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RUDOLF STEINER Zeitgeschichtliche Betrachtungen Band 1

Wege zu einer objektiven Urteilsbildung

Sieben Vorträge, gehalten in Dornach zwischen 4. Dezember und 18. Dezember 1916

RUDOLF STEINER VERLAG


DRITTER VORTRAG

Dornach,10. Dezember 1916

Meine lieben Freunde! Wenn wir von unserem Gesichtspunkte aus solche Dinge betrachten wollen, wie wir sie jetzt behandeln, so dürfen wir doch eben niemals aus dem Auge verlieren die Bedeutung der geisteswissenschaftlichen Betrachtung für das Verständnis der Menschheitsentwicklung im fünften nachatlantischen Zeitraum, aber auch [für die Einsicht in]die Vorbereitung dessen, was für den sechsten nachatlantischen Zeitraum zu geschehen hat. Denn wenn man nicht aufmerksam ist auf das, was gerade versäumt wird von der Menschheit, von der heutigen materialistischen Menschheit, in bezug auf geisteswissenschaftliche Weltbeobachtung, so kann man nicht zu den Ursachen dessen vorrücken, was den heutigen Zeitereignissen zugrunde liegt.

Und um einen gewissen Ausgangspunkt gewinnen zu können für weitere Betrachtungen, möchte ich erwähnen, wie sich das Hinaufschauen zu den Welten, auf die sich unsere Geisteswissenschaft bezieht, bei einzelnen Menschen sozusagen zwangsweise einstellt. Es ist wichtig zu durchschauen, daß dieses erzwungene Heranbändigen dieser Menschen zu einer gewissen Weltbetrachtung heute noch sporadisch ist, bloß da und dort auftritt, aber gerade in diesem sporadischen Auftreten ist außerordentlich Charakteristisches zu sehen. Ich habe vor kurzem die Tatsache erwähnt, daß von einem gewissen Hermann Bahr ein Drama erschienen ist, «Die Stimme», in dem, allerdings in einer katholisierenden Weise, versucht wird, die Welt, die uns als physisch-sinnliche umgibt, an geistige Ereignisse und geistige Vorgänge anzuknüpfen. Nach diesem Drama, aber nicht lange nachher, wurde von Hermann Bahr der Roman «Himmelfahrt» geschrieben, und Hermann Bahrs Roman «Himmelfahrt» ist wirklich in gewisser Beziehung ein Zeitdokument. Ich will dieses Zeitdokument seinem künstlerischen und literarischen Werte nach nicht überschätzen, aber es ist ein Zeitdokument. Und wie das Karma so läuft -gerade diesen Hermann Bahr kenne ich seit langer, langer Zeit,



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seit er ein ganz junger Student war. Und in diesem Roman «Himmelfahrt» schildert er einen Romanhelden, wie man das ja in der Ästhetik nennt -Franz nennt er ihn -, der mir erscheint wie eine Art Abbild - Abbild, nicht eine Selbstcharakteristik -, wie eine Art Abbild des Hermann Bahr selber. Nun kommt in diesem Roman allerlei Interessantes vor. Der Roman ist während des Krieges geschrieben. Er ist offenbar eine Auseinandersetzung des Österreichers Hermann Bahr mit den gegenwärtigen Ereignissen.

Wir brauchen nur in dieser sozusagen abstrakten Form daran zu denken, inwiefern der Held des Romans, Franz, eine Art Abbild eines in der Gegenwart lebenden Menschen ist, der jetzt etwa zweiundfünfzig bis dreiundfünfzig Jahre alt ist, die Zeitereignisse mitgemacht hat, früh angefangen hat, in einer ganz intensiven Weise mit allen möglichen Zeitströmungen zu leben, denn er ist schon als Student wegen dieses Lebens mit den verschiedenen Zeitströmungen zweimal, von zwei Universitäten, relegiert worden und war immer darauf aus, sich seelisch zu verbinden mit gewissen, auch künstlerischen Geistesströmungen. Es ist nicht eine Selbstschilderung - man findet nichts Biographisches von Hermann Bahr darinnen -, aber es ist dieser Held Franz doch etwas, worauf vielleicht Bahr abgefärbt hat. So sehen wir in diesem Helden Franz einen Menschen geschildert, der versucht, sich auseinanderzusetzen mit alldem, was man an geistigen Bestrebungen gegenwärtig in der Welt äußerlich finden kann, um Aufklärung zu bekommen über die Weltenzusammenhänge.

Da wird uns gleich im Anfang geschildert, wo dieser Franz sich überall herumgetrieben hat, um sich klar zu werden über die Weltverhältnisse: erst Botaniker bei Wiesner -das ist ein berühmter Botaniker, der an der Wiener Universität gelehrt hat -, dann Chemiker bei Ostwald, der auf Wunsch von Haeckel der Vorsitzende des Monisten-Bundes geworden ist, dann in Schmollers Seminar, an Richets Klinik, wo er sich bekannt machen konnte mit den Ideen Richets, bei Freud in Wien -selbstverständlich mußte jemand, der hineinkommen will in die gegenwärtigen Geistesströmungen, auch die Psychoanalyse kennenlernen. Er war auch bei den Theosophen in London und kam zusammen mit Kunstmalern, mit Radierern, mit Tennisspielern und



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so weiter. Also, er ist nicht einseitig: er ist ebenso bei Richet im Laboratorium gewesen wie bei den Theosophen in London. Überall sucht er sich zurechtzufinden. Dann treibt ihn natürlich sein Geschick, sein Karma, weiter in der Welt herum, und da wird verschiedenes erzählt, wie er denn da oder dort darauf aufmerksam wird, daß es doch gewisse Hintergründe in der Menschheitsevolution gibt und daß man auf diese Hintergründe wohl aufmerksam sein soll. Ich habe Sie gestern mit einem solchen Hintergrunde bekanntgemacht, und ich will Sie jetzt darauf hinweisen, wie ein anderer hingebändigt worden ist, solche Hintergründe anzuerkennen. Deshalb will ich Ihnen jetzt ein Stück aus diesem Roman vorlesen.

Wichtiger war ihm aber jetzt, ob er ihr und was er ihr antworten sollte.

Franz hatte eine weibliche Persönlichkeit gefunden, die besonders fromm war - eine eigene Art von Frömmigkeit hatte Klara -, darüber will ich aber nicht sprechen, nur andeuten, daß dies für ihn ein wichtiger Anlaß war.

Wichtiger war ihm aber jetzt, ob er ihr und was er ihr antworten sollte. Höflich danken und dann gelassen warten, bis sie der Zufall ihm zuführt? Oder vielleicht auch ihren Rat befolgen, sich an einen der frommen Männer wenden und dies dann zum Anlaß nehmen, darüber wieder an sie zu schreiben?

Fromme Männer sind in diesem Zusammenhang hier katholische Geistliche, bei denen er zunächst auch sucht, ob man sich mit dem, was sie finden, was sie wissen, zurechtfinden kann im Weltenzusammenhange. Dann sagt er weiter:

Zunächst aber mußte er sich doch vor allem erst darüber klar werden, was er selbst denn eigentlich wollte. War er einfach verliebt und also seine Neigung, fromm zu werden, auch nur der verkappte Wunsch, ihr zu gefallen? Er hatte sicherlich nicht bewußt gelogen, aber es konnte sein,



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daß ihn sein alles verklärendes Gefühl für sie jede ihrer Eigenschaften, ihrer Gewohnheiten begehrenswert erscheinen ließ. Dem geliebten Wesen möchte man unwillkürlich gleichen, und was ihm lieb und wert ist, wird es dem Liebenden auch. Aber das stimmte hier ja gar nicht! Er war doch schon auf dem Wege zum Glauben, bevor er sie noch kannte. Er hätte sie kaum je kennen gelernt ohne jenen seltsamen, ihm selbst ganz unerklärlichen inneren Drang, der ihn auf einmal sanft in die Kirchen zog und sie vor der Heiligen, selbst fast einer Heiligen gleich, finden ließ. Er hätte sie sonst gar nicht bemerkt; er liebte vielleicht auch gar nicht sie, sondern an ihr doch bloß die Erscheinung seiner eigenen Sehnsucht. Und es war gar nicht Liebe, nicht was ihm bisher Liebe geheißen hatte, es war die Seligkeit, fromm zu sein, die er empfand! War er denn aber fromm? Er wußte nur, daß er es sich wünschte, aber es gleichsam noch immer nicht wagte, vielleicht aus Furcht, sich wieder zu betrügen, wie ja noch jeder Wunsch ihn immer wieder betrogen hatte, und wenn er auch jetzt wieder enttäuscht würde, dann blieb ihm ja keiner mehr! Er wäre gern fromm gewesen, aber die Frage war freilich, ob er es konnte. Fromm wie jene Bettler, die er um das stiere Glück ihrer dumpfen Andacht so beneidete? Kaum. Er hatte dazu doch vom Baume der Erkenntnis schon zu viel genascht. Fromm wie Klara? Er war nicht mehr im Stande der geistigen Unschuld. Aber gab es nicht vielleicht eine Art zweiter Unschuld, wiedergewonnener Unschuld? Gab es nicht eine Frömmigkeit des seine Grenzen erkennenden, des gedemütigten Verstandes, einen Glauben der Wissenden, eine Hoffnung aus Verzweiflung? Lebten nicht in allen Zeiten einsame verborgene weise Männer, der Welt abgewendet, einander durch geheime Zeichen verbunden, im Stillen wunderbar wirkend mit einer fast magischen Kraft, in einer höheren Region über den Völkern, über den Bekenntnissen, im Grenzenlosen, im Raum einer reineren, Gott näheren Menschlichkeit? Gab es nicht auch heute noch, überall in der Welt zerstreut und versteckt eine Ritterschaft des Heiligen Grals? Gab es nicht Jünger einer vielleicht unsichtbaren, nicht zu betretenden, bloß empfundenen, aber überall wirkenden, alles beherrschenden, Schicksal bestimmenden weißen Loge? Gab es nicht immer auf Erden eine sozusagen anonyme Gemeinschaft der Heiligen, die einander nicht kennen, nichts von einander wissen und doch aufeinander, ja miteinander wirken, bloß durch



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die Strahlen ihrer Gebete? Schon in seiner theosophischen Zeit hatten ihn solche Gedanken viel beschäftigt, aber er hatte offenbar immer nur falsche Theosophen kennengelernt, vielleicht ließen sich die wahren nicht kennenlernen. Und plötzlich fiel ihm ein, ob nicht vielleicht der Domherr [...]

Er hatte nämlich einen Domherrn kennengelernt, der sich ihm gegenüber merkwürdigerweise als ein nach vielen Richtungen hin vorurteilsloser Mensch gezeigt hatte.

Und plötzlich fiel ihm ein, ob nicht vielleicht der Domherr einer von diesen wahren Meistern wäre, von den verborgenen geistigen Weltregenten, von den geheimen Hütern des Grals? Er wurde sich jetzt erst bewußt, daß ihm der Domherr immer schon gleichsam durch ein Versprechen großer Offenbarungen angezogen, als ob da die Worte des Lebens aufbewahrt sein müßten. Das Ansehen, in dem dieser Priester stand, die Scheu, ja Furcht, mit der man von ihm sprach, der Gehorsam, den ihm auch Widerwillige bezeigten, die tiefe Einsamkeit, die ihn umgab, die rätselhafte Macht, Freunden helfen, Feinden schaden zu können, die man ihm nachsagte, wenn er auch lächelnd bedauerte, weder den Dank der Freunde noch den Groll der Feinde zu verdienen - das alles ging doch weit über die Bedeutung, über die Kraft, über die Würde seines Amts, seiner äußeren Stellung, und wenn es die einen mit den «guten Beziehungen, die er halt hat», [...]

— so sagt man in Österreich: «die er halt hat» —

[...] die anderen gar mit dem Gerücht seiner Abstammung von einem hohen Herrn erklärten, so blieb noch immer die magische Gewalt seines Blickes, seiner Gegenwart, ja seines bloßen Namens unerklärt. Es gab ein Dutzend Domherren in der Stadt; er aber war der Domherr. Wer vom Domherrn sprach, meinte ihn. Wer um die Exzellenz fragte, wurde gar nicht gleich verstanden. Sie konnten sich noch immer nicht daran gewöhnen, ihn so zu nennen; er blieb ihnen der Domherr. Er schritt im Zuge bescheiden hinter dem rotprangenden Kardinal, aber alle blickten nur auf ihn.



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—auf den Domherrn, nicht auf den Kardinal! —

Wenn er zur bestimmten Stunde seinen gewohnten Gang unterließ, gleich hieß es in der Stadt: Der Domherr ist verreist! — Und wenn es dann wieder hieß: Der Domherr ist zurück -, so schien das von der größten Wichtigkeit für die ganze Stadt. Franz erinnerte sich eines Gesprächs, vor Jahren in Rom, [...]

—verzeihen Sie, daß ich das jetzt vorlese, aber Hermann Bahr hat das geschrieben, und ich bitte um Entschuldigung -

[...]mit einem Engländer, der, nachdem er die ganze Welt durchreist, sich in der Heiligen Stadt niedergelassen hatte, weil er behauptete, nichts Geheimnisvolleres gefunden zu haben als die Monsignori. Wer sie verstehen könnte, hätte den Schlüssel zum Schicksal der Menschheit. Es war ein kluger Mann in reifen Jahren, von guter Familie, reich, unabhängig, Junggeselle und ein richtiger Engländer, nüchtern, praktisch, unsentimental, ganz unmusikalisch, unkünstlerisch, ein derber, vergnügter Sinnenmensch, Angler, Ruderer, Segler, starker Esser, fester Zecher, ein Lebemann, den in seinem Behagen nur eine einzige Leidenschaft störte, die Neugierde, alles zu sehen, alles kennenzulernen, überall einmal gewesen zu sein, eigentlich in keiner anderen Absicht als, um schließlich, von welchem Ort immer man sprach, befriedigt sagen zu können: O ja! —, das Hotel zu wissen, in dem ihn dort Cook untergebracht, und die Sehenswürdigkeiten, die er aufgesucht, die Menschen von Rang oder Ruhm, mit denen er verkehrt hatte. Um bequemer zu reisen und überall Zutritt zu haben, war ihm geraten worden, Freimaurer zu werden. Er lobte die Nützlichkeit dieser Verbindung, bis er entdeckt zu haben glaubte, es müsse noch eine ähnliche, doch besser geleitete, mächtigere Verbindung höherer Art geben, der er nun durchaus beitreten wollte, wie er ja, wenn irgendwo noch ein anderer, besserer Cook aufzufinden gewesen wäre, sich natürlich an diesen gewendet hätte. Er ließ sich nicht ausreden, die Welt werde von einer ganz kleinen Gruppe geheimer Führer beherrscht, die sogenannte Geschichte von diesen verborgenen Männern gemacht, die selbst ihren nächsten Dienern unbekannt seien, wie diese wieder den ihren, und er



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behauptete, den Spuren dieser geheimen Weltregierung, dieser wahren Freimaurerei, von der die andere bloß eine höchst törichte Kopie mit unzulänglichen Mitteln, folgend, ihren Sitz in Rom gefunden zu haben, eben bei den Monsignori, von denen aber freilich auch wieder die meisten ahnungslose Statisten wären, deren Gedränge bloß die vier oder fünf wirklichen Herren der Welt zu verbergen hätte. Und Franz mußte heute noch über die komische Verzweiflung seines Engländers lachen, der nun das Pech hatte, niemals an den richtigen zu kommen, sondern immer wieder bloß an Statisten, aber sich dadurch nicht irremachen ließ, sondern immer nur noch mehr Respekt vor einer so wohlbehüteten, undurchdringlichen Verbindung bekam, in die er schließlich doch noch eingelassen zu werden wettete, und wenn er bis ans Ende seines Lebens in Rom bleiben und wenn er die Kutte nehmen oder etwa gar sich beschneiden lassen müßte, denn da er überall den unsichtbaren Fäden einer über die ganze Welt gesponnenen Macht nachgespürt hatte, war er nicht abgeneigt, auch die Juden sehr zu schätzen, und er sprach gelegentlich stockernst den Verdacht aus, ob nicht vielleicht im letzten innersten Kreise dieses verborgenen Weltgewebes Rabbiner und Monsignori höchst einträchtig beisammen säßen, was ihm übrigens gleichgültig gewesen wäre, wenn sie nur auch ihn mitzaubern ließen.

Sie sehen, da sucht einer! Es wird auf einen Menschen hingedeutet, der da sucht. Und Sie können ganz sicher sein, obzwar es nicht eine Autobiographie ist, aber dieser Hermann Bahr hat schon jenen Engländer kennengelernt. Das ist alles aus dem Leben.

Franz hatte sich damals schon zuweilen gefragt, ob nicht in der Narretei des Engländers doch vielleicht irgendeine Wahrheit versteckt sein könnte. Das Leben, das der einzelnen wie das der Völker, auf den ersten Blick so sinnlos, aus der Nähe nichts als ein Wust von Zufällen, zeigt sich, aus einiger Entfernung von der Höhe gesehen, doch stets wohl geplant und fest gelenkt. Wenn wir nicht annehmen wollen, daß Gott selbst unmittelbar eingreift, um mit eigener Hand den Unsinn, die Tollheit der menschlichen Willkür seinen Zwecken anzupassen, sind wir genötigt, uns gewissermaßen ein Zwischenreich, durch das sein Wille vermittelt wird, einen



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Kreis von still waltenden Menschen, durch den er auf die Welt einwirkt, sozusagen Stationen der göttlichen Kraft und Weisheit, zu denken, von denen aus ihre Strahlen in die dunkle Menschheit gehen und zuletzt doch alles immer wieder ordnen. Diese Linsen Gottes, den schaffenden Geist sammelnd und in die Welt zerstreuend, diese geheimen Ordner, diese verborgenen Könige wären es, durch die zuletzt doch aller Wahnsinn immer wieder zur Vernunft, die Leidenschaft zum Schweigen gebracht, Zufall zur Notwendigkeit, Chaos Gestalt, Finsternis hell wird, und wer wäre nicht in seinem Leben Menschen begegnet, die wirklich eine merkwürdige Hoheit und Entfernung haben, in dem Rufe stehen, durch ihren bloßen Blick verwünschen oder beglücken zu können und, so still sie sich halten, doch weit zu wirken scheinen? Es sind meistens gerade ganz einfach lebende Menschen, Hirten, Landärzte, Dorfpfarrer, oft auch alte Frauen oder auch frühreife Kinder, die bald sterben, und alle haben etwas, was sie den anderen unheimlich macht und was ihnen eine große Gewalt über Mensch und Vieh, ja, wie man immer wieder versichern hört, über die ganze Natur, auf Quellen, Erze, Wetter, Sonnenschein und Regen, Hagelschlag und Trockenheit gibt. Wenn wir ihren Weg kreuzen, haben wir, oft im selben Augenblick gleich, manchmal nach Jahren erst, das bestimmte Gefühl, daß dadurch über unser Leben entschieden worden ist. Sie selbst empfinden, scheint's, ihre Kraft eher als eine Last, vielleicht fast als einen Fluch, jedenfalls aber als eine Pflicht. Sie leben abgewendet und sind froh, wenn sie verschont werden. Es ließe sich schon denken, daß sie alle durch die weite Welt hin miteinander in Verbindung sind, sich Zeichen geben oder vielleicht auch die Zeichen noch mächtigerer geheimer Fürsten weitergeben, alles vielleicht ganz unbewußt, oder doch nur halb bewußt, mehr sozusagen inneren Aufträgen erliegend, triebhaft gehorchend, als sich selbst entschließend, wie sie denn überhaupt ihrer eigenen Kraft nicht mächtig zu sein, sondern selbst von ihr überwältigt zu werden scheinen; alle diese Fähigkeiten finden sich fast nur bei getrübtem oder vielleicht aussetzendem Bewußtsein. Franz hatte schon in jungen Jahren solche Menschen gekannt, in den Bergen sind sie ja nicht selten. Er erinnerte sich ihrer wieder bei den schwärmerischen Schrullen des Engländers. Und viel später erst war er auf den Gedanken gekommen, ob denn nicht vielleicht auch jemand, dem derlei Fähigkeiten nicht angeboren wären, ihrer teil-



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haft werden, ob man sich zu solchen Kräften erziehen, ob man sie durch Training erlernen könnte. Aber die theosophischen Übungen hatten ihn bald enttäuscht, und erst durch den Anblick der verzückten Beter in den dunklen Kirchen war er wieder daran erinnert worden. Diese Menschen hatten es durch Übung dahin gebracht, sich in einen Zustand versetzen zu können, wo das Leid, die Not, der Neid schwiegen; sie kamen vom Gebet beschwichtigt, getröstet und gestärkt zurück.

Also mit den theosophischen Übungen wollte es der Franz, wie Sie sehen, nicht halten; auf diese Weise wollte er den Übergang zu einer Erkenntnis der geistigen Welten nicht finden. Aber Sie sehen, da dämmert etwas, da dämmert etwas von jenen Dingen, von denen wir gestern sprechen mußten. Sie sehen also: Es werden heute Leute herangebändigt anzuerkennen, wie sozusagen die Fäden laufen; die Menschen fangen an, aufmerksam zu werden, daß sich gewisse Leute solcher Fäden bedienen. Es wäre nur zu wünschen, daß solche Leute wie dieser Hermann Bahr - nur mit größerem Ernste noch, als sie es tun - an die Sache herantraten. Sogar der Domherr, dem er wirklich begegnet ist, hat es mit größerem Ernste gemacht; bei diesem Domherrn war er - Hermann Bahr -tatsächlich einmal eingeladen, in einer merkwürdigen Gesellschaft, die er nun in seinem Roman schildert. Aus dieser Schilderung sieht man, daß der Domherr mit allen Menschen, ebensogut mit den frommen Mönchen wie mit den Weltzynikern und den frivolen Menschen, verkehrte und sie alle an seinen Tisch lud. Aber dem Franz fiel doch allerlei auf. Der Domherr führte ihn ins Arbeitszimmer, während die andern sich in verschiedener Weise unterhielten - wenn abgegessen ist, so folgt ja immer noch etwas. Da führte ihn der Domherr also in sein Arbeitszimmer:

Die Nichte hatte sich entfernt, der Ehrengast aber, Onkel Erhard und die Exzellenz, in bequemen Stühlen andächtig der Verdauung ergeben, hatten noch immer nicht auserzählt, die Geschichten wurden bedenklicher, der Spott verwegener, die Anspielungen deutlicher, und unsere ganze Welt, Hof, Adel und Generalstab, zog in Anekdoten auf, nichts blieb verschont, es schien, daß alles überhaupt nur aus Anekdoten bestand. Franz trat



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angewidert weg, zur Bibliothek hin. Sie war nicht groß, aber gewählt. Von Theologie nur gerade das Nötigste, [...]

— man war ja bei einem Domherrn, der braucht für sich selber die Theologie am wenigsten -

[...] die Bollandisten, viel Franziskanisches, Meister Eckhart, die geistlichen Übungen, Katharina von Genua, die Mystik von Görres und Möhlers Symbolik. Philosophie schon mehr: der ganze Kant, samt den Schriften der «Kant-Gesellschaft», Deussens «Upanischaden» und seine Geschichte der Philosophie, Vaihingers Philosophie des Als Ob und sehr viel Erkenntniskritisches. Dann die griechischen und römischen Klassiker, Shakespeare, Calderon, Cervantes, Dante, Machiavelli und Balzac im Original, aber von Deutschen nur Novalis und Goethe, dieser in verschiedenen Ausgaben, seine Naturwissenschaftlichen Schriften in der Weimarer. Einen Band davon nahm Franz und fand viele Randbemerkungen von der Hand des Domherrn, der in diesem Augenblick den jungen Mönch und den Jesuiten verließ und zu ihm trat. Er sagte: «Ja, die Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes kennt niemand. Leider! Da sieht der alte Heide, der er doch durchaus gewesen sein soll, auf einmal ganz anders aus und dann versteht man doch auch den Schluß des <Faust> erst. Ich habe mir ja nie vorstellen können, Goethe tue da bloß auf einmal katholisch, [...]

— nicht wahr, das muß man dem Domherrn, der alles «katholisch» haben will, verzeihen; für uns ist das Wichtigste, daß er sich an die Naturwissenschaftlichen Schriften gewendet hat -

[...] Goethe tue da bloß auf einmal katholisch, nur zur malerischen Wirkung. Dazu ist doch mein Respekt vor dem Dichter zu groß, vor jedem Dichter, um zu glauben, daß einer, gerade wenn er sein letztes Wort sagt, ein Kostüm anlegen sollte. Aber in den Naturwissenschaftlichen Schriften steht ja auf jeder Seite, wie katholisch Goethe war, [...]

—das muß man dem Domherrn verzeihen -



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[...] unwissentlich vielleicht und jedenfalls ohne den rechten Mut dazu. Es liest sich, als hätte da jemand, mit den katholischen Wahrheiten unbekannt, sie sozusagen unversehens auf eigene Faust aus sich selber entdeckt, wobei es freilich ohne manche Gewaltsamkeiten und Wunderlichkeiten nicht abgeht, aber doch im großen Ganzen nichts Entscheidendes, Notwendiges und Wesentliches fehlt, selbst der Schuß von Aberglauben, Magie oder wie man das nennen will, was den richtigen, geborenen Protestanten an unserer heiligen Lehre stets so verdächtig bleibt -selbst das nicht! Ich habe ja oft meinen eigenen Augen kaum getraut! Ist man aber bei Goethe dem kryptogamen Katholiken nur erst einmal auf der Spur, so sieht man ihn bald überall. Sein Vertrauen zum Heiligen Geiste, den er freilich lieber <Genius> nennt, [...]

—Goethe mit rechtem Grunde natürlich! —

[...] sein tiefes Gefühl für die Sakramente, deren ihm nur noch zu wenige sind, sein Sinn für das <Ahndevolle>, seine Begabung zur Ehrfurcht, gar aber, daß er, ganz unprotestantisch, sich niemals mit dem Glauben begnügt, sondern überall auf die Anerkennung Gottes durch die lebendige Tat, durch das fromme Werk dringt, gar dieses so seltene, höchste, schwierigste Begreifen, daß der Mensch nicht von Gott geholt werden kann, wenn er nicht selbst sich Gott holt, das Begreifen dieser furchtbaren menschlichen Freiheit, selber wählen zu müssen und die dargebotene Gnade nehmen, aber auch ausschlagen zu können, durch welche Freiheit allein die Gnade Gottes dem Menschen, der sich für sie entscheidet, der sie sich nimmt, erst zum eigenen Verdienste wird, das alles ist auch in seinen Übertreibungen, auch in seinen Verzerrungen noch so stockkatholisch, daß ich, wie du siehst, [...]

— sie hatten sich nämlich schon geduzt, so also der Domherr zum Franz -

[...] oft genug an den Rand die Stellen aus dem Tridentinum schreiben konnte, wo zuweilen fast mit denselben Worten dasselbe steht. Und wenn Zacharias Werner erzählt hat, er sei durch einen Satz in den Wahlverwandtschaften



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katholisch gemacht worden, so glaub ich ihm das aufs Wort. Womit ich natürlich nicht leugnen will, daß es daneben auch einen heidnischen, einen protestantischen, ja sogar einen beinahe jüdischen Goethe gibt und ihn durchaus nicht als das Muster eines Katholiken reklamieren will, was er übrigens immer noch eher war als der plattvergnügte Wald- und Wiesenmonist, den die neudeutschen Oberlehrer unter seinem Namen paradieren lassen.»

Man sieht, es wird immerhin schon selbst in diesen Kreisen ein anderer Goethe gesucht, der den Weg in die geistige Welt hinein gehen kann -allerdings ein anderer Goethe, als der «plattvergnügte Wald und Wiesenmonist», den die Goethe-Biographen beschrieben haben und als der er heute der Welt verzapft wird. Sie sehen, die Wege, die dieser Franz macht - ich sage nicht der Domherr, sondern der Franz -, diese Wege sind nicht so ganz verschieden von denen, die Sie verwoben finden in dem, was wir anthroposophisch orientierte Geisteswissenschaft nennen - Sie sehen, es kann schon eine Notwendigkeit vorliegen.

Nun bitte ich Sie, sich zu erinnern -die meisten werden sich daran erinnern, ich weiß aber nicht, ob ich es auch hier erwähnt habe, doch habe ich es öfters erwähnt -, erinnern Sie sich, wie ich gesagt habe, daß zu den verborgenen Ereignissen unserer gegenwärtigen Zeit, zu den konkreten verborgenen Ereignissen unserer gegenwärtigen Zeit, ganz abgesehen von allem äußeren physischen Geschehen, der Tod des Erzherzogs Franz Ferdinand von Österreich gehört. Und zwar habe ich dazumal einen besonderen Wert darauf gelegt, daß wirklich für die Gesamtwelt - wenn wir physische und geistige Welt zusammennehmen - etwas Neues eintrat, daß es vor der Ermordung des Franz Ferdinand ganz anders war als nachher. Meine lieben Freunde, was geht es einen bei solchen Dingen an, wie sie sich im Äußeren, in der Maja ausnehmen -bei solchen Dingen geht einen an, wie die Dinge innerlich laufen. Und da habe ich gesagt: Was da hinaufgestiegen ist in die geistigen Welten als Seele dieses Franz Ferdinand, wurde ein Zentrum für ganz starke, mächtige Wirkungen, und vieles, was gegenwärtig geschieht, hängt gerade damit zusammen, daß da



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ein einzigartiger Übergang zwischen Leben und sogenanntem Tod vorgegangen ist, daß diese Seele etwas ganz anderes wurde, als andere Seelen es werden.

Ich sagte, für denjenigen, der die letzten Jahrzehnte geistig bewußt mitgemacht hat, liegt ein Hauptgrund für die gegenwärtigen schmerzlichen Ereignisse in der die ganze Welt durchtränkenden Furcht, die die einzelnen Menschen voreinander hatten, wenn sie sich dessen auch nicht bewußt waren, die aber vor allen Dingen die einzelnen Nationen voreinander gehabt haben. Und hätte man sehenden Auges diese Furchtursache verfolgt, so würde man nicht so viel Unsinn über die Kriegsursachen reden, wie man es heute tut. Diese Furcht konnte so bedeutsam sein, weil sie als Gefühlszustand hineinverwoben ist in dasjenige, was ich Ihnen gestern erzählte, durch Beispiele erzählte. Betrachten Sie das sozusagen als eine Art Skizze. Aber nun geht durch das alles die Furchtaura. In ganz bestimmter Weise zusammenhängend mit dieser Furchtaura war diese Seele von Franz Ferdinand. Daher ist dieser gewaltsame Tod keineswegs etwas bloß Äußerliches. Ich sagte das, weil es für mich eine Beobachtung war, weil das wirklich ein besonderes, ein bedeutsames Ereignis war, das zusammenhängt mit mancherlei, was in der Gegenwart geschieht.

Nun, ich weiß nicht -ich will nicht annehmen, daß solche Dinge, die ja selbstverständlich in unseren Kreisen behütet werden, überall außerhalb unseres Kreises erzählt werden; Tatsache ist aber, daß ich gleich vom Kriegsanfang an diese Sache vorgetragen habe in den verschiedensten Zweigen -dafür sind Zeugen da, daß sie vorgetragen worden ist. Das Buch von Hermann Bahr ist viel später, ist ja erst vor kurzem erschienen. Dennoch finde ich darinnen die folgende Stelle - und ich bitte Sie, die Tatsache ins Auge zu fassen, daß also im Kreise unserer anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft hingewiesen wird auf solch ein bedeutendes, spirituell bedeutendes Ereignis und daß man dann nachträglich in einem Buche - es ist nachträglich geschrieben -das folgende findet: Es handelt sich in diesem Roman darum, daß da ein Mensch auftritt, der eigentlich immer ganz töricht erscheint. Er ist allerdings eine Art verkappter Prinz, aber er tritt als ein ganz törichter Mensch auf und nimmt niedrige Dienste



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an. Nur als er verkündigen hört durch einen öffentlichen Anschlag - er ist auf dem Lande: Auf den Erzherzog Franz Ferdinand ist ein Attentat ausgeführt worden -, da macht er eine solche Äußerung, daß er nicht nur beinahe gelyncht, sondern auch eingesperrt wird, denn wie sollte nicht jede Polizei selbstverständlich davon überzeugt sein, wenn jemand unmittelbar nach dem Attentat eine solche Äußerung tut, daß er mit im Komplott ist? Das ist ja selbstverständlich, wenn auch viele, viele Meilen dazwischen liegen, wenn auch das eine in Sarajevo und das andere in Salzburg geschehen ist. Trotzdem ist der Mann für die Polizeiweisheit selbstverständlich im Komplott.

Dadurch aber kommt heraus, daß dieser törichte Mensch im Grunde genommen ein verkappter Prinz ist, der ein tief bedeutsames, mystisches Tagebuch hat. Es kommt aber auch heraus, warum er eigentlich jene Äußerung getan hat. Und darüber steht nun folgendes:

Der verwunschene, jetzt entzauberte Prinz, [...]

Er war also eigentlich ein Prinz, aber die ganze Prinzenschaft ist ihm zu dumm geworden, und er wurde der verkappte alte Blasl, der niedrige Dienste annahm, recht blöde tat, sich sogar von seinen Herrschaften prügeln ließ und meist gar nichts sagte; nur bei gewissen Anlässen wurde er gesprächig, aber sonst sagte er gar nichts. Man fand dann, da man selbstverständlich untersuchte, wie die Sache sich verhielte, ein mystisches Manuskript, das er selber geschrieben hatte - das ist hier drinnen im Buch mitgeteilt:

Der verwunschene, jetzt entzauberte Prinz, noch in seinen alten Kleidern und auch sonst ganz der alte, dennoch aber ein anderer, seit Franz wußte, daß es eine Verkleidung war, sagte lächelnd: «Vergeben Sie mir den Betrug, der ja für mein Gefühl eigentlich keiner war. Der Infant Don Tadeo bin ich längst nicht mehr. Wenn mich Umstände nötigen, ihn jetzt wieder eine Zeit vorzustellen, so fällt mir diese Rolle viel schwerer. Für mich war ich der alte Blasl wirklich, und wenn ich überhaupt log, so hätte ich mich belogen, nicht Sie. Daß ich Ihnen Ungelegenheiten bereiten würde,



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konnte ich nicht wissen. Es tut mir leid genug. Natürlich war's das albernste Mißverständnis. Ich habe den Thronfolger, ohne freilich ihm je begegnet zu sein, genau gekannt, er ist mir sehr wert gewesen, wir waren in Verbindung, wenn auch nicht auf die hiesige Art.»

«Hiesige» Art» —gemeint ist die physische Art: Wir waren in Verbindung, wenn auch nicht in der Art des physischen Planes.

«Er hatte längst die Grenzen der irdischen Wirksamkeit überschritten und stand mit einem Fuß schon in dem anderen Raum des rein geistigen Tuns. Er mußte nun ganz hinüber, das wußte ich; um in Erfüllung zu gehen, hat er nicht mehr bleiben können. Von dort aus erst wird seine Tat geschehen. Ich wunderte mich nur, daß das Schicksal so lange mit ihm zögerte. Und als ich an jenem Sonntag aus der Kirche tretend, wo ich eben im Gebet von neuem versichert worden war, die beklommene Menge fand, wußte ich gleich, daß er endlich befreit war. Was durch ihn zu geschehen hat, kann er von drüben erst verrichten. Hier hat er es nur versprechen können, sein Leben war nur eine Voranzeige. Jetzt erst kann es sich begeben. Ich habe mir ihn nie als einen konstitutionellen Monarchen denken können, mit Parlamentarismus und dem ganzen Humbug. Dafür war sein Format zu groß. Aber so hat er nun mit einem Schlag die Tat an sich gerissen. Dieser Tote wird jetzt erst leben und von Grund auf. Das empfand ich bei der Nachricht, das meinten meine Worte. Sie werden aber begreifen, daß ich wenig Aussicht hatte, mich darüber mit jenen Bauern zu verständigen. Ich ergab mich lieber stumm und wundere mich nur, daß sie mir nicht den Garaus machten. Ich war darauf gefaßt, und es wäre jetzt vorüber. Mir steht also noch ein Rest zu tun bevor. Sei's!» Er hatte dies alles immer in dem gleichen Ton gesagt, der gewissermaßen nicht interpungierte, und nur selten Franz einmal aus seinen abgestorbenen Augen stier anblickend. Dann bat er ihn noch, von seinen Heften nichts zu sagen und auch selbst sie zu vergessen. «Es steht darin die Wahrheit, aber nur für mich; dazu muß man meine Zeichensprache verstehen. Was darin steht, ist richtig, aber die Worte sind ungültig.» Franz konnte nicht unterlassen, ihm den Eindruck zu schildern, den er von den Heften hatte.



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Franz war nämlich der einzige Mensch, der Spanisch verstand in jener Stadt, und wurde, da diese Hefte spanisch geschrieben waren, zugezogen - wobei ich daran erinnere, daß da ein bißchen Ironie dabei ist, nennt man doch in Österreich alles «spanisch», was man nicht gleich versteht, aber jedenfalls waren es spanische Hefte. Man mußte aber doch, da man den Blasl respektive den Infanten im Verdacht hatte, daß er mit im Komplott sein könnte, diese Hefte lesen, und weil der Franz einmal in Spanien war und deshalb Spanisch lesen konnte, mußte er sie lesen - Hermann Bahr war nämlich wirklich auch in Spanien gewesen.

Sie sehen also -da man annehmen muß, daß Hermann Bahr die Sache nicht gesteckt worden ist -ein merkwürdiges Heranbändigen eines Menschen zu diesen Dingen, eine Notwendigkeit in der Gegenwart, sich mit diesen Dingen zu befassen, sich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Und ich glaube, daß es berechtigt ist, ein wenig zu erstaunen darüber, daß solche Dinge gegenwärtig in Romanen auftauchen, denn das hängt zusammen mit dem inneren Gefüge unserer Zeit. Allerdings, zunächst werden nur Menschen ergriffen, die ein ähnliches Leben haben wie Hermann Bahr, der so nach und nach alles Mögliche durchgemacht hat und jetzt, in seinen alten Tagen, nachdem er sich lange zum Impressionismus bekannt hat, auch noch versucht, den Expressionismus und alles andere, was sich so ergibt, zu verstehen. Er ist ein Mensch, der wirklich in der Lage war, mit seiner Seele sich mit den verschiedensten Strömungen äußerlich und innerlich zu verbinden, der wirklich selber bei den Ostwaldianern, bei Richet und bei den Theosophen in London war und es mit denen versucht hat, und zuletzt, da er nicht genug Ausdauer gehabt hat, an den Domherrn Zingerl gekommen ist, den er nun für einen Meister hält. Ja, er hat innere und äußere Strömungen durchgemacht.

Als ich ihn kennenlernte, hatte er eben [als Student in Berlin] sein Drama «Die neuen Menschen» geschrieben, dessen er sich jetzt sehr schämt; das war in streng sozialdemokratischem Sinn verfaßt, und es gab damals keinen glühenderen Sozialdemokraten als Hermann Bahr. [Vorher als Student in Österreich] war er zur deutschnationalen Bewegung übergetreten. Wiederum: Keiner war ein radikalerer



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Deutschnationaler als Hermann Bahr gewesen. Da, [in Berlin, nach dem Ende seiner Studienzeit] — er war mittlerweile vierundzwanzig Jahre alt geworden und mußte sich endlich als Soldat stellen -wurde er Einjährig-Freiwilliger. Keiner wurde ein so radikal militaristisch gesinnter Mann wie Hermann Bahr - er war jetzt ganz von soldatischer Gesinnung durchdrungen. In dieser Zeit schrieb er einen kleinen Einakter, der weniger bedeutend ist. Dann schrieb er «Die große Sünde», [wo er aus seiner Enttäuschung gegenüber der sozialistischen Bewegung und der Politik im allgemeinen keinen Hehl machte].

Sie sehen, er wußte seine Seele mit den äußeren Strömungen zu verbinden, dabei hat er es aber nie versäumt, sich auch schon ganz ernsthaft mit inneren Strömungen bekannt zu machen. Dann, nachdem er seine Soldatenzeit [und den sich anschließenden Pariser Aufenthalt] hinter sich hatte, ging er für kurze Zeit wieder nach Berlin und redigierte dort eine moderne Wochenschrift, die «Freie Bühne für modernes Leben» hieß. In alles konnte er sich verwandeln, aber nur nicht in einen Berliner! Er war kaum [in Paris]angekommen, er konnte noch nicht einmal ein reflexives Verbum mit «être» konjugieren, sondern nur mit «avoir», da schrieb er schon begeisterte Briefe über den Sonnenmenschen Boulanger, der Europa schon zeigen werde, was wahre, echte Kultur ist. Dann ging er nach Spanien, wurde ein glühender Gegner des Sultans von Marokko, gegen den er Artikel schrieb, aber in spanischer Sprache. Dann kam er zurück, nicht als eine Kopie von Daudet -nicht eine Kopie, denn er war als Mensch ein Rassengemisch -, aber er sah äußerlich doch so ähnlich aus.

Er erzählte uns dazumal in dem berühmten alten Café Griensteidl, das seit dem Jahre 1848 in seinen Räumen schon alle möglichen Leute gesehen hat, welche in Österreich eine gewisse Bedeutung hatten, und wo Lenau, Anastasius Grün und alle möglichen anderen Leute verkehrten, wo selbst die Kellner eine besondere Berühmtheit erlangt hatten, denn wer kannte in Wien nicht den berühmten Franz und später den Heinrich vom Griensteidl? Jetzt ist es abgerissen, aber gerade weil Hermann Bahr dort so viel geredet hat von der Art und Weise, wie seine Seele sich ins Franzosentum versetzt hat, geredet



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hat von dem Sonnenmenschen Boulanger, wurde ein anderer aufsässig, und als das Café Griensteidl abgerissen wurde, schrieb Karl Kraus die Broschüre «Die demolierte Literatur». Ich erinnere mich noch lebhaft, wie uns Hermann Bahr von seinen großen Eindrücken, die er gehabt hatte, erzählte und daß er, der Linzer, den schönsten Künstlerkopf in ganz Paris gehabt habe; ich erinnere mich noch ganz lebendig, wie er von Maurice Barres schwärmte, wie er die Leute mit den Ideen von Maurice Barres suggestionierte, wie er in intensiver Weise alles vertrat, was dazumal anfing, Jungfranzosentum zu sein, wie man wirklich aus einem begeisterten Herzen heraus, das eine ganze Literaturströmung miterlebt hat mit all ihrem Wollen, kennenlernte all das, was da war. Dann gründete er selber mit einigen andern zusammen in Wien eine Wochenschrift, in der er wirklich bedeutsame Artikel schrieb - er vertiefte sich schon immer mehr und mehr, nur gingen bei ihm immer eine Trivialisierung und eine Vertiefung Hand in Hand. Und so hat er sich nun weiter gewandelt wie einst vom Deutschnationalen zum Sozialdemokraten, vom militärisch Gesinnten zum glühenden Boulangisten und Anhänger des Maurice Barres und anderer; dann hat er sich schließlich verwandelt in einen Anerkenner der impressionistischen Kunst.

Ab und zu ist er immer wieder nach Berlin gekommen, da ist er aber immer sehr schnell wieder fortgegangen; das war der einzige Ort, den er nicht leiden konnte. Dagegen liebte er Wien ganz furchtbar und brachte das in vieler, vieler Beziehung zum Ausdruck. In den letzten Jahren haben ihn öfters die Danziger, seine geliebten Danziger, eingeladen, denen er Vorträge hielt über Expressionismus, die sie sehr gut verstanden haben sollen und die ja auch erschienen sind in seinem Buch über den Expressionismus. Da schwärmt er nun auch von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, da zeigt er, daß er auch ein wenig herangekommen ist an das, was wir als Anthroposophie kennenlernen, aber es ist eben erst ein Anfang bei ihm. Nur nebenbei will ich sagen, daß er in seinem letzten Buche über den Expressionismus den Danzigern alles Schöne sagt -selbstverständlich um ihre großen Vorzüge gegen die Berliner ins rechte Licht zu setzen. Man hat in letzter Zeit vielfach erzählt, Hermann



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Bahr sei katholisch geworden. Nun, so ganz katholisch wird er auch nicht geworden sein; er wird es in demselben Grade geworden sein, wie er boulangistisch war. Aber er ist ein Mensch - Sie haben es nun auch in seinem neuesten Roman gesehen -, der gerade durch das Weltmännische, das er wegen der Sehnsucht, in seiner Art alles kennenzulernen, eben hat, berührt wurde von der Notwendigkeit, in der Gegenwart Dinge kennenzulernen wie den Aufstieg des Menschen in die geistige Welt oder wie die Zusammenhänge von Mensch zu Mensch -Zusammenhänge anderer Art als jene, die bloß durch die gewöhnlichen physischen Mittel zustande kommen, mit andern Worten: Zusammenhänge, wie wir sie gestern auch charakterisiert haben.

Nun, Sie können immerhin verstehen, wenn es von mir mit einer gewissen Bedeutung aufgefaßt wird, daß nicht nur allgemeine Anklänge in solch einem Romane sind, sondern daß die Dinge bis zu einem so konkreten Punkt kommen wie dem Tod des Erzherzogs Franz Ferdinand. Daran sehen Sie, daß die Dinge viel konkreter zu nehmen sind, als man gewöhnlich meint. Nun, gerade solche Dinge aber müssen uns darauf hinweisen, daß das, was auf dem physischen Plan geschieht, vielfach nur wie ein Symptom ist -ein Symptom für das, was eigentlich in Wirklichkeit geschieht, was gewissermaßen hinter den Kulissen des Daseins vorgeht. Denn Sie können sich unmöglich eine [richtige]Vorstellung machen, wenn Sie in den Zeitungen nur dasjenige lesen, was im Zusammenhange mit diesen Ereignissen - ich meine jetzt nur mit diesem Attentat -vorgegangen ist. Und wenn Sie nicht an Geistiges appellieren, können Sie sich unmöglich die Vorstellung machen, daß man überhaupt zu einer wirklichen Bedeutung der Sache geführt wird. Aber es ist heute noch nicht möglich, über diese Dinge ganz unbefangen zu sprechen und alles das auszudrücken, was damit zusammenhängt. Aber auf einiges, zunächst mehr Äußeres, darf doch wohl hingedeutet werden.

Erinnern wir uns an das, was gestern über die slawische Welt, über das slawische Gemüt gesagt worden ist. Halten wir damit zusammen, daß durch das sogenannte Testament Peters des Großen, das etwa im Jahre 1813 auftritt, vielleicht auch etwas früher, etwas verbreitet wird -



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und zwar mit Grund so verbreitet wird, als wenn es von Peter dem Grossen selber herrührte -, das suggestiv wirken soll, was eine naturgemäße Strömung wie die slawische Gemütsströmung gewissermaßen einnehmen soll, um sie zu lenken und zu leiten. Wohin leiten? Leiten in die Bahnen des Russizismus, so daß das alte Slawentum gewissermaßen als Träger der russischen Staatsidee erscheint. Weil das so ist, muß auch genau unterschieden werden zwischen dem Geistigen des Slawentums, demjenigen, was als Strömung des alten Slawentums existiert, und demjenigen, was sich, ich möchte sagen wie ein äußeres Gefäß herrichten möchte, um dieses ganze Slawentum aufzunehmen: der Russizismus, das Russentum.

Nun darf man nicht vergessen, daß eine große Anzahl von slawischen Volksstämmen, Volksstammesteilen wenigstens, innerhalb des Rahmens der österreichisch-ungarischen Monarchie leben. Die österreichisch-ungarische Monarchie hat ja - lassen Sie mich die Finger zu Hilfe nehmen, um zu zählen -Deutsche, Tschechen, Slowenen, Slowaken, Serben, Kroaten, Slawonen, Polen, Rumänen, Ruthenen, Magyaren und Italiener innerhalb ihrer Grenzen wohnen - Sie sehen, viel mehr Völkerschaften als die Schweiz! Nun haben wir [zwölf Völkerschaften], und das, was da lebt innerhalb dieser Völkerschaften, kann nur derjenige erkennen, der einmal innerhalb dieser Völkerschaften längere Zeit wirklich mitgelebt hat mit den Ereignissen und verstanden hat die verschiedenen Strömungen, die da innerhalb Österreich-Ungarns leben. Insofern es sich um das Slawische handelt, muß man sagen, daß in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts eine wesentliche Bestrebung -durchgehend durch die Dinge -die war, eine Möglichkeit zu finden, wie diese verschiedenen Völkerschaften in Frieden und in Freiheit miteinander leben können. Und die ganze Geschichte Österreich-Ungarns in den letzten Jahrzehnten, mit all den scharfen Kämpfen, ist nur zu verstehen, wenn man sie faßt unter dem Prinzip der Individualisierung der einzelnen Stämme -diese ist natürlich schwierig, weil ja die Leute nicht so bequem nebeneinander leben, sondern vielfach ineinander geschachtelt sind. Unter den Deutschen Österreichs gibt es sehr, sehr viele, welche auch das Heil der Deutschen gerade darin sehen, die einzelnen Slawenstämme



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in Österreich möglichst zu individualisieren, das heißt eine Form zu suchen, wie sie selbständig und frei sich individuell entwickeln können. Daß solche Dinge nicht schnell gefunden werden können, ist selbstverständlich; es braucht Zeit, aber es ist immerhin eine solche Bewegung durchaus vorhanden.

Dann haben wir neben diesen innerhalb des Rahmens von Österreich-Ungarn vereinigten Slawenstämmen die Balkanslawen, welche lange Zeit unter türkischer Herrschaft waren, in den letzten Jahrzehnten diese türkische Herrschaft aber abgestreift und einzelne balkanslawische Staaten begründet haben: Bulgarien, Serbien und Montenegro. Was sich neben dem, was ich jetzt angeführt habe, noch als das im Geistesleben am weitesten vorgeschrittene polnisch-slawische Volk findet, das ist schon gestern von mir erwähnt worden. Ich will Sie jetzt nur auf die wichtigsten Verzweigungen aufmerksam machen, denn ich kann diese Dinge ja auch nur nach und nach entwickeln. Nun lebt aber gerade in all diesen slawischen Völkern und Volksstämmen bis zu einem gewissen Grade dasjenige, was ich gestern als das einheitliche, elementarische völkische Element bezeichnet habe, was eben eine Vorbereitung für die Zukunft ist -das lebt darinnen.

Nun fassen wir die Sache zunächst äußerlich. Warum war, äußerlich angesehen, jener Franz Ferdinand von einer gewissen Bedeutung? Er war von einer gewissen Bedeutung, weil er mit seinem Wesen, durch seine ganzen Neigungen -das Äußere müssen Sie eben symbolisch auffassen für etwas, was innerlich lebte -sozusagen der äußere Ausdruck für gewisse Strömungen war, weil in seinem Wesen etwas lebte, was - sobald es sich nur hätte ganz befreien können - außerordentlich verständnisvoll der individuellen Entwicklung des Slawentums entgegengekommen wäre. Man kann ihn [trotz gewisser Einschränkungen]geradezu einen intensiven Freund des Slawentums nennen, und er hatte Verständnis -vielleicht müßte ich sagen: dasjenige, was in ihm lebte, was ihm selber nicht voll bewußt war, hatte Verständnis dafür -, was für Formen das Zusammenleben der Slawen annehmen muß, wenn diese sich individuell entwickeln sollen.

Man muß nun ins Auge fassen, daß [in diesem Fall]der Gang des Karmas ein höchst eigentümlicher war. Man darf nicht vergessen, es



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war einmal ein Thronfolger da gewesen, auf den große Hoffnungen gesetzt wurden, insbesondere nach jener Richtung, in welcher viele liberale und freigeistige Menschen der Gegenwart denken - der Thronfolger Erzherzog Rudolf. Klar war es denjenigen, welche die Verhältnisse und den Menschen, den Erzherzog Rudolf, kannten, daß durch seine Seele etwas wirkte, was ich gestern englisches politisches Denken - Gedankenformen für die Art und Weise, Staaten zu verwalten - genannt habe. Und man erwartete von ihm eine Übertragung dieses Denkens auf die österreichischen Verhältnisse; dem waren auch seine Neigungen zugetan. Aber Sie wissen, wie das Karma gewirkt hat und in welcher Weise das, was da hätte geschehen sollen, verunmöglicht worden ist. Nun war das andere möglich, daß ein in ganz anderer Richtung sich bewegender Mann bedeutsam werden konnte. Und da ist es wirklich nicht so ganz ohne Bedeutung, wenn darauf aufmerksam gemacht wird:

Hier hat er es nur versprechen können, sein Leben war nur eine Voranzeige. Jetzt erst kann es sich begeben. Ich habe mir ihn nie als einen konstitutionellen Monarchen denken können, mit Parlamentarismus und dem ganzen Humbug.

Aber so hätte man sich vor allen Dingen den anderen Mann denken müssen! Sie sehen, das Karma ist an der Arbeit, und wir müssen dieses Karma so an der Arbeit erblicken, um zu noch höheren Höhen des Verständnisses aufsteigen zu können. Dasjenige, was hätte eingerichtet werden sollen und können -jetzt nicht nach dem Willen dieser oder jener Menschen, sondern nach den Intentionen der Weltenevolution -, was durch diese das Slawentum mit Verständnis beobachtende Seele hätte eingeleitet werden können -ich will jetzt vorläufig nur abstrakt charakterisieren -, das wäre, meine lieben Freunde, wirklich von befreiender Wirkung gerade für das Slawentum gewesen. Aber es wäre zu gleicher Zeit vernichtend gewesen für das, was der Russizismus mit dem Slawentum will, denn der Russizismus will das Slawentum in seinen Rahmen, den er durch das «Testament Peters des Großen» bereitet, fassen und es als sein Mittel



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benützen. Er will es fassen. Wie schnell solche Dinge sich verwirklichen können, das hängt natürlich von mancherlei Nebenströmungen und Nebenumständen ab. Aber wichtig ist, einen richtigen Blick zu haben für das, was sich nach einer bestimmten Richtung hin anbahnt. Es ist daher selbstverständlich, daß ein Verständnis für das, was da eigentlich wob, nur diejenigen haben konnten, welche das Slawentum etwas tiefer betrachteten, und daß diesem entgegengearbeitet werden mußte von jenen, die eigentlich den Slawismus durch den Russizismus vernichten wollen.

Nun, besonders heikel, besonders penibel werden die Dinge, wenn Personen in Strömungen eingreifen und mit Mitteln rechnen, die eben mit okkulten Strömungen zusammenhängen, und solche Gesellschaften gibt es [einige]weit über die Erde hin. Manche davon sind tieferreichende Gesellschaften, wie diejenigen, die wir morgen noch kennenlernen wollen. Manche sind nur am Rande berührt, aber trotzdem sie nur berührt sind, müssen sie, gerade weil sie berührt sind, immerhin schon als Gefäße aufgefaßt werden, durch welche die okkulten Strömungen hindurchgehen. Und jene Gesellschaft, von welcher verlangt wurde nach dem Tode des Erzherzogs Franz Ferdinand, daß sie aufgelöst werden sollte in Serbien, die «Narodna odbrana», das war eine Gesellschaft, die immerhin die ganz genaue Fortsetzung einer früheren, ganz im Okkulten arbeitenden Gesellschaft war, die nur ein wenig ihre Methode geändert hatte -ich will eben nur Tatsachen erzählen. Sehen Sie, da haben Sie eine Berührung mit der Art, wie mit einer okkulten Gesellschaft politisch gearbeitet wird - einer okkulten Gesellschaft, die ihr Aktionszentrum zwar in Serbien hatte, die aber ihre Fäden überallhin, wo es Slawen gab, erstreckte und die mit den mannigfaltigsten andern Gesellschaften im Zusammenhang stand und vor allen Dingen wiederum einen inneren Zusammenhang hatte mit westlichen Gesellschaften. Daher kann man in einer solchen Gesellschaft Dinge lehren, die schon zusammenhängen mit den okkultistischen Wirkungen, die durch die Welt gehen.

Warum müssen wir, meine lieben Freunde, so mancherlei Umwege machen, um auch nur einigermaßen zu einem Verständnis dessen zu



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kommen, was wir eigentlich verstehen müssen? Wundern Sie sich nicht, daß so mancherlei Umwege gemacht werden müssen, denn gar leicht entsteht ein oberflächliches Urteilen, wenn man seine Einsichten anwenden will auf unmittelbare Vorgänge, in denen man mit Sympathien und Antipathien drinnensteckt; gar leicht entstehen da falsche Vorstellungen und Mißverständnisse. Denn wie geschieht es einem oft? Man hat seine Sympathien und Antipathien in der Seele, zu denen selbstverständlich jeder sein gutes Recht hat, aber man hat oftmals Grund, sich diese nicht einzugestehen, sondern sich selber, ich will nicht sagen etwas vorzumachen, sondern in die Autosuggestion zu versetzen, man urteile objektiv. Würde man sich ruhig gestehen, ich habe diese oder jene Sympathien, so würde man sich die Wahrheit eingestehen; aber während man «objektiv» urteilen will, gesteht man sich nicht die Wahrheit, sondern betäubt sich gewissermaßen über die Wahrheit hinweg. Nun ja, warum kann denn der Mensch solche Anlagen haben? Einfach deshalb, weil der Mensch sehr leicht, wenn er sich bemüht, die Wirklichkeit zu verstehen, auf merkwürdige Widersprüche stößt, und wenn der Mensch auf Widersprüche stößt, dann sucht er über diese so hinwegzukommen, daß er von zwei einander widersprechenden Dingen das eine annimmt und das andere zurückstößt. Das aber heißt sehr häufig, die Wirklichkeit überhaupt nicht verstehen wollen.

Ich will Ihnen ein Beispiel geben, wie man sich in einen Widerspruch, in einen ernsten Widerspruch verwickeln kann, wenn man nicht versteht, wie der lebensvolle Zusammenhang des Widerspruchsvollen mit der ganzen, vollen Wirklichkeit ist. Wir nennen innerhalb unserer anthroposophisch orientierten Geisteswissenschaft Christentum dasjenige, was ergriffen ist von der Bedeutung des Mysteriums von Golgatha, was ergriffen ist davon, daß der Christus verurteilt worden ist, gestorben ist, begraben worden ist, aber auch in echtem, wahrem Sinne auferstanden ist und als Auferstandener weiterlebt. Das nennen wir Mysterium von Golgatha, und wir können niemandem das Recht zugestehen, sich einen Christen zu nennen, der dieses nicht anerkennt. Was war aber notwendig, damit der Christus das für die Menschenentwicklung durchmachte, was ich eben



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geschildert habe? Dazu war notwendig, daß ihn der Judas verriet, dazu war notwendig, daß er ans Kreuz geschlagen worden ist. Und hätten diejenigen, die ihn ans Kreuz schlugen, ihn nicht ans Kreuz geschlagen, dann hätte das Mysterium von Golgatha zum Heile der Menschheit nicht stattgefunden. Wäre der Christus nicht von Judas verraten worden, dann wäre das Mysterium von Golgatha nicht geschehen. Hier haben Sie einen furchtbaren, realen, ich möchte sagen, einen ins Große, ins Gigantische getriebenen Widerspruch.

Läßt sich denn ein Mensch denken, der sagt: Ihr Christen verdankt dem Judas, daß Euer Mysterium von Golgatha überhaupt zustande gekommen ist; ihr Christen verdankt den Henkersknechten, die Christus ans Kreuz geschlagen haben, daß Euer Mysterium von Golgatha sich abgespielt hat? — Soll deshalb einer berechtigt sein, den Judas und die Henkersknechte zu verteidigen, trotzdem es wahr ist, daß ihnen der Sinn der Erdengeschichte verdankt wird? Kann solch eine Frage so einfach beantwortet werden? Kommt man nicht auf Widersprüche, meine lieben Freunde, die dastehen und die ein furchtbares Geschick sind?

Denken Sie einmal nach über das, was ich jetzt vor Sie hingestellt habe. Wir werden morgen in diesen Betrachtungen weiterfahren. Das letzte habe ich nur ausgesprochen, damit Sie nachdenken können darüber, daß es nicht so einfach ist zu sagen: Von zwei Dingen, die einander widersprechen, nehme ich das eine, das andere weise ich zurück. — Die Wirklichkeit ist tiefer als das, was der Mensch oftmals mit seinem Denken umfassen will, und es ist doch nicht so ohne Grund, wenn Nietzsche aus einem fast wahnsinnig gewordenen Kopf heraus das Wort geprägt hat: «Die Welt ist tief und tiefer, als der Tag gedacht.»

Nun werden wir, nachdem ich versucht habe, Sie in formaler Weise auf die Natur des realen Widerspruchs hinzuweisen, morgen noch tiefer in die Materie einzudringen versuchen, die wir jetzt vorbereitend angeschlagen haben. Ich will jetzt nur eine ganz kurze Pause machen; Sie können herinnen bleiben. Und ich werde dann, damit es verstanden werden kann, noch ganz kurz etwas sprechen über die Goethe'sche «Walpurgisnacht», über «Faust», weil ja vielleicht



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das doch auch manchem nützlich werden kann. Also nur ein paar Minuten wollen wir Pause machen, damit wir die Sachen nicht ineinander laufen lassen.