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Märchen aus Finnland und dem Baltikum


Illustrationen von Ingeborg Ullrich

Märchen europäischer Völker


Die Hexe auf der Espe

Zwei Brüder gingen einst auf die Jagd. Im Walde trafen sie einen Hund. Fragte der ältere Bruder den jüngeren: »Soll ich schießen?« — »Ach, schieß mich nicht!« antwortete der Hund; »ich will jedem von euch drei Junge geben: das erste Paar heißt Packan, das zweite Zerbrich, das dritte Splittereisen. Wenn die ersten zupacken, so wird es stäuben, wenn die zweiten brechen, so wird es krachen, wenn die dritten reißen, so wird es splittern.« Gut. Nach einer kleinen Weile trafen sie einen Wolf. Fragte der ältere Bruder den jüngeren: »Soll ich schießen?« — »Schieß mich nicht!« antwortete der Wolf; »ich will jedem von euch einen Welpen geben, das werden gute Spürer sein.«

Gut. Nach einer Weile trafen sie einen Bären. Fragte der ältere Bruder den jüngeren: »Soll ich schießen?« — »Schieß mich nicht!« antwortete der Bär; »ich will jedem von euch ein Junges geben, das werden gute Trotter sein.«

Gut. Nach einer Weile trafen sie einen Luchs. Fragte der ältere Bruder den jüngeren: »Soll ich schießen?« — »Schieß mich nicht!« antwortete der Luchs; »ich will jedem von euch ein Junges geben, das werden gute Springer sein.«

Gut. Nach einer Weile trafen sie einen Fuchs. Fragte der ältere Bruder den jüngeren: »Soll ich schießen?« — »Schieß mich nicht!« antwortete der Fuchs; »ich werde jedem von euch ein Junges geben, das werden treffliche Heilkünstler sein.«

Nach einer Weile trafen sie einen Elch. Fragte der ältere Bruder den jüngeren: »Soll ich schießen?« — »Schieß nicht!« antwortete der Elch;



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»ich werde jedem von euch ein Junges geben, das werden gute Träger sein.

Nach einer Weile trafen sie ein Reh. Fragte der ältere Bruder den jüngeren: »Soll ich schießen?« — »Schieß mich nicht!« antwortete das Reh; »ich werde jedem von euch ein Junges geben, das werden gute Läufer sein.«

Nach einer Weile trafen sie einen Hasen. Fragte der ältere Bruder den jüngeren: »Soll ich schießen?« — »Schießt mich nicht!« antwortete der Hase; »ich werde jedem von euch ein Junges geben, das werden gute Ausreißer sein.«

Nun nahm jeder der Brüder seine Tiere, seine Helfer, und dann gedachten sie sich zu trennen. Aber bevor sie sich trennten, verabredeten sie, jeder sein Messer in eine große Eiche zu bohren: wenn einer von ihnen heimkehrte und fände das Messer des Bruders verrostet, werde das ein Zeichen sein, daß es dem Bruder schlechtgehe; wäre es dagegen blank, so stehe es natürlich sehr gut. Der ältere Bruder wandte sich seitwärts, der jüngere ging geradeaus. Am nächsten Tage kam der ältere Bruder in ein Schloß. Das war wie ausgestorben, keine lebende Seele war darin als ein einziges Mädchen. »Mägdlein, Schwesterchen, wo sind denn die übrigen Leute?« —»Die übrigen Leute sind einem weißen Elch nachgelaufen und zu Stein geworden; auch Väterchen ist fortgegangen.«

»Ja, ja, Mädchen, die sind ohne Helfer fortgelaufen, aber ich habe Helfer in Hülle und Fülle, da will ich den Elch schon fangen.« Er geht hinaus, ja, der weiße Elch streicht am Schlosse vorbei, er eilt also mit seinen Helfern hinterher. Plötzlich ist der weiße Elch verschwunden. Da schaut der ältere Bruder aufwärts und sieht auf einer alten Espe eine garstige Hexe. »Komm herunter, alte Hexe, sonst schicke ich dir meinen Bären nach, daß er dich fein säuberlich herunterträgt.«

»Ich komme, ich komme, erlaub mir nur, mit diesem Stäbchen deine Tiere zu berühren, daß sie mich nicht beißen.«

Er erlaubt es; aber kaum hat die Hexe sie mit dem Stäbchen berührt, als alle Tiere, alle Helfer mitsamt dem älteren Bruder zu Stein werden. Nach geraumer Zeit kommt der jüngere Bruder zur Eiche zurück und sieht, daß seines Bruders Messer ganz verrostet ist. Sogleich kehrt er



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um, seinen Bruder zu suchen, und kommt in dasselbe Schloß, wo nur das einzige Mädchen ist.

»Mägdlein, Schwesterlein, wo sind denn die übrigen Leute?«

»Die übrigen Leute sind einem weißen Elch nachgelaufen und zu Stein geworden. Einmal ist auch ein Jüngling mit allerhand Tieren als Helfern gekommen, der gedachte den Elch zu fangen; aber umsonst, auch sie sind zu Stein geworden.« — »Das ist mein Bruder, das ist mein Bruder, wie kann ich ihn befreien?« — »Den Bruder wirst du nicht befreien, bring dich lieber selbst in Sicherheit, und wenn es dir möglich ist, so nimm mich mit. Du weißt ja nicht, mein Lieber, was dort auf der Espe für eine Hexe haust: mit einem Wort und mit einem kleinen Stäbchen verwandelt sie dich, mich und deine Tiere für alle Zeiten in Steine.

Und sie wird sich auch zu rächen suchen, wenn sie erfährt, daß ich dich hier festhalte. Fliehen wir lieber beizeiten, mein Junge!« Der jüngere Bruder stieg nun auf den Rücken des Wolfes, nahm das Mädchen auf den Schoß und floh. Da erdröhnte die Erde, und die Hexe jagte hinterher. Der jüngere Bruder sah, daß er mit dem Wolfe nicht entkommen werde, verließ deshalb den Wolf und stieg mit dem Mädchen auf den Rücken des Bären. Aber die Hexe kam trotzdem näher und immer näher. Da sprang der jüngere Bruder mit dem Mädchen auf den Rücken des Elches. Aber die Hexe kam trotzdem näher und immer näher. Das Häschen lief wohl, so schnell es konnte; das Rehchen rannte immer geradeaus, so schnell es vermochte; das Wölfchen, das Bärchen und das Füchschen setzten über Stock und Stein; das Lüchschen-Krummbein humpelte immer drauflos; nur Packan, Zerbrich und Splittereisen fletschten ihre Zähne, aber was wollten sie allein machen? Auch der Elch, der Träger, merkt zuletzt, daß die Hexe flinker ist als sie alle. Er sagt daher dem jüngeren Bruder: »Reibe mein rechtes Geweih, dann wird aus ihm eine Hechel entstehen. Die wirf über die linke Schulter, doch schau nicht zurück!« Der jüngere Bruder wirft die Hechel über die linke Schulter, und sieh da, hinter seinem Rücken entsteht ein dichter, dichter, schwarzer Wald. Aber die Hexe beißt sich auch durch ihn hindurch. Da sagt der Elch zum jüngeren Bruder: »Reibe mein rechtes Geweih, dann wird aus ihm ein Schleifstein entstehen, den wirf über die linke Schulter; nur schau nicht zurück.« Der jüngere Bruder wirft



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den Schleifstein über die linke Schulter, und sieh da, hinter seinem Rücken entsteht ein gewaltiges, hohes Felsengebirge. Aber die Hexe dringt auch über das Gebirge hinüber. Da sagt der Elch zum Jüngling: »Reibe mein rechtes Geweih, dann wird aus ihm ein Tüchlein entstehen, das wirf über die linke Schulter, nur schau nicht zurück.« Der jüngere Bruder wirft das Tüchlein über die linke Schulter, und siehe da, hinter seinem Rücken entsteht ein Feuerstrom. Ober den Strom kann die Hexe nicht hinüber. Nun steigt der jüngere Bruder vom Elch und verschnauft sich.

Indes lange kann er sich auch nicht verschnaufen, er muß sich doch eine Hütte herrichten zum Übernachten. Jetzt sind alle am Werk: Nein, wie flink das ging! Der eine trug herzu, der andere warf, der dritte hob, der vierte streckte, der fünfte schichtete, der sechste deckte. Als sich alle zur Ruhe gelegt hatten, führte der Elch den jüngeren Bruder hinaus und sprach: »Jetzt schlachte mich und vergrabe meinen Kopf unter der Schwelle, meinen Rumpf unter der Diele. Hier hast du ein Strumpfband, das hüte wohl. Und wenn du dich einmal aus dieser Hütte entfernst, so schwenke das Strumpfband dreimal von rechts nach links und binde damit meinen Kopf an den Rumpf, so werde ich wieder lebendig werden!«

»Aber sag, lieber Elch, wie soll ich es übers Herz bringen, dich, meinen Retter, zu schlachten?«

»Verlier keine Zeit, ich rate dir doch zum Guten, es soll dein eigener Vorteil sein.« Da tat der jüngere Bruder, wie ihm geheißen war, und legte das Strumpfband ans Fenster. Am Morgen aber kam es ihm in den Sinn, mit seinen Tieren, seinen Helfern, ein wenig zu jagen, um nicht zu frieren. Das Mädchen blieb zu Hause und bemerkte das Strumpfband. Da dachte sie: »Ein so schönes Band darf man nicht herumliegen lassen, ich will es um meinen Strumpf binden.«

Doch indem sie ihren Strumpf zuband, schwenkte sie das Strumpfband von links nach rechts. In demselben Augenblick entstand über dem Feuerstrom eine eiserne Brücke, und die Hexe war über den Strom hinüber. Jetzt stürzten sich die Tiere, die Helfer, auf die Hexe. Sie kann auch wirklich nichts ausrichten, denn ihre Stäbchen hat sie in der Eile an der Espe vergessen, aber so eine findet doch immer einen Ausweg:



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eins, zwei, drei ist eine große Grube fertig, und wie nun die Tiere, die Helfer, herankommen, stürzt eins nach dem andern hinein. Und als alle drinnen auf einem Haufen liegen, legt sie, klauks!, eine dicke, dreimal neunfache eiserne Tür darüber, und was jetzt? Jetzt ist der jüngere Bruder mit dem Mädchen in der Klemme. Die Hexe grinst vor Vergnügen und sagt: sie sollen sofort die Badstube heizen und sich sauber waschen, dann sollen sie sich ihr zum Frühstück bereit halten. Jene heizen also die Badstube, und die Hexe legt sich inzwischen in den Sonnenschein.

Das Ofengewölbe ist aber noch kaum lauwarm, da erscheint der Elchkopf und sagt: »Ihr Toren, was eilt ihr denn so mit dem Einheizen? Packan, Zerbrich und Splittereisen haben eben erst drei Eisentüren durchbrochen, jetzt fackelt recht lange, bis alle Türen erbrochen sind.« Kaum hat sich der Elchkopf entfernt, da war auch die Hexe zur Stelle. »Ich liege und liege und kann euch nicht erwarten. Wie steht's, ist das Bad bald gerüstet?«

»Für einen Badenden wäre es so halb und halb gewärmt, für zwei muß man noch Holz nachlegen.«

»Nun, wenn es sich so lange hinzieht, dann will ich gar nicht zwei zum Frühstück.« So sprechend, ergriff die Hexe das Mädchen und riß ihr den Vorderzahn aus, der war aus reinem Golde und ein Geschenk der Glücksmutter selbst. Hatte sie aber den nicht im Munde, so mußte sie sterben. Und so war es auch: als der Zahn aus dem Munde des Mädchens heraus war, war sie tot. Die Hexe legte sie in einen eisernen Sarg und begrub sie am Kreuzwege. Während sich die Hexe damit abmühte, war der Elchkopf wieder zur Stelle: »Packan, Zerbrich und Splittereisen haben wieder drei Türen erbrochen.«

Die Hexe kam vom Begräbnis des Mädchens herbeigelaufen und war noch mehr ausgehungert. Sie brüllte:

»Heiz schnell; bist du nicht bald fertig, so fresse ich dich ungewaschen.«

—»Ich bin gleich fertig, das Wasser muß nur noch etwas wärmer werden. «

Die Hexe legte sich in den Sonnenschein, da erschien der Elchkopf abermals: »Packan, Zerbrich und Splittereisen zerbrechen eben die letzten Türen. Wart jetzt nur auf deine Helfer.« Es währte auch nicht



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lange, da waren alle Tiere, alle Helfer zur Stelle. Jedes verbarg sich an seinem Ort: das Häschen unter der Bank, das Reh unter der Pritsche, der Fuchs hinter der Tür, der Wolf im Zuber, der Bär im Ofenwinkel, der Luchs in der Darrenluke, Packan, Zerbrich, Splittereisen und der jüngere Bruder im Ofenloch. Kommt nach einer Weile die Hexe und brüllt: »Ist es jetzt einmal soweit?« —»Jawohl, komm nur herein!«

Tschihks! öffnet sich die Tür, und die Hexe schleicht herein. Nun gab es was zu sehen. Packan packte zu, Zerbrich riß, Splittereisen fetzte, der Bär sengte, der Wolf zerriß, der Fuchs biß, der Luchs kratzte, das Reh feuerte aus, der Hase lief, und der jüngere Bruder schlug mit dem Gießeimer drauflos; aber der Hexe ganz den Garaus machen konnten sie doch nicht, denn die Tür der Badestube war offengeblieben, und sie entwischte. Jetzt waren alle froh. Als aber der jüngere Bruder vom Mädchen zu erzählen begann, wurden die fröhlichen Gesichter wieder betrübt, und alle unternahmen es einmütig, das Mädchen aufzusuchen. Das Häschen sprang voran, der Wolf und der Hund schnupperten nach ihrer Spur, und sieh da, sie schnupperten so lange, bis sie sie gefunden hatten. Der Luchs und das Reh scharrten sogleich den eisernen Sarg heraus, der Bär hob ihn hervor, Packan, Zerbrich und Splittereisen erbrachen den eisernen Deckel, und der Fuchs, der Heilkünstier, fand unter ihrem Kopfe den goldenen Zahn. Der jüngere Bruder fügte nun den Zahn in die Lücke, und das Mädchen wurde zusehends lebendig und gesund. Danach riefen alle durch das Strumpfband auch noch den Elch ins Leben zurück, und dann ritten sie ebenso, wie sie hergeritten waren, ins Schloß zurück. Unterwegs sagte der schlaue Fuchs: »Alles können wir aufspüren, nur das eine haben wir damals nicht erschnüffeln können, daß die Hexe ihr Stäbchen auf der Espe vergessen hatte. War es nötig, daß wir so weit flohen?« — »Einerlei«, antwortete der Elch, »jetzt wollen wir der Hexe befehlen, ohne ihr Stäbchen von der Espe herabzusteigen, und gehorcht sie uns nicht, so stürzen wir die Espe um.«

Gut. Sie kommen zur Espe. Die Hexe hockt wie ein Heuschober und ächzt: »Mich friert, mich friert. Laß mich hinuntersteigen, mich zu wärmen; aber erlaube mir, deine Tiere mit dem Stäbchen zu berühren, damit sie mich nicht beißen.«



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Der jüngere Bruder aber achtet gar nicht auf ihr Jammern, sondern sagte: »Komm nicht mit dem Stäbchen herunter, sondern sag uns zuerst, was das für Steine sind.« — »Das sind Menschen und Tiere.«

»Nun gut, wenn es Menschen und Tiere sind, wie ruft man sie ins Leben zurück?«Sie wollte es auf keinen Fall sagen, da stürzten sie die Espe um.

»Stoßt sie nicht um, stoßt sie nicht um, ich will es sagen: nimm etwas vom vermoderten Holz der Espe und streu es auf die Steine, so werden sie lebendig werden.«

So geschah es, da erschienen Menschen, da erschien auch der ältere Bruder, ferner die Tiere, seine Helfer, Vater und Mutter des Mädchens und alle ihre Untertanen; da gab es ein Gewimmel, ärger als auf dem Jahrmarkt. Dann umringten sie alle die Espe und stürzten sie mitsamt der Hexe zu Boden. Im Fallen fand sie weder Zeit, jemand mit ihrem Stäbchen zu berühren, noch die Hand zu heben: alle Tiere überfielen sie und rissen sie in Stücke. Der jüngere Bruder heiratete das Mädchen und lebte mit dem älteren Bruder in Liebe und Eintracht im ererbten Schlosse. Der Vater des Mädchens aber übergab dem Schwiegersohn die Herrschaft.


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