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Kapitel 

IWAN — JOHANNES


Dreißig der schönsten russischen Märchen

aus der Sammlung von

A. N. Afanasjev

Übertragen und durch eine Sinndeutung ergänzt von Friedel Lenz


DAS WASSER DES LEBENS UND DIE SÜSSEN ÄPFEL DER JUGEND

Es lebte einmal ein König, der hatte drei Söhne, Theodor, Georg und Johannes. Johannes aber war nicht sehr klug.

Einst sandte der König den ältesten Sohn aus, das Wasser des Lebens zu holen und die süßen Äpfel der Jugend. Der Sohn ritt fort und kam an einen Kreuzweg. Dort stand ein Pfosten, und darauf war geschrieben:

Rechts gehen -Essen und Trinken
Links gehen -Kopf verlieren

Der Königssohn ritt nach der rechten Seite. Bald kam er an ein Haus und trat hinein. Darinnen war eine Jungfrau, die sprach zu ihm: «Königssohn Theodor, lege dich mit mir schlafen!»

Er tat es und legte sich hin. Aber da stieß sie nach ihm und stieß ihn fort, Gott weiß wohin. Lange wartete der König auf seinen ältesten Sohn.

Schließlich sandte er den zweiten aus. Der machte sich auf den Weg, kam an denselben Platz und trat in das Haus. Doch auch ihn stieß die Jungfrau fort, Gott weiß wohin.

Jetzt sandte der König den dritten Sohn in die Welt und sprach: «Reite auch du!»

Der Jüngste ritt aus, kam an den gleichen Kreuzweg und sprach: «Für den Vater wage ich meinen Kopf!» und ritt nach links. Über kurz oder lang kam er zu einem Hüttchen und trat hinein. Drinnen wohnte die Baba Jaga, die saß am Spinnrocken, spann einen seidenen Faden mit einer goldenen Spindel und sprach: «Du russischer Knochen, Königssohn Johannes, wo willst du hin?»

«Gib mir zu trinken, gib mir zu essen», antwortete er, «dann magst du mich fragen, fragen nach allem!»



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Sie gab ihm zu trinken, sie gab ihm zu essen, sie fragte nach allem, und er erzählte: «Ich bin ausgezogen, das Wasser des Lebens zu suchen und die süßen Äpfel der Jugend, dahin, wo der weiße Schwan lebt: Lebedj Saharjewna, die Schwanentochter des Zacharias.» «Das wirst du kaum erreichen -vielleicht, wenn ich dir helfe», sagte die Baba Jaga und gab ihm ihr Roß.

Er schwang sich auf das Roß, ritt und ritt und kam zur Schwester der Baba Jaga. Er trat in die Hütte, und die Alte rief: «Fuh, fuh, der russische Knochen! Kein Ohr hat von ihm gehört, kein Auge ihn gesehen, und jetzt erscheint er plötzlich selbst auf dem Hof! Königssohn Johannes, wohin reitest du?»

«Gib mir zu trinken, gib mir zu essen, danach magst du mich fragen!» Sie gab ihm zu trinken, sie gab ihm zu essen, und er erzählte: «Ich bin ausgezogen, das Wasser des Lebens zu suchen und die süßen Äpfel der Jugend, dahin, wo der weiße Schwan lebt, die Schwanentochter des Zacharias.»

«Das wirst du schwerlich erreichen», antwortete die Baba Jaga und gab ihm ihr Roß.

Der Königssohn ritt und ritt und kam zur dritten Baba Jaga. Er trat in die Hütte, und die Alte rief: «Fuh, fuh, der russische Knochen, kein Ohr hat von ihm gehört, kein Auge ihn gesehen, und jetzt erscheint er selbst auf dem Hof! Königssohn Johannes, wohin reitest du?»

«Gib mir zu trinken, gib mir zu essen, danach magst du mich fragen!» Sie gab ihm zu trinken, sie gab ihm zu essen, sie fragte nach allem, und er erzählte: «Ich bin ausgezogen, das Wasser des Lebens zu suchen und die süßen Äpfel der Jugend, dahin, wo der weiße Schwan lebt, die Schwanentochter des Zacharias.»

«Schwer wird es sein, o Königssohn, und schwerlich wirst du es erreichen!»

Sie gab ihm ihr Pferd und die Keule mit der Kraft der Siebenhundert und riet ihm: «Wenn du zur Stadt des weißen Schwanes kommst, dann schlage das Roß mit dieser Keule, damit es hinüberspringt über den Burgwall!»

Er tat so, sprang über den Wall, stellte sein Roß an einen Pfosten und betrat die Gemächer des weißen Schwans, der Schwanentochter des Zacharias. Die Diener wollten ihn zurückhalten, aber er schlug sich durch und sprach: «Ich bringe dem weißen Schwan ein Schreiben!» Und er drang vor bis in ihre Gemächer. Sie lag in tiefem Schlaf auf dem Bett von Schwanenflaum, lag mit gelösten Gliedern, und das Wasser des Lebens stand zu ihren Häupten. Er nahm das Wasser, küßte die Jungfrau und scherzte ein wenig. Dann nahm er sich die Äpfel der Jugend und ritt wieder heimwärts. Als aber sein Roß über die Palisaden setzte, stieß es mit den Hufen daran, und alle Glocken und Glöckchen und Schellen fingen auf einmal zu läuten an, daß



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die ganze Stadt erwachte. Der weiße Schwan, Lebedj Saharjewna, geriet außer sich, rief nach den Mägden, schlug die eine und die andere und schrie: «Jemand ist im Hause gewesen, hat vom Wasser getrunken, hat den Brunnen nicht verschlossen!»

Unterdessen ritt der Königssohn, so schnell er konnte, zur Baba Jaga und wechselte sein Pferd. Der weiße Schwan aber jagte hinter ihm her und kam zu derselben Baba Jaga: «Baba Jaga, wohin bist du geritten, dein Pferd ist naß von Schweiß?»

«Ich bin aufs Feld geritten, das Vieh hinauszutreiben.»

Königssohn Johannes erreichte die andere Baba Jaga und wechselte wieder sein Roß. Aber der weiße Schwan jagte hinter ihm her: «Baba Jaga, wohin bist du geritten, dein Pferd ist naß von Schweiß?»

«Ich bin aufs Feld geritten, das Vieh hinauszutreiben, darum ist mein Pferd naß von Schweiß.»

Königssohn Johannes kam zur letzten Baba Jaga und wechselte wieder sein Roß. Aber der weiße Schwan folgte ihm auch hierher und fragte: «Baba Jaga, warum ist dein Pferd naß von Schweiß?»

«Ich war auf dem Feld, trieb das Vieh hinaus, darum ist mein Pferd so naß von Schweiß.»

Da kehrte der weiße Schwan nach Hause zurück.

Aber der Königssohn ritt weiter zu seinen Brüdern und kam an die Hütte, wo die Jungfrau lebte. Sie sprang auf die Schwelle, hieß ihn willkommen und rief ihn zum Schlafen, aber der Königssohn sprach: «Gib mir zu trinken, gib mir zu essen, danach lege ich mich schlafen!»

Sie gab ihm zu trinken, sie gab ihm zu essen und sprach: «Lege dich zu mir!»

«Lege du dich zuerst», antwortete der Königssohn. Sie legte sich hin, und er stieß sie hinab - sie fiel, weiß Gott wohin. Der Königssohn dachte bei sich: «Ich will diese Falle öffnen, ob nicht meine Brüder dort unten gefangen sind.» Er öffnete die Falltür, und wirklich, da unten saßen die Brüder.

«Brüder, was tut, ihr da, schämt ihr euch nicht? Kommt heraus!» Und sie taten sich zusammen und machten sich auf den Weg nach Hause zum Vater.

Unterwegs aber beschlossen die älteren Brüder, den Jüngsten zu töten. Johannes erriet ihre Gedanken und sprach zu ihnen: «Erschlagt mich nicht, ich werde euch alles geben!»

Aber die Brüder gingen nicht darauf ein und erschlugen ihn doch. Sie warfen seine Knöchelchen über das freie Feld und ritten davon. Das Roß des Königssohns aber las alle Knöchelchen wieder zusammen und besprengte sie mit dem Wasser des Lebens. Da wuchsen sie aneinander, die Gelenke verbanden sich, und der Königssohn erwachte wieder zum Leben. «Lange



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habe ich geschlafen, schnell bin ich erstanden!» In einem alten Pelzrock kam er heim zum Vater.

«Wo warst du solange?» fragte der Vater, «geh und reinige die Gruben!»

Unterdessen fuhr der weiße Schwan, die Schwanentochter des Zacharias, auf die königlichen Hegewiesen und sandte von dort ein Schreiben an den König, er solle den Schuldigen herausgeben. Der König schickte den ältesten Sohn hinaus.

«Da kommt unser Väterchen», riefen die Kinder des weißen Schwans, als sie ihn sahen. «Womit sollen wir ihn bewirten?»

«Nein, es ist nicht euer Väterchen», sagte die Mutter, «es ist Väterchens Bruder. Bewirtet ihn mit dem, was ihr in den Händen haltet!» Jeder von ihnen hatte einen Knüttel in der Hand, und sie schlugen so zu, daß er kaum noch nach Hause kam.

Dann schickte der Vater seinen zweiten Sohn.

«Da kommt unser Väterchen», riefen die Kinder und freuten sich.

«Nein», sagte die Mutter», das ist Väterchens Bruder.»

«Womit sollen wir ihn bewirten?»

«Mit dem, was ihr in den Händen haltet, damit bewirtet ihn auch!» Und sie schlugen ihn ebenso, wie den ältesten Bruder.

Wieder schickte der weiße Schwan zum König und forderte ihn auf, den Schuldigen herauszugeben. Da sandte der König endlich seinen jüngsten Sohn. Langsam schlich er daher, in seinem schlechten Pelz, mit zerrissenen Bastschuhen an den Füßen.

«Seht, da kommt ein Bettler!» riefen die Kinder.

«Nein, das ist euer Väterchen», sagte die Mutter.

«Womit sollen wir ihn bewirten?»

«Mit dem, was Gott schickt!»

Als der Königssohn Johannes herantrat, kleidete ihn die Jungfrau, die Schwanentochter des Zacharias, in herrliche Gewänder, und sie gingen zusammen zum König. Königssohn Johannes erzählte alle seine Abenteuer, wie er die Brüder aus der Falle befreit hatte, sie ihn aber erschlugen.

Da wurde der Vater zornig, entkleidete die Brüder aller Ehren und Rechte und stellte sie zu niederen Diensten an. Johannes aber setzte er zu seinem Erben ein.


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