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KINDER-UND

HAUSMÄRCHEN


Gesammelt durch die Brüder Grimm



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Vollständige Ausgabe mit über 160 Holzschnitten von Ludwig Richter

GONDROM VERLAG BAYREUTH


Die kluge Bauerntochter

Es war einmal ein armer Bauer, der hatte kein Land, nur ein kleines Häuschen und eine alleinige Tochter. Da sprach die Tochter: »Wir sollten den Herrn König um ein Stückchen Land bitten.« Da der König ihre Armut hörte, schenkte er ihnen auch ein Eckchen Rasen, den hackte sie und ihr Vater um, und wollten ein wenig Korn und der Art Frucht darauf säen. Als sie den Acker beinah fertig hatten, so fanden sie in der Erde einen Mörser von purem Gold. »Hör«, sagte der Vater zu dem Mädchen, »weil unser Herr König so gnädig gewesen ist und uns diesen Acker schenkte, so müssen wir ihm den Mörser dafür geben.« Die Tochter aber wollte es nicht tun und sagte: »Vater, wenn wir den Mörser haben, den Stößel aber nicht, dann müssen wir auch den Stößel herbeischaffen, darum schweigt lieber still!« Er wollte ihr aber nicht gehorchen, nahm den Mörser, trug ihn zum Herrn König und sagte, den hätte er gefunden in der Heide, ob er ihn als eine Verehrung annehmen wollte. Der König nahm den Mörser und fragte, ob er nichts mehr gefunden hätte? »Nein«, antwortete der Bauer. Da sagte der König, er solle nun auch den Stößel herbeischaffen. Der Bauer sprach, den hätten sie nicht gefunden; aber das half ihm so viel, als hätt er's in den Wind



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gesagt, er ward ins Gefängnis gesetzt und sollte so lange darin sitzen, bis er den Stößel herbeigeschafft hätte. Die Bedienten mußten ihm täglich Wasser und Brot bringen, was man so in dem Gefängnis kriegt, da hörten sie, wie der Mann schrie: »Ach, hätt ich auf meine Tochter gehört! Ach, hatt ich auf meine Tochter gehört!« Da gingen die Bedienten zum König und sprachen das, wie der Gefangene immerfort schrie: »Ach, hätt ich doch auf meine Tochter gehört!« und wollte nicht essen und nicht trinken. Da befahl er den Dienern, sie sollten den Gefangenen vor ihn bringen, und da fragte ihn der König, warum er immer schrie: »Ach, hätt ich doch auf meine Tochter gehört!« — »Was hat Eure Tochter denn gesagt?« —»Ja, sie hat gesprochen, ich sollte den Mörser nicht bringen, sonst müßt ich auch den Stößel schaffen.« — »Habt Ihr so eine kluge Tochter, so laßt sie einmal herkommen!« Also mußte sie vor den König kommen, der fragte sie, ob sie denn so klug wäre, und sagte, er wollte ihr ein Rätsel aufgeben, wenn sie das lösen könnte, dann wollte er sie heiraten. Da sprach sie gleich ja, sie wollt's erraten. Da sagte der König: »Komm zu mir, nicht gekleidet, nicht nackend, nicht geritten, nicht gefahren, nicht in dem Weg, nicht außer dem Weg, und wenn du das kannst, will ich dich heiraten.« Da ging sie hin und zog sich splitternackend aus, da war sie nicht bekleidet, nahm ein großes Fischgarn und setzte sich hinein und wickelte es ganz um sich herum, da war sie nicht nackend. Für Geld borgte sie einen Esel, band das Fischgarn an den Schwanz, worin er sie fortschleppen mußte, und das war nicht geritten und nicht gefahren. Der Esel mußte sie aber in der Fahrrinne schleppen, so daß sie nur mit der großen Zehe auf die Erde kam, und das war nicht in dem Weg und nicht außer dem Wege. Und wie sie so daherkam, sagte der König, sie hätte das Rätsel getroffen, und es wäre alles erfüllt. Da ließ er ihren Vater los aus dem Gefängnis und nahm sie zu sich als seine Gemahlin und befahl ihr das ganze königliche Gut an.

Nun waren etliche Jahre herum, als der König einmal auf die Parade zog. Da trug es sich zu, daß Bauern mit ihren Wagen vor dem Schloß hielten, die hatten Holz verkauft; etliche hatten Ochsen vorgespannt und etliche Pferde. Da war ein Bauer, der hatte drei Pferde, davon kriegte eins ein junges Füllchen, das lief weg und legte sich mitten zwischen zwei Ochsen, die vor dem Wagen waren. Als nun die Bauern zusammenkamen, fingen sie an sich zu zanken, zu schmeißen und zu lärmen, und der Ochsenbauer wollte das Füllchen behalten und sagte, die Ochsen hätten's gehabt; und der andere sagte, nein, seine Pferde hätten's gehabt, und es wäre sein. Der Zank kam vor den König, und der tat den Ausspruch, wo das Füllen gelegen hätte, da sollt' es bleiben; also bekam's der Ochsenbauer, dem's doch nicht gehörte. Da ging der andere weg, weinte und lamentierte über sein Füllchen. Nun hatte er gehört, daß die Königin so gnädig sei, weil sie auch



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von armen Bauersleuten gekommen wäre. Da ging er zu ihr und bat sie, ob sie ihm nicht helfen könnte, daß er sein Füllchen wiederbekäme. Sie sagte: »Ja, wenn Ihr mir versprecht, daß Ihr mich nicht verraten wollt, so will ich's Euch sagen. Morgen früh, wenn der König auf der Wachparade ist, so stellt Euch hin mitten in die Straße, wo er vorbeikommen muß, nehmt ein großes Fischgarn und tut, als fischt Ihr, und fischt also fort und schüttet das Garn aus, als wenn Ihr's vollhättet«, und sagte ihm auch, was er antworten sollte, wenn er vom König gefragt würde. Also stand der Bauer am andern Tag da und fischte auf einem trockenen Platz. Wie der König vorbeikam und das sah, schickte er seinen Läufer hin, der sollte fragen, was der närrische Mann vorhatte. Da gab er zur Antwort: »Ich fische.« Fragte der Läufer, wie er fischen könnte, es wäre ja kein Wasser da. Sagte der Bauer: »So gut als zwei Ochsen können ein Füllen kriegen, so gut kann ich auch auf dem trockenen Platz fischen.« Der Läufer ging hin und brachte



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dem König die Antwort; da ließ er den Bauer vor sich kommen und sagte ihm, das hätte er nicht von sich; von wem er das hätte? Und sollt's gleich bekennen! Der Bauer aber wollt's nicht tun und sagte immer: Gott bewahr, er hätt es von sich. Sie legten ihn aber auf ein Bund Stroh und schlugen und drangsalten ihn so lange, bis er's bekannte, daß er's von der Königin hätte. Als der König nach Haus kam, sagte er zu seiner Frau: »Warum bist du so falsch mit mir, ich will dich nicht mehr zur Gemahlin, deine Zeit ist um, geh wieder hin, woher du hergekommen bist, in dein Bauernhäuschen!« Doch erlaubte er ihr eins, sie sollte das Liebste und das Beste mitnehmen, was sie wüßte, und das sollte ihr Abschied sein. »Ja, lieber Mann, wenn du's so befiehlst, will ich es auch tun«, und fiel über ihn her und küßte ihn und sprach, sie wollte Abschied von ihm nehmen. Dann ließ sie einen starken Schlaftrunk kommen, Abschied mit ihm zu trinken. Der König tat einen großen Zug, sie aber trank nur ein wenig. Da geriet er bald in einen tiefen Schlaf, und als sie das sah, rief sie einen Bedienten, nahm ein schönes weißes Leinentuch und schlug ihn da hinein, und die Bedienten mußten ihn in einen Wagen vor die Türe tragen, und fuhr sie ihn heim in ihr Häuschen. Da legte sie ihn in ihr Bettchen, und er schlief Tag und Nacht in einem fort, und als er aufwachte, sah er sich um und sagte: »Ach Gott, wo bin ich denn?« rief seinen Bedienten, aber es war keiner da. Endlich kam seine Frau vors Bett und sagte: »Lieber Herr König, Ihr habt mir befohlen, ich sollte das Liebste und Beste aus dem Schloß mitnehmen, nun hab ich nichts Besseres und Lieberes als dich, da hab ich dich mitgenommen.« Dem König stiegen die Tränen in die Augen, und er sagte: »Liebe Frau, du sollst mein sein und ich dein!« und nahm sie wieder mit ins königliche Schloß und ließ sich aufs neue mit ihr vermählen. Und so werden sie ja wohl noch bis auf den heutigen Tag leben.


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