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Kapitel 

Russische Märchen


Illustrationen


von Wilhelm M Busch

Märchen europäischer Völker


ZUR EINFÜHRUNG

Das russische Land ist für unsere Vorstellungen riesenhaft groß. Es umfaßt mitsamt allen ihm neuerdings zugehörenden westlichen Grenz- und Nachbarländern gut die östliche Hälfte von Europa und dehnt sich nach Osten und Norden und südostwärts weithin nach Asien und bis zu den Weltmeeren aus. Urwälder, Steppen und Wüsten folgen riesigen Stadtrevieren und hochindustrialisierten Gebieten. Heute wie je erscheint es von Geheimnissen und undurchdringbarem Nebel umhüllt. Dieses Bild, wie es seit Kindertagen in uns lebt, hat sich innerhalb der nun allmählich zu Ende gehenden siebzig Jahre unseres Jahrhunderts nicht sehr verändert. Grauenhafte Kriege und soziale Umstürze haben die greifbare Wirklichkeit verwandelt. Amerika, von dem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unsere Urgroßväter noch sagen konnten, wenn sie es mit ihrer Welt, dem alten Europa, verglichen: »Amerika, du hast es besser!«, das von unseren Großvätern und Vätern noch bestaunt wurde als ein Land »der unbegrenzten Möglichkeiten«, ist uns zufolge der beiden großen Kriege und der gigantischen Beschleunigung des Verkehrs derart nahe gerückt, daß wir im allgemeinen vermeinen, uns dort derart genau auszukennen, als lebten wir da auf heimatlich vertrautem Boden. Flugzeuge bringen uns innerhalb der gleichen und immer geringer werdenden Stundenzahlen heute geradeso rasch nach Moskau oder nach Sibirien wie nach New York oder nach Kanada. Aber während die westliche Welt aufs engste zusammengerückt ist, erscheint uns die innerliche Entfernung gegenüber den östlichen, den russischen Dimensionen ständig fast noch zunehmen, sich steigern zu wollen.

Der russische Mensch spricht wie seine Vorfahren vom geliebten, ihm vertrauten »Mütterchen Rußland«; wir Mitteleuropäer empfinden es nach wie vor anders und weit entfernt -fremd. Vertraut sind



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Fabeln und Märchen, ihr Alter und ihre Dauer läßt sich nahe an die Zeit eines Jahrtausends zählen. Die auf uns gekommenen Berichte von dem mächtigen und vermögenden Mann, der sich allabendlich vorm Einschlafen von seinen dienstbaren Geistern und Sklaven die Fußsohlen kitzeln und abenteuerliche Geschichten und wundersame Märchen erzählen ließ, reichen bis ins 12. Jahrhundert zurück und scheinen den orientalischen Ursprüngen von »Tausendundeiner Nacht«innig verwandt. Die Felsen- und Gebirgswelt des Kaukasus, das Einanderdurchdringen skythischer Zeitenferne und griechischer Sagenwelt mag den einen Ursprungsquell aufzeigen; andere sind vermutlich das antike Byzanz und die Anfänge dessen, was wir gegenwärtig weithin als die orthodoxe Religion bezeichnen. Das eigentliche großrussische Märchengut speist sich daneben aus südund ostslawischen, ukrainischen und weißrussischen Quellen. Vom Norden her gesellen sich sibirische Überlieferungen dazu. Von Bauern, Dorfbewohnern, Handwerkern und Bettlern, aber auch von Fischern, Seeleuten und Händlern sind Märchen von alters her durch alle Lande verbreitet worden. In Rußland haben mittelalterliche Spielleute zu ihrer Ausbreitung beigetragen und sich darauf verstanden, durch Dramatisierung und eine volkstümlich rhythmische Singsangmusik ihre Beliebtheit zu steigern. Die ungeheuerlichen und schier endlosen Waldgebiete ließen Menschen- und Tierwelt dicht zueinander kommen. Nur auf eine so natürlich gewachsene Verwandtschaft sind wohl die meisten Tiermärchen zurückzuführen, und das russische Volk besitzt deren weit mehr als andere europäische Völker.

In frühen Zeiten war es allgemein Brauch, daß Landleute Märchen von Mund zu Mund erzählten und diese von Großeltern auf Enkel überlieferten. Schriftliche Aufzeichnungen sind wohl erst im 18. Jahrhundert aufgekommen. Um etwa 1750 sind dann auch Flugblätter gedruckt und die ersten Illustrationen mit der Hand roh in Holz geschnitten worden.

Puschkin war der erste russische Dichter, der sich aus dem Geiste der Romantik heraus der volkstümlichen Märchen angenommen hat und ihnen Eingang in höfische Kreise vermittelte. Auf eine Aufnahme von ihm stammender Märchen haben wir in unserer Sammlung aus den gleichen Gründen verzichtet, die uns bewegten, in



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Band III Märchen von Andersen und Lagerlöf unbeachtet zu lassen. Erst reichlich vierzig Jahre nach der Großtat der Brüder Grimm in deutschen Landen hat es Alexander Nikolajewitsch Afanassjew, den man mit gutem Recht den Wilhelm Grimm der Russen nennt, zustande gebracht, mehrere Bände von ihm eifrig gesammelter russischer Volksmärchen mit Unterstützung einer gelehrten Gesellschaft zum Druck zu bringen. (Die ersten drei Bändchen, denen nachher noch weitere fünf folgen konnten, erschienen in den Jahren 1855-1857.) Sie entstammten sehr unterschiedlichen Landschaften, bevorzugten teils heroisch legendäre, teils orientalisch phantastische Stoffe und bezogen häufig derbe, grobianische Schwänke ein. Die schönsten von ihnen lieben Gespräche und naive Unterhaltung, zeichnen sich durch eine urwüchsig bilderreiche Sprache aus und nehmen auch klangvoll schöne Wiederholungen und drastisch volkhafte Sprichwörterweisheit auf. Es gibt daneben auch solche, deren Handlung sich überaus langsam, ja hölzern abwickelt und mitunter sich trockener, papierener Wendungen bedient. Es darf bei deren Lesen niemals vergessen werden, daß der ursprüngliche Erzähler sein mündlich vorgetragenes Wort zusätzlich durch eine lebhafte Dramatisierung, durch bewegtes Mienenspiel und Gesten zu ergänzen verstanden hat und damit die erregte Spannung seiner Zuhörer zu steigern wußte.

Das russische Märchen bezieht zahlreiche Varianten aus der Märchenwelt anderer Völker ein; man braucht nur ans Stiefmuttermotiv, an Hänsel und Grete!, den Däumling, den Gestiefelten Kater, Menschenkinder von tierischer Abkunft und anderes zu denken. Die grausige und oft auch groteske Baba-Jaga gehört zu den absonderlichsten Eigenheiten des russischen Märchens. Bäurische Lügenmärchen hat der russische Mensch von je besonders gern, doch liebt er über alles und in vielfältigen Variationen Märchen vom Volk, das von der Natur, von Geistern, von Tyrannen oder Göttern gestraft und durch tausenderlei Heimsuchungen und Nöte gepeinigt wird, dem nach langen Drangsalen endlich ein jugendlicher, tapferer Held erwächst, der es siegend der ersehnten Freiheit zuführt. Daß diesen uralt-überlieferten, heroischen und mythischen Stoff auch die völker-und weltbefreiende Heilslehre des Bolschewismus sich zunutze zu machen versucht, ist leicht verständlich.



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Neuerdings hat Alexei N. Tolstoi russische Volksmärchen erneuert und nacherzählt. Wir haben mit Vergnügen Auszüge auch aus seinen Sammlungen in unsere Ausgabe übernommen und beschließen unsere Einführung mit dem hübschen »Vormärchen«, das er seinem Band voranstellte:


Ein Vormärchen

Weit draußen im Meer, im Ozean, auf der Insel Bujan steht seit uralten Zeiten der Goldwipfelbaum. Auf diesem mächtigen Baume lebt und raunzt der uralte Kater Bajun, der immer ein Liedchen schnurrt, wenn er an Stamm und Ästen hinaufklettert, und jeweils ein Märchen erzählt, wenn er abwärts stapft. Dies, was hier erzählt wird, ist noch kein richtiges Märchen - nur erst ein Vormärchen. Das Märchen selber kommt noch. Es wird erzählt werden vom frühen Morgenrot bis in den späten Nachmittag und die Zeit der absinkenden Sonne hinein. Zuvor aber wollen wir uns erst noch am kräftigen, frischgebackenen Brote laben.

K.R.


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