der Frosch zeigte ihm den Weg. Ober kurz oder lang kamen sie an einen feurigen Fluß. In dessen Nähe stand ein hoher Berg, an dem eine Tür zu sehen war.

»Quack, quack«, sagte der Frosch, »laß mich aus der Büchse, wir müssen über den Fluß hinüber.«

Der Schütze nahm ihn heraus und setzte ihn auf den Boden.

»Jetzt, guter Jüngling, setze dich auf mich, aber fest, hab keine Angst, du erdrückst mich nicht!«

Der Schütze setzte sich auf den Frosch und drückte ihn ganz zu Boden. Der Frosch aber begann zu schnauben und wurde so groß wie



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ein Heuschober. Der Schütze hatte nur den einen Gedanken, daß er nicht herunterfalle.

»Wenn ich herunterfalle, wird es mein Tod sein!«

Der Frosch schnaubte und sprang -mit einem Sprung setzte er über den feurigen Fluß und wurde wieder ganz klein.

»Jetzt, guter Mann, geh zu dieser Tür. Ich aber werde hier auf dich warten. Du kommst in eine Höhle, dort verstecke dich gut. Nach kurzer Zeit werden zwei alte Männer hereinkommen. Höre genau, was sie sagen und tun, und wenn sie fort sind, so rede und tue desgleichen!«

Der Schütze ging zu dem Berg hin und öffnete die Tür. Aber in der Höhle war es so finster, daß man sich die Augen ausstoßen konnte. Er kroch auf allen Vieren und tastete herum. Endlich fand er einen leeren Schrank, setzte sich hinein und machte ihn zu.

Nach kurzer Zeit kamen zwei alte Männer und sagten: »Heda, Schmat-Kluger, gib uns zu essen!«

Im selben Augenblick -wunderbar! —brannten Lüster, klapperten Schüssel und Teller, und auf einem Tisch erschienen vortreffliche Weine und Speisen.

Die Alten aßen und tranken und befahlen dann: »Heda, Schmat-Kluger, räum alles weg!«

Im Nu war alles fort, der Tisch, der Wein, das Essen, und alle Lüster waren wieder gelöscht.

Der Schütze hörte, daß die beiden Alten fortgingen, kroch aus dem Schrank und schrie: »Heda, Schmat-Kluger!«

»Was wünschest du?«

»Füttere mich!«

Wieder brannten die Lüster, und der Tisch war mit allen möglichen Speisen und Getränken bedeckt.

Der Schütze setzte sich zu Tisch und sagte: »Ei, Schmat-Kluger! Da, Bruder, setz dich zu mir, wir wollen mitsammen essen und trinken, einem allein wird es sonst langweilig.«

Da antwortete die Stimme eines Unsichtbaren: »Heda, du guter Mann! Woher hat dich der liebe Gott gebracht? Jetzt sind es schon bald dreißig Jahre, daß ich den beiden Alten treu und ehrlich diene, aber die ganze Zeit haben sie mich niemals zu sich hinsetzen lassen.«



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Der Schütze schaute verwundert: Niemand war zu sehen, aber die Speisen flogen von den Tellern weg, als würden sie mit einem Besen heruntergefegt. Die Weinflaschen erhoben sich von selber und füllten die Gläser. Sie waren leer, bevor man sich dessen versah!

Der Schütze aß, trank und sagte: »Höre, Schmat-Kluger! Willst du mir dienen? Bei mir hast du ein gutes Leben!«

»Warum nicht? Ich habe es hier schon lange satt. Du bist, wie ich sehe, ein guter Mann.«

»Also räume alles zusammen, dann wollen wir gehen.«Der Schütze ging aus der Höhle heraus, blickte sich um, sah aber niemanden. »Schmat-Kluger, bist du da?«

»Ich bin da. Du brauchst keine Angst zu haben, ich gehe von dir nicht fort.«

»Gut«, sagte der Schütze und setzte sich auf den Frosch. Der blähte sich auf und sprang über den Feuerfluß. Dann setzte ihn der Schütze in die Büchse und ging den gleichen Weg zurück. Als er zur Schwiegermutter gekommen war, ließ er die Alte und die Töchter von seinem neuen Diener bewirten. Schmat, der Kluge, bewirtete sie so, daß die Alte vor lauter Freude fast zu tanzen angefangen hätte. Sie befahl, dem Frosch als Lohn für seine treuen Dienste täglich drei Schalen Milch zu geben. Jetzt verabschiedete sich der Schütze wieder von seiner Schwiegermutter und machte sich auf den Heimweg. Er ging lange und wurde furchtbar müde, seine schnellen Füße waren ganz schlapp, und die weißen Hände hingen ihm herunter: »Ach«, sagte er, »wenn du eine Ahnung hättest, wie müde ich bin! Meine Füße sind so matt.«

»Warum hast du mir das nicht schon längst gesagt? Ich hätte dich ganz schnell an Ort und Stelle gebracht.« Sogleich erfaßte er den Schützen wie in einem wilden Wirbelsturm und trug ihn so schnell durch die Luft fort, daß ihm die Mütze vom Kopfe fiel.

»Hallo, Schmat-Kluger! Warte eine Minute, mir ist meine Mütze heruntergefallen.«

»Zu spät hast du das bemerkt, Herr! Deine Mütze liegt jetzt fünftausend Werst von hier.«

Städte und Dörfer, Flüsse und Wälder huschten nur gerade so unter den Füßen des Schützen vorüber. . . Jetzt flog er über dem tiefen Meer, da sagte Schmat, der Kluge, zu ihm: »Soll ich dir auf diesem



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Meer eine goldene Laube errichten? Da kannst du ausruhen und dein Glück erlangen.«

»Also mach eine«, sagte der Schütze und ließ sich auf das Meer nieder. Dort, wo vor einer Minute noch die Wogen geplätschert hatten —da erschien jetzt eine Insel, und auf dieser Insel war eine goldene Laube.

Schmat, der Kluge, sagte zum Schützen: »Setze dich in die Laube, ruh dich aus und schaue auf das Meer hinaus. Es werden drei Kauffahrteischiffe vorüberfahren und an der Insel anhalten. Rufe die Kaufleute herbei, bewirte sie und tausche mich gegen die drei Wunderdinge um, die sie bei sich haben. Ich werde zur rechten Zeit wieder zu dir zurückkommen!«

Der Schütze sah sich um - und tatsächlich kamen von Westen her drei Schiffe geschwommen.

Die Schiffer sahen die Insel mit der goldenen Laube und sagten: »Was ist das für ein Wunder! Wir sind doch schon oft und oft hier gefahren, und es war nichts da als Wasser; jetzt ist auf einmal eine goldene Laube da. Halten wir zum Ufer hin, Brüder, und schauen uns das an!«

Sogleich rafften sie die Segel und ließen den Anker fallen. Die drei Kaufherren setzten sich in einen leichten Kahn und fuhren zur Insel hin. »Guten Tag, lieber Mann!«

»Guten Tag, ihr Kaufleute, Handelsmänner! Kommt nur zu mir, geht spazieren, seid lustig, haltet Rast. Diese Laube ist eigens für fremde Seefahrer errichtet.«

Die Kaufleute gingen in die Laube und setzten sich dort auf eine Bank.

»Heda, Schmat-Kluger«, schrie der Schütze, »gib uns zu essen und zu trinken!«

Da erschien ein Tisch, auf dem Essen und Trinken stand, was das Herz begehrt - alles war im Nu da!

Die Kaufleute schrien vor Verwunderung auf: »Komm«, sagten sie, »laß uns tauschen! Du gibst uns deinen Diener und nimmst von uns das Wunderding, das dir am liebsten ist.«

»Was habt ihr denn für Wunderdinge?«

»Schau her, und du wirst sehen!«

Da nahm einer der Kaufleute eine kleine Schachtel aus der Tasche,



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und kaum hatte er sie geöffnet, da bedeckte auch schon die ganze Insel ein lieblicher Garten mit Blumen und Wegen. Er machte die Schachtel zu, und alles war verschwunden. Der andere Kaufmann holte ein Beil hervor und fing an zu schlagen: eins, zwei - und ein Schiff stand da! Eins, zwei - noch ein Schiff! Hundertmal schlug er —hundert Schiffe hatte er gemacht, mit Segeln, Kanonen und Matrosen, die aus den Kanonen schossen und den Kaufmann um seine Befehle befragten . . . Nachdem er sich genug daran erfreut hatte, verbarg er sein Beil wieder, und die Schiffe waren verschwunden, als wären sie nie dagewesen!

Der dritte Kaufmann zog ein Horn heraus und blies hinein. Da tauchten Krieger auf: Fußsoldaten und Reiter, mit Gewehren und Fahnen.

Dazu rauschte Musik, und die Kriegsausrüstung dieser Regimenter leuchtete in der Sonne wie Feuer. Der Kaufmann war befriedigt, nahm das Horn und blies am anderen Ende hinein -alles war verschwunden.

»Eure Wunderdinge sind gut, aber ich kann sie nicht brauchen!« sagte der Schütze. »Soldaten und Schiffe -das sind Sachen für einen König, aber ich bin ein einfacher Schütze. Wenn ihr mit mir tauschen wollt, so gebt mir für meinen einzigen unsichtbaren Diener alle drei Sachen. «

»Ist das nicht zuviel?«

»Wie ihr wollt, aber anders mag ich nicht tauschen.«

Die Kaufleute überlegten:

»Was nützen uns der Garten, die Soldaten und die Kriegsschiffe? Es wird besser sein, wenn wir tauschen. Auf jeden Fall werden wir dann ohne Mühe stets gesättigt und getränkt werden.«

Sie gaben dem Schützen ihre Wunderdinge und sagten: »Heda, Schmat-Kluger, wir nehmen dich mit uns, wirst du uns treu und ehrlich dienen?«

»Warum nicht? Mir ist es ganz gleich, bei wem ich lebe.«

Die Kaufleute kehrten zu ihren Schiffen zurück und bewirteten gleich alle Schiffsleute.

»Jetzt los, Schmat-Kluger, rühr dich!«

Alle wurden betrunken und fielen in einen tiefen Schlaf. Der Schütze aber saß nachdenklich in der goldenen Laube und sagte: »Ach, es ist



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mir leid um den treuen Diener, Schmat, den Klugen, wo ist er jetzt?«

»Hier bin ich, Herr!«

Da freute sich der Schütze und sagte: »Ist es nicht Zeit, heimzueilen?«

Kaum hatte er das gesagt, da erfaßte ihn ein wilder Wirbel und trug ihn durch die Lüfte.

Die Kaufleute erwachten und wünschten nach ihrem Rausch etwas zu trinken: »Heda, Schmat-Kluger! Gib uns etwas gegen unseren Katzenjammer!«

Aber niemand antwortete, niemand gehorchte. So sehr sie auch schreien und befehlen mochten, es war immer das gleiche.

»Nun, ihr Herrschaften, dieser Schlaukopf hat uns angeführt. Jetzt mag ihn der Teufel finden! Auch die Insel mit der goldenen Laube ist verschwunden.«

Die Kaufleute jammerten sehr, spannten die Segel und fuhren ihrem Ziele zu.

Der Schütze aber flog in sein Reich und ließ sich am Meeresufer auf einem freien Platze nieder.

»Höre, Schmat-Kluger! Kann man hier ein Schloß bauen?«

»Warum nicht? Es wird gleich fertig sein.«

Im Nu stand ein wunderbares Schloß da, zweimal schöner als das des Königs. Der Schütze öffnete die Schachtel, und um das Schloß herum entstand ein Garten mit kostbaren Bäumen und wundervollen Blumen. Da setzte sich der Schütze ans Fenster und schaute freudig in seinen Garten hinunter.

Auf einmal flog eine Taube ins Fenster, ließ sich auf den Boden nieder und verwandelte sich in seine junge Frau. Sie umarmten und begrüßten einander. Die Frau aber sagte zum Schützen: »Seitdem du aus dem Haus gegangen bist, bin ich immer als graue Taube in den Wäldern und Sümpfen herumgeflogen. Jetzt aber werden wir mitsammen gut leben!«

Am Morgen des anderen Tages trat der König auf seine Freitreppe und schaute aufs blaue Meer hinaus. Da sah er: Am Meeresufer stand ein neues Schloß und rund herum ein grüner Garten.

»Was ist das für ein frecher Kerl, dem es eingefallen ist, ohne mich zu fragen, auf meinem Grund etwas aufzubauen?«



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Die Eilboten rannten hin, erkundigten sich und meldeten, daß dieses Schloß von dem Schützen erbaut worden sei und er selbst mit seiner Frau dort wohne. Da wurde der König noch zorniger. Er befahl Soldaten zu sammeln, ans Meeresufer zu marschieren, den Garten von Grund aus zu zerstören, daß Schloß zu zertrümmern, den Schützen aber und seine Frau ihm vorzuführen.

Als der Schütze sah, daß eine starke Streitmacht gegen ihn anrückte, zog er rasch das Beil hervor: eins, zwei -ein Schiff war da. Hundertmal schlug er- und machte hundert Schiffe. Dann nahm er das Horn und blies einmal hinein -da strömten Fußsoldaten herbei, er blies noch einmal - und es erschien die Reiterei. Die Führer aller Regimenter eilten zu ihm und fragten nach seinen Befehlen. Jetzt befahl der Schütze, die Schlacht zu beginnen:

Musik rauschte, die Trommeln wirbelten, die Regimenter marschierten auf das königliche Heer los. Die Fußsoldaten durchbrachen seine Front, die Reiterei schlug von den Seiten drauf ein und machte Gefangene. Aus den Schiffen aber wurde mit Kanonen in die Hauptstadt hineingeschossen. Als der König sah, daß sein Heer floh, stürzte er sich selber nach vorn, um es aufzuhalten -aber vergeblich! Ehe er sich dessen versah, war er mit einem Schwertstreich vom Pferd geschlagen und in der Menge zertrampelt. Als der Kampf vorüber war, versammelte sich das Volk und bat den Schützen, er möge das Reich in seine Hände nehmen. Er willigte ein und sein ganzes Leben lang herrschte er in Frieden.


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