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RUDOLF STEINER Zeitgeschichtliche Betrachtungen Band 1

Wege zu einer objektiven Urteilsbildung

Sieben Vorträge, gehalten in Dornach zwischen 4. Dezember und 18. Dezember 1916

RUDOLF STEINER VERLAG

FÜNFTER VORTRAG

Dornach,16. Dezember 1916

Meine lieben Freunde! Wären wir nicht eine Vereinigung, welche alle Dinge vom Gesichtspunkt der Erkenntnis, und zwar der vertieften geistigen Erkenntnis aus, zu betrachten hat, so wäre es selbstverständlich, daß ich gerade mit den von vielen Seiten gewünschten Betrachtungen, die wir seit einigen Tagen anstellen, jetzt einhalten müßte, denn auf jeder anderen Grundlage als einer ernsthaften und objektiven Erkenntnis - wenn es sich denn um Erkenntnis handeln würde -, müßte selbstverständlich mit diesen Betrachtungen ausgesetzt werden bis zu dem Zeitpunkt, an dem effektive Ergebnisse der wichtigen Vorgänge unserer Tage vorliegen.

Es ist, glaube ich, auch selbstverständlich, daß jede Seele, welche es ernst und aufrichtig mit dem menschlichen Heil meint, in banger Erwartung demjenigen entgegensieht, was in den nächsten Tagen geschieht, muß es sich doch durch die Tatsachen entscheiden, ob gewisse Stimmen aus dem, was wir in diesen Betrachtungen die Peripherie, den Umkreis, genannt haben, in der Lage sind, sich noch so weit auf sich selbst zu besinnen, daß der ganzen Menschheit, auch der Menschheit der Zukunft, eigentlich nicht zugemutet werden dürfte, daran zu glauben, daß man den Frieden für die Menschheit wolle, daß man für den Frieden kämpfe, wenn man die Möglichkeit, diesen Frieden zu erlangen - und zwar in verhältnismäßig kürzester Zeit zu erlangen -, nicht ergreift. Es wäre niemand, nicht einmal dem Scheine nach -dem Scheine nach sage ich -verpflichtet, an ein Quentchen Aufrichtigkeit in all jenen Deklamationen zu glauben, die vom Frieden oder gar vom Recht der Völker sich hören lassen, wenn die Dinge so verlaufen würden, wie es nach den Zeitungsstimmen sich ausnimmt, die freilich für einen ernsten Beobachter heute nicht mehr in Betracht kommen. Aber die Welt wird ja in der nächsten Zeit Gelegenheit haben, weiteres zu hören, und sie wird sich entschließen müssen, entweder mit vollem Bewußtsein die Deklamationen von einem Willen zum Frieden in unrichtiger, in unwahrhaftiger Weise



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aufzunehmen und sie weiter noch irgendwie erheblich zu finden oder sich zur Wahrheit zu wenden. Aber wir, meine lieben Freunde, stehen ja eben auf dem Boden der Erkenntnis, und deshalb brauchen wir diese Betrachtungen nicht zu unterbrechen. Wir suchen die Wahrheit, und die Wahrheit muß in allen Fällen das sein, was zu suchen ist. Deshalb kann sie niemals im Ernste schädlich sein oder schädlich wirken.

Ich will Ihnen nun heute einiges vor die Seele führen, was die Möglichkeit bieten kann, in mancher Richtung unser Urteil zu einem berechtigten zu machen. Ich möchte - und das werden Sie aus den verschiedenen Bemerkungen, die ich machte, wohl entnommen haben - nicht im geringsten weder den Standpunkt noch das Urteil von irgend jemandem beeinflussen, aber es handelt sich eben darum, sowohl den Tatsachen des physischen Planes wie den Tatsachen und Impulsen der geistigen Welt ruhig ins Auge zu schauen. Ich habe Ihnen schon vor einiger Zeit davon gesprochen, daß gewiß die Frage der Notwendigkeit im Weltengeschehen ins Auge gefaßt werden muß — selbst gegenüber den schmerzlichsten Ereignissen. Aber Anthroposophie wird uns niemals zu Fatalisten machen, wird uns niemals dazu bringen können, von der Notwendigkeit so zu sprechen, daß wir einfach sagen, man habe sich in diese Notwendigkeiten zu fügen wie in ein Fatum. Man wird die Frage aufwerfen können: Mußten denn diese schmerzlichen Ereignisse kommen, die da gekommen sind? Selbst für den Fall, daß man - es sei als Hypothese angenommen - sich gedrängt fühlen müßte zu sagen: Ja, sie sind notwendig gewesen -, selbst für diesen Fall kann es sich nicht darum handeln, sich einfach fatalistisch in diese Notwendigkeit zu fügen. Was ich damit meine, möchte ich zunächst einmal durch einen Vergleich klarmachen.

Nehmen wir einmal an, zwei Menschen stritten sich darüber, wie es denn auf einem bestimmten Gebiete mit der Ernte des nächsten Jahres sein würde. Nun ja, da könnte jemand kommen und sagen: Diese Ernte hängt von den Naturnotwendigkeiten ab, man hat es mit einer äußeren Notwendigkeit zu tun. — Und er könnte sehr schön alle Notwendigkeiten aufzählen: das Wetter und die sonstigen Bedingungen, die mehr oder weniger von dem menschlichen Willen



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unabhängig sind. Schön, gut! Der andere könnte aber sagen: Du hast recht, das mag ja alles bestehen, aber es handelt sich vor allen Dingen darum, die Frage soweit praktisch ins Auge zu fassen, als sie unser praktisches Mittun erfordert. Und da kommt es mir eigentlich viel weniger darauf an, jetzt über das Wetter, über diese oder jene Dinge zu sprechen, sondern es kommt mir darauf an, daß ich, der ich beteiligt bin und beteiligt sein will an der Ernte des nächsten Jahres, den besten Samen ausstreue, den ich finden kann. Und wie auch die andern Faktoren sein mögen - es ist an mir, den besten Samen auszustreuen, und ich werde mich bemühen, es zu tun. —Der erste Mann mag Fatalist sein, der zweite wird die Grundlage für seinen Fatalismus nicht ableugnen, aber er wird alles tun, um den rechten Samen auszustreuen. Und so handelt es sich denn auch für jeden Menschen, der einsichtig sein will, vor allen Dingen darum, die Möglichkeit zu finden, den rechten Samen auszustreuen.

Nun bedeutet natürlich für die geistige Entwicklung der Menschheit dieses Wort «den rechten Samen ausstreuen» etwas viel Komplizierteres als für den Vergleich, den ich eben angeführt habe, denn es wird sich darum handeln, nicht bloß ein paar abstrakte Grundsätze geltend zu machen, sondern aus den Bedingungen der Menschheitsentwicklung heraus in richtiger Weise zu erkennen, was für diese Menschheitsentwicklung gerade im gegenwärtigen Zeitpunkte notwendig ist. Wie auch das Wetter des nächsten Jahres sein mag, was auch für Hindernisse oder ungünstige Bedingungen eintreten mögen - wenn der zweite seinen Samen nicht ausstreut, dann wird ganz gewiß keine Ernte kommen, nicht einmal eine schlechte! Und so handelt es sich darum einzusehen, daß in der Gegenwart gewisse Bedingungen zu schaffen notwendig sind, gegen welche sich der größte, der weitaus größte Teil der Menschen heute noch sträubt -Bedingungen, die der Menschheitsentwicklung einverleibt werden müssen, damit eine gedeihliche, heilsame Entwicklung in der Zukunft geschehen könne. Und es handelt sich darum einzusehen, daß vor allen Dingen die Menschheit gegenwärtig in einer solchen Entwicklungsphase ist, daß es ihr innerhalb gewisser Grenzen selbst überlassen ist, mit ihren Irrtümern zurechtzukommen.



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Das war in früheren Zeiten nicht so, meine lieben Freunde - in früheren Zeiten bis zu dem fünften nachatlantischen Zeitraum hinauf, als die Erdenmenschen, wenigstens zu einem großen Teil, dazu gebracht wurden, sich ihrer Freiheit völlig bewußt zu werden; vorher griffen göttlich-geistige Mächte direkt in die Erdenentwicklung ein, und sie griffen so ein, daß dieses Eingreifen der göttlich-geistigen Mächte von den Menschen auch empfunden wurde. Das war deutlich wahrzunehmen. Und es kommt heute darauf an, die Menschheit auf die Notwendigkeit hinzuweisen, zu gewissen Einsichten zu kommen, vor allen Dingen dazu zu kommen, über gewisse Dinge ein gesundes, ein mit den Entwicklungsbedingungen der Menschheit zusammenstimmendes Urteil zu haben. Daß ein Sich-Sträuben gegen dieses Urteil vorhanden ist, gehört zu den tieferen Veranlassungen der gegenwärtigen schmerzlichen Ereignisse.

Gewiß, wir werden in diesen Tagen auch über die Frage zu sprechen haben, warum die Menschheit sich nicht vor einem Jahrhundert spirituelleren Tendenzen zugewendet hat, denn hätte sie das getan, so wäre ganz gewiß die heutige schmerzliche Lage nicht eingetreten. Aber diese Frage wollen wir für heute noch ein wenig vertagen und sie uns vielleicht morgen oder übermorgen vorlegen. Vor allen Dingen wollen wir daran festhalten, daß die schmerzlichen Ereignisse zum großen Teil aus dem Zurückweisen des Zusammenhanges mit der spirituellen Welt entstanden sind. Man mag daher die heutigen Zeitereignisse ein Karma des Materialismus nennen, aber man muß dann dieses Wort vom Karma des Materialismus nicht wiederum als Phrase nehmen, sondern man muß es in der richtigen Weise verstehen. Einsichten, die tief notwendig wären, sie sind in den Zeiten, die wir mehr oder weniger schon durchlebt haben, also in den letzten Jahrzehnten des 19. und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, nur ganz sporadisch aufgetreten, nur da oder dort aufgetreten. Gewiß, es sind einige Einsichten - und auf Einsichten kommt vieles an -, es sind einige Einsichten in die Menschheit geworfen worden, und man hat auch versucht, diese so in die Menschheit zu werfen, daß schließlich eine größere Anzahl von Menschen hätte davon erfaßt werden können. Aber es gibt gegenwärtig - aus Gründen, die



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eben später erwähnt werden können -noch ein ungeheures Sträuben in der Menschheit gegen jedwede mögliche höhere, auf spiritueller Grundlage ruhende Einsicht.

So ist vor Jahren eine gewisse Schrift erschienen. Sie können sagen: Eine Schrift ist erschienen? Na, es erscheinen viele Schriften, was hat das denn für eine Bedeutung? Höchstens eine theoretische Bedeutung kann es haben, wenn eine Schrift erscheint - sie kann der Belehrung dienen -, denn davon, daß die Menschen dieses oder jenes lesen, kann das Heil der Welt nicht abhängen. —Dennoch hängt viel mehr, als man glaubt, davon ab, ob gewisse Ideen, gewisse Einsichten sich verbreiten -gerade wenn Sie noch einmal in Ihrer Seele überschauen, was ich in den letzten zwei, drei Vorträgen gesagt habe, so werden Sie das selber zugeben können. Ein Buch, sagte ich, ist erschienen, und der Verfasser dieses Buches ist Brooks Adams; es ist vor Jahren in Amerika erschienen. Damals schien mir dieses Buch als eine der bedeutsamsten Manifestationen neuerer Menscheneinsicht, wenn auch die Art, wie dieses Buch in die Welt geschickt worden ist, dadurch verdorben wurde, daß einer der allergrößten Phraseure der Gegenwart, nämlich der Expräsident Roosevelt, die Vorrede dazu geschrieben hat. Aber es bleibt doch bestehen, daß die Ideen dieses Buches von Brooks Adams im weitesten Sinne hätten aufklärend wirken können. Für das europäische Geistesleben kam auch noch in Betracht, daß zum Beispiel die deutsche Übersetzung dieses Buches von Brooks Adams in einem Verlage erschienen ist, von dem man wußte, daß er im Dienste ganz bestimmter geistiger Richtungen steht - geistiger Richtungen, die der unsrigen, der anthroposophischen, ganz entschieden feindlich und abträglich sind. Aber darauf kommt es nicht an, sondern es handelt sich immer darum, ein Empfinden dafür zu haben, daß es von Bedeutung ist, wenn, ich möchte sagen gewisse Ideen unter solcher Flagge entsprechend in die Welt gesetzt werden. Denn es ist ein Unterschied, ob ein Buch, sagen wir im Cotta'schen Verlage herausgegeben wird -einem angesehenen, vornehmen Verlage, der eben einfach Bücher erscheinen läßt -, oder ob ein Buch wie das angeführte in einem Verlage erscheint, in dem sonst Schriften im Dienste einer ganz besonderen Gesellschaft herausgegeben werden.



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Das ist ein großer Unterschied, ob man es nur mit Literatur oder ob man es mit gewollten Impulsen zu tun hat - das ist ein großer Unterschied!

Was enthält nun dieses Buch von Brooks Adams? Ich will Ihnen nur die Hauptideen entwickeln. Die Hauptideen werden in einer, ich möchte sogar sagen dilettantischen Weise - soweit man sie eben in ihrer Tragweite in Amerika erkennen konnte - ganz allgemein und abstrakt entwickelt. Aber zunächst ist es doch wichtig zu wissen, daß man von einer Stelle aus gewissermaßen versuchsweise solch einen «Vogel auffliegen» läßt. Die Ideen, die in diesem Buch entwickelt werden, sind etwa diese: Es gibt in der Welt verschiedene Völker, die durch lange Zeiten hindurch in Entwicklung begriffen sind. Man kann in der Entwicklung dieser Völker Aufgang und Niedergang verfolgen: sie werden geboren, sie machen ein Säuglingsalter, eine Jugendperiode durch, eine Periode des reifen Alters, ein Greisenleben, und sie gehen wieder zugrunde. Das ist natürlich zunächst keine tiefe Wahrheit, sondern nur ein Gerippe, aber was der Brooks Adams für diese Entwicklung der Völker als Gesetze entwickelt, das ist nun schon von einem gewissen Gewicht. So sagt er: Man kann beobachten, daß die Völker in der Regel in ihrer Jugend, wenn sie noch jugendliche Völker sind, mit Notwendigkeit zwei zusammengehörige Anlagen entwickeln. — Wenn man nun überhaupt eingehen will auf solche Ideen wie diese von Brooks Adams, so muß man natürlich Völker als solche von den einzelnen menschlichen Individuen, die zu den Völkern gehören, streng trennen und darf auch den Staatsbegriff nicht mit dem Volksbegriff verwechseln.

Gewisse Eigenschaften schreibt Brooks Adams also einer ganz bestimmten Entwicklungsperiode der Völker zu, und diese Eigenschaften gehören nach seiner Anschauung zusammen. So sagt er: Gewisse Völker haben in ihrem Jugendzeitalter erstens eine Anlage zur Imagination, das heißt, sie haben die Anlage, sich Vorstellungen zu bilden, welche vorzugsweise aus dem Inneren geschöpft sind, welche der produktiven Imagination ihren Ursprung verdanken -nicht der Überlegung, nicht dem, was man heute Wissenschaft nennt, sondern der schöpferischen Innenkraft des Menschen. —Solche Völker, meint



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Brooks Adams -ich referiere jetzt nur -, haben eine andere Eigenschaft, die notwendig damit verbunden ist, das heißt, diese Völker sind kriegerisch. Und untrennbar seien bei diesen Völkern von imaginativer Natur die Eigenschaften der Imagination und die kriegerischen Anlagen. Das hält er für ein Naturgesetz des geistigen Lebens dieser Völker. So ist für ihn zunächst gleichsam ein Typus von Völkern vorhanden: das sind die imaginativen und kriegerischen Völker.

Es gibt für ihn aber noch einen anderen Typus von Völkern. Das sind diejenigen Völker, bei denen nicht mehr die Imagination vorherrscht, sondern die Imagination ist zu dem geworden, was man kühles, wissenschaftliches Urteil nennt. Solche Völker, welche ein kühles, wissenschaftliches Urteil haben, sind durch ihre eigene Natur nicht kriegerisch, sondern industriell und kommerziell. Und diese beiden Eigenschaften -nicht von Menschen, sondern von Völkern -, diese beiden Eigenschaften, insofern sie als Volkseigenschaften auftreten, gehören zusammen: wissenschaftlich und kommerziell - schließlich ist das Industrielle nur die Grundlage des Kommerziellen. Also auf der einen Seite wissenschaftlich-kommerziell, auf der andern Seite imaginativ-kriegerisch.

Ich will diese Ideen vorläufig nicht kritisieren, sondern ich will nur erwähnen, daß sich hier, wenn auch in dilettantischer Weise, ein Urteil geltend macht, welches vor Jahren aus Amerika gewissermaßen «aufflatterte» und das besagt: Hütet Euch zu glauben, Ihr könntet die Menschheit oder, sagen wir besser die menschlichen Stiefel über jeden beliebigen Leisten schlagen. Glaubt nicht, Ihr könnt beliebige Ideale aufstellen. Beachtet wohl, daß man nur von dem reden darf, was in der Evolution begründet ist, und daß man einem Volke, wie zum Beispiel dem slawischen, welches imaginativen Charakter hat, nicht zumuten soll, unkriegerisch zu sein. Wer das Buch von Brooks Adams aufmerksam liest, der wird gerade auf das letzte Beispiel besonders hingewiesen.

Und man soll auch nicht nach dem äußeren Schein urteilen, sondern nach den inneren Werten, nach den inneren Affinitäten. Dilettantisch ist das Buch schon aus dem Grunde, meine lieben Freunde, weil eine solche Erkenntnis, wenn sie überhaupt ausgesprochen



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wird, nur ausgesprochen werden darf auf der Grundlage spiritueller Einsichten. Solange man aber nicht spirituelle Einsichten hat, werden Urteile über die Evolution der Menschheit, bei der spirituelle Mächte mitwirken, selbstverständlich immer einseitig sein, denn man wird vor allen Dingen eine große Wahrheit ausschließen -die große Wahrheit, daß man innerhalb der Maja steht, insofern man es auf dem physischen Plan mit den Ereignissen, aber auch mit dem Willen der Menschen zu tun hat. Nun, sobald man die Maja nicht als Maja behandelt, muß man, meine lieben Freunde, Irrtümern verfallen; man muß immer Irrtümern verfallen, wenn man die Maja als eine Wirklichkeit behandelt. Und als eine Wirklichkeit behandelt man die Maja aber meistens schon dadurch, daß man auf das Werden innerhalb der Maja und auf das, was dem Werden ähnlich ist, nicht die richtige Aufmerksamkeit wendet. Wieso?

Nun, nicht wahr, es wäre sehr schön, wenn es nicht ein Unsinn wäre, immer Frühling zu haben, immer blühende Pflanzen, immer sprossendes und sprießendes Leben zu haben. Und es könnte irgend jemand sagen: Warum haben es denn die Schöpfer der Welt nicht so eingerichtet, daß immer sprießendes, sprossendes Leben da ist? Warum müssen denn die schönen Tulpen, Lilien, Rosen abwelken und verfaulen? —Sehr einfach, nicht wahr: Damit sie wieder blühen können, deshalb müssen sie auch abwelken und verfaulen! —Insofern wir auf dem physischen Plan stehen, müssen wir uns klar sein, daß das eine ohne das andere nicht sein kann, ja, daß das eine um des andern willen da ist und daß der Goethe'sche Satz eine tiefe Wahrheit hat, die Natur habe den Tod erzeugt, um viel Leben zu haben. Weil die physische Welt die Maja ist, gibt es, solange man innerhalb der physischen Welt bleibt, keinen Ausgleich, sondern nur in dem Augenblicke gibt es einen Ausgleich, wenn man sich von der physischen zu der spirituellen Welt erheben kann. Dann wird dieser Ausgleich sich allerdings anders ausnehmen, als man glaubt, solange man die physische Welt für eine Wirklichkeit hält. Das heißt, es gibt eine Notwendigkeit, sich mit den Gesetzen der Maja bekannt zu machen und zu lernen, daß innerhalb der Maja nirgends ein Ausgleich gefunden werden kann, nicht durch Menschen und nicht durch andere Wesen,



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wenn nicht in die Maja dasjenige verwoben wird, was außerhalb der Maja liegt, was in der geistigen Wirklichkeit liegt.

Daher handelt es sich vor allen Dingen immer darum, die Maja als Maja kennenzulernen -kennenzulernen, wie sich die Dinge innerhalb der Maja verhalten, wo dem Aufblühen, dem Aufsprossen, dem Aufsprießen das Abwelken beigesellt sein muß. Der Natur gegenüber wird das jeder leicht zugeben können; er ist geneigt, weil man eben in der Natur mit der Nase darauf gestoßen wird, diese Tatsache anzuerkennen. So wird jeder leicht zur Einsicht zu bringen sein: Im Sommer oder im Herbst 1917 kann nur das zu Früchten reifen, was in der entsprechenden vorjährigen Aussaatperiode gesät worden ist. Hat man schlechte Samen gesät, können nur schlechte Früchte geerntet werden - ganz selbstverständlich. Und deshalb wird man geneigt sein, auf die Aussaat zu sehen, und wird sich in diesem Falle nicht so leicht von der Maja umgaukeln lassen wie auf einem andern Gebiete des menschlichen Lebens, wo die Dinge getrübt auftreten. Denn, sehen Sie, weist man zu irgendeiner Zeit in einer ähnlichen Weise auf so etwas hin, was im Völkerleben das Gleiche wie die schlechte Aussaat für das jährliche Reifen der Früchte bedeutet, ja, so stößt man sogleich auf Vorurteile. Und diese sind im Kaliber etwa dem gleich, was vorliegt, wenn ich einem Menschen sage: Na ja, du darfst dich nicht wundern, wenn du heute Schlechtes erntest, denn siehe einmal deine Aussaat an -, und er mir dann sofort sagt: Was? Das ist meine Aussaat, und wenn du über die Aussaat des vorigen Jahres irgend etwas sagst, dann triffst du mich. — Ich will ihn aber gar nicht treffen, denn er kann höchst unschuldig an der Aussaat sein. Es handelt sich gar nicht darum, jemanden persönlich zu treffen, sondern darum, objektiv den Tatbestand zu konstatieren. Es kann sich mir gar nicht darum handeln, irgendwie zu urteilen über den Zusammenhang zwischen ihm und seiner Aussaat - das mag seine Sache sein, das überlasse ich ihm ganz. Aber für die objektive Erkenntnis kann es sich darum handeln, die Aussaat wirklich zu prüfen und hinzusehen auf das, worum es sich tatsächlich handelt. Bleibt man dabei objektiv, so wird es vielleicht auch dem, der selbst an dieser Aussaat beteiligt war, von Nutzen sein, sofern ihn nicht



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ein anderer -ja, wie sagt man? —«übers Ohr gehauen» hat; er wird vielleicht sogar recht viel Nutzen daraus ziehen können, wenn man ihm den Zusammenhang zwischen Ernte und Aussaat klarmacht. Dieses möchte ich nur sagen, um Sie darauf hinzuweisen, daß es darauf ankommt, die Gedanken in die richtige Richtung zu lenken, in der richtigen Art zu suchen.

Und nun möchte ich, nachdem ich dies vorausgeschickt habe, etwas anführen - aus zwei verschiedenen Gründen, wie Sie gleich oder doch etwas später sehen werden. Ich habe im Verlaufe der hier in der letzten Zeit gehaltenen Betrachtungen aufmerksam gemacht auf einen König von England, der für England in bezug auf die religiöse Entwicklung auf dem Felde der Maja eine große Rolle spielte -gerade auf dem Felde der Maja eine große Rolle spielte: Heinrich VIII. Sie wissen, er hatte eine große Praxis im Sich-Entledigen seiner Frauen - er hatte es ja zu einer großen Anzahl von Frauen gebracht. Er hatte aber auch, na, sagen wir die Courage, sich vom Papste loszusagen, weil der Papst eine seiner Ehen nicht trennen wollte. Und aus diesem Grunde, weil der Papst eine seiner Ehen nicht trennen wollte, hatte dieser Heinrich VIII. die Courage, ganz England, soweit es von ihm abhing, eine neue Religion zu geben. Na ja, darüber haben wir also schon gesprochen.

Nun lebte während der Regierung Heinrichs VIII. —darauf habe ich auch schon aufmerksam gemacht -Thomas Morus, der große, bedeutende Thomas Morus. Er war ein Mann, der es in der damaligen Zeit - Thomas Morus lebte in der Wende vom 15. ins 16. Jahrhundert -, in bezug auf die Geistigkeit zu jener Höhe brachte, auf der wir zum Beispiel auch den wunderbaren Pico della Mirandola finden und ähnliche bedeutende Persönlichkeiten. Dieser Thomas Morus war also ein erleuchteter Geist. Er hat es, trotzdem er ein erleuchteter Geist war, zum Staatskanzler Heinrichs VIII. gebracht, und er verachtete Heinrich VIII. nicht. Ich werde Ihnen gleich nachher den Beweis erbringen, daß er Heinrich VIII. nicht so ohne weiteres verachtet hat, weil er schon ein Geist war, der aus seinem Instinkte heraus - aus seinem erleuchteten Instinkte heraus - die Maja als Maja zu nehmen in der Lage war. Nun, Thomas Morus war aber zugleich



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ein frommer Mann wie Pico della Mirandola, ein aufrichtig frommer Mann, nicht solch ein frommer Mann wie Heinrich VIII., auch nicht wie der Papst es war, aber ein aufrichtiger, ein ernsthaft frommer Mann. Und von seinem Gesichtspunkte aus lehnte er auch alle Reformationsversuche und alle reformatorischen Impulse, die ja in der damaligen Zeit schon aufgeleuchtet hatten, ab. Thomas Morus war in einer gewissen Beziehung ein treuer Sohn der katholischen Kirche, und er war nicht geneigt, mit dem König mitzugehen, wenn er auch aller Ehren teilhaftig geworden wäre, er war nicht geneigt mitzugehen, trotzdem er sogar Staatskanzler geworden war. Er war dennoch nicht geneigt, sich einfach deshalb einer anderen Religion anzuschließen, weil Heinrich VIII. eine andere Frau wollte. Deshalb wurde er nicht nur abgesetzt, sondern auch zum Tode verurteilt. Und die Akten dieses Prozesses, in dem er zum Tode verurteilt wurde - sie sind außerordentlich interessant und, meine lieben Freunde, sehr bezeichnend für die damalige Zeit. Wenn man das Gerichtsurteil liest, mit dem Thomas Morus zum Tode verurteilt worden ist, so hat es einen merkwürdigen Wortlaut -einen wirklich merkwürdigen Wortlaut; dieser Wortlaut stimmt bis zu dem Grade, in dem man so etwas vollzieht, überein mit etwas anderem.

Die meisten von Ihnen werden es wissen, denn das steht längst alles in profanen Büchern, daß in den gebräuchlichen Freimaurerorden das Aufsteigen durch die Grade mit gewissen Formeln verbunden ist und daß in diesen Formeln auch die Angabe der Todesart enthalten ist, die denjenigen treffen soll, der das entsprechende Geheimnis dieses Grades nicht wahrt. Da wird ihm gesagt, daß er unter diesen oder jenen Umständen eines furchtbaren Todes zu sterben habe, in einem bestimmten Grade zum Beispiel, daß ihm der Leib aufzuschneiden sei und seine Asche in alle Winde, nach allen vier Weltgegenden, zerstreut werden solle. Wie gesagt, diese Dinge sind ja heute schon Gegenstand zahlreicher profaner Schriften geworden. Das über Thomas Morus gefällte Urteil stimmt nun durchaus mit einer bestimmten Gradformel überein: Er sollte auf unmenschliche Weise vom Leben zum Tode befördert werden. Aber damit wollte man sich nicht begnügen, man wollte auch seinen Leichnam in so



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viele Stücke zerteilen, als es Weltgegenden gibt, und die Teile in die verschiedenen Weltgegenden zerstreuen. Zu einem gewissen Teil ist das Urteil auch so vollstreckt worden.

Nun bedenken Sie, daß wir mit diesem Ereignis immerhin -Thomas Morus ist in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts geboren, in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts stirbt er -, im Beginne der fünften nachatlantischen Periode stehen. Die Frage aber, meine lieben Freunde, darf gestattet sein: Hat Thomas Morus sonst nichts getan, als daß er einfach den Suprematseid nicht geschworen hat, das heißt wollte er bloß nicht anerkennen, daß nun die englische Kirche vom Papst unabhängig zu sein habe und anzunehmen habe, was Heinrich VIII. verhängt? Hatte er nicht auch anderes getan? Nun wollen wir seine bedeutendste Tat ins Auge fassen -eine Tat, die auch heute noch die allergrößte Bedeutung haben kann für den, der sie ordentlich ins Auge faßt. Thomas Morus hat das Buch «Utopia» geschrieben - «Über die beste Art des Staates und die neue Insel Utopia». Dieses Buch handelt in seinem Hauptteil von den Einrichtungen der Insel Utopia, also über das Land «an keinem Ort», man könnte sagen über das «Nirgend-Land». Aber wer das Buch von Thomas Morus im richtigen Sinne liest, der wird sehen, daß es dem Thomas Morus auf die «Utopia» viel mehr ankommt als auf irgendein Land der äußeren physischen Wirklichkeit. Freilich, wenn man in dem Sinne töricht ist, daß man bei einem Mann wie Thomas Morus voraussetzt, er habe seine «Utopia» einfach geschrieben, um irgend etwas aus der Phantasie heraus zu dichten - mit anderen Worten, wenn man so über die Utopisten redet wie diejenigen, die sich besonders gescheit dünken, dann darf Thomas Morus nicht zu den Utopisten gerechnet werden, denn er wollte natürlich nicht bloß irgendein Phantasiegebilde vor die Menschen hinstellen, sondern er hat - so wie das in seiner Zeit möglich war -viel mehr mit einer solchen Sache sagen wollen. Der Hauptteil des Buches handelt von «Utopia», aber das Buch hat eine Einleitung, und diese Einleitung enthält ganz Mannigfaltiges; sie enthält auch, ich möchte sagen die Aufschlüsse darüber, warum Thomas Morus das Buch über die Insel Utopia geschrieben hat. Er erzählt darin ungefähr folgendes.



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Er sagt - und das ist eine wichtige Stelle, auf die ich Sie doch aufmerksam machen möchte, damit Sie sehen, daß er Heinrich VIII. nicht verachtet hat -, er beginnt ja gleich so:

Heinrich VIII., der unüberwindliche König von England, ein Fürst von seltenem und überlegenem Geiste, hatte vor nicht langer Zeit einen Zwist von gewisser Bedeutung mit dem durchlauchtigen Karl Prinzen von Kastilien. Ich wurde damals mit der Mission, diese Angelegenheiten zu ordnen und möglichst ins Reine zu bringen, als Gesandter nach Flandern geschickt.

Nun ja, bei dieser Gelegenheit, da er als Gesandter in Angelegenheiten Heinrichs VIII., den er einen erleuchteten und großen König nennt, nach Flandern geschickt wird, lernt er einen Mann kennen, den er - wie er erzählt - außerordentlich gescheit findet, geistig außerordentlich bedeutend findet, so daß er, [das heißt eigentlich sein Freund], den Mann fragt: Ja, wenn Sie so viele ausgezeichnete Dinge wissen und richtig beurteilen können, wie es der Fall ist bei Ihnen, warum stellen Sie Ihre Einsichten nicht in den Dienst dieses oder jenes Fürsten? —Thomas Morus meint nämlich, daß diejenigen, die im Dienste eines Fürsten stehen, zumeist nicht sehr erleuchtete Menschen sind und daß außerordentlich viel Gutes und Günstiges in der Welt geschehen könnte, wenn sich so erleuchtete Menschen in den Dienst von Fürsten stellen würden. Da erwidert der betreffende Mann: Das würde alles nichts nützen, denn würde ich in irgendeinem Ministerium meine Ansichten vorbringen, dann würde ich nicht die andern gescheiter machen, sondern sie würden mich - es ist nicht mit diesen Worten erzählt, aber es steht wirklich so darinnen -sehr bald hinauswerfen; ich würde gar nichts nützen, wenn ich das täte. Und um gewissermaßen zu erhärten, daß dieser Mann tatsächlich gelebt hat, dem er von sich aus angeblich nicht Recht gibt, erzählt Thomas Morus noch das Folgende. Er sagt: Ich kam dann mit diesem Manne in einer Gesellschaft zusammen, da waren die verschiedensten Leute, und da erzählte denn dieser Mann auch, wie er einmal in einer andern Gesellschaft versucht habe, seine Ansichten zu entwickeln.



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Es handelt sich hier nicht bloß um eine Einleitung zu «Utopia», sondern Thomas Morus will vielmehr - und das ist das Kuriose - auf diese Weise eine Kritik des damaligen Englands geben, also des Englands von der Wende des 15. Jahrhunderts ins 16. Jahrhundert. Der englische Staatskanzler will also eine Kritik Englands geben. Wer nun so denkt wie Thomas Morus, gibt nicht eine Kritik eines Abstraktums, wenn er von England spricht, denn er weiß, daß das englische Volk etwas anderes ist als diejenigen, die in Betracht kommen, wenn man von der Konfiguration des englischen Staatswesens spricht - er weiß das ganz gut. Und er weiß, daß dieses Staatswesen auch nicht ein bloßes Abstraktum ist, sondern daß es gemacht wird von einzelnen; er weiß, daß man wirklich nicht das englische Volk kritisiert, wenn man die Handlungen dieser einzelnen kritisiert, von deren Konfigurationen aber alles abhängt, worauf es ankommt, wenn man vom englischen Staatswesen spricht. Thomas Morus nimmt also den besten, den bestmöglichen Ansatz, um konkret zu werden, denn es ist natürlich kein konkreter, sondern bloß ein unsinniger Ansatz, wenn man sagt: England ist so, Deutschland ist so, Italien ist so und so weiter -, denn damit redet man eigentlich in Wirklichkeit von nichts.

Nun läßt er diesen Mann, der wie gesagt ein gescheiter, erleuchteter Mensch war, in einer größeren Gesellschaft zusammenkommen mit einem andern Mann, der ein «ausgezeichneter» Jurist war -also das war, was so die Welt einen ausgezeichneten Juristen nennt -, und er läßt diese beiden, also den gescheiten Menschen und den nach dem Urteil der Welt ausgezeichneten Menschen, in eine Diskussion über die englische Jurisprudenz kommen. Nun, die englische Jurisprudenz war damals noch nicht so, wie die heutige ist, aber das tut ja nichts - wir stehen eben doch im Beginne des fünften nachatlantischen Zeitraums. Der gescheite Mensch fand, daß man außerordentlich töricht handle, wenn man gegen Diebe so vorgehe, wie man im damaligen England gegen Diebe vorging. Er fand, daß das gar nicht besonders gescheit sei. Überhaupt, die ganze Art und Weise, über den Diebstahl oder über ähnliches zu denken, fand er gar nicht besonders gescheit; der Mann, der Utopia gesehen hat und es später auch beschreibt, fand das gar nicht gescheit, was dazumal an Ansichten vorhanden



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war, wie man sich zum Beispiel einem Dieb gegenüber zu benehmen habe, denn er fand, daß man vor allen Dingen nachzuforschen habe, woher seine Motive kämen. Dem «ausgezeichneten» Juristen war das selbstverständlich eine vollständig unverständliche Sache. Aber nun wollen wir uns wirklich mit den Auseinandersetzungen dieses gescheiten Menschen -nicht des «ausgezeichneten» Menschen -ein klein wenig bekannt machen. Dieser gescheite Mensch sagt:

Eines Tages war ich bei diesem Prälaten zu Tisch. Der Zufall ließ mich dort auf einen Laien treffen, der jedoch in dem Rufe eines großen Rechtskundigen stand. Dieser Mensch überhäufte, ich weiß nicht zu welchem Zweck, die strenge Justiz gegen die Diebe mit Lobpreisungen. Mit großem Wohlbehagen erzählte er, wie man sie hier und dort zu Zwanzigen an einem und dem nämlichen Galgen aufknüpfte. «Und dennoch», fügte er hinzu, «welcher Übelstand! Von all diesen Spitzbuben entgehen kaum zwei oder drei dem Strick, und England liefert deren von allen Seiten neue.» Mit jener Ungezwungenheit der Rede, die ich dem Kardinal gegenüber beobachtete, sagte ich darauf: «Darin liegt nichts, worüber Sie sich wundern dürften.»

Also jetzt redet der gescheite Mensch.

«In dieser Beziehung ist der Tod eine ebenso ungerechte als unnütze Strafe. Um den Diebstahl zu bestrafen, ist sie zu grausam, und um ihn zu verhindern, zu schwach. Der einfache Diebstahl verdient den Galgen nicht, und die schrecklichste Buße wird denjenigen nicht vom Stehlen zurückschrecken, dem nur dies eine Mittel übrigbleibt, um nicht Hungers zu sterben. Hierin gleicht die Justiz Englands und mancher anderen Länder einem schlechten Lehrer, der seine Schüler lieber schlägt als unterrichtet. Man unterzieht die Diebe den schrecklichsten Martern. Wäre es nicht besser, allen Gliedern der Gesellschaft die Existenz zu sichern, damit niemand sich in die Notwendigkeit versetzt sähe, zuerst zu stehlen und dann vom Leben zum Tode gebracht zu werden?»

«Dafür ist von der Gesellschaft gesorgt», erwiderte mein Rechtskundiger, «die Industrie, der Ackerbau bieten dem Volke eine Menge von



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Existenzmitteln, aber es gibt Geschöpfe, die das Verbrechen der Arbeit vorziehen.»

«Jetzt sind Sie, wo ich Sie haben wollte!», erwiderte ich.

Der Gescheite spricht jetzt wieder:

«Von denjenigen, die mit Wunden bedeckt aus inneren oder auswärtigen Kriegen heimkehren, will ich gar nicht einmal reden, obgleich ich dazu wohl Grund hätte. Denn wie viele Soldaten verloren nicht in der Schlacht von Cornwallis oder in dem Feldzuge gegen Frankreich ein oder mehrere Glieder im Dienste des Königs und des Vaterlandes! Diese Unglücklichen waren zu schwach geworden, um ihr altes Handwerk fortzutreiben, und zu alt, um noch ein neues zu erlernen. Aber lassen wir das; wir leben nicht immer in Kriegszeiten. Werfen wir die Augen auf das, was täglich um uns her vorfällt.

Die vornehmste Ursache des öffentlichen Elends besteht in der übermäßigen Anzahl von Edeln, die sich, gleich müßigen Hornissen, von ihres Nächsten Schweiß und Arbeit nähren und die ihre Ländereien bebauen lassen, indem sie, um ihre Revenuen zu vermehren, ihre Pächter bis aufs Blut aussaugen; eine andere Ökonomie kennen sie nicht. Aber handelt es sich darum, sich ein Vergnügen zu verschaffen, so sind sie verschwenderisch bis zum Wahnsinn, und sollten sie dadurch an den Bettelstab geraten. Nicht minder beklagenswert ist es, daß sie ganze Scharen von müßigen Dienern, die nichts gelernt, wodurch sie sich ihre Existenz sichern könnten, in ihrem Gefolge haben.

Wenn diese Diener erkranken oder ihren Herrn durch den Tod verlieren, gibt man ihnen den Abschied, denn man will lieber Müßiggänger als Kranke ernähren, und häufig ist auch der Erbe des Verstorbenen nicht fähig, die ihm überkommene Dienerschaft fortzuhalten.

Nun sind diese Leute, wenn sie nicht das Herz haben zu stehlen, dem Hungertode ausgesetzt. In der Tat, was bleibt ihnen übrig? Während sie ein neues Unterkommen suchen, reiben sie ihre Gesundheit und ihre Kleider auf; und wenn die Krankheit sie gebleicht und die Zeit sie in Lumpen gehüllt hat, erschrickt man vor dem Gedanken, sie in Dienst zu nehmen. Selbst die Bauern fühlen sich dazu nicht gedrungen. Von einem Menschen,



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der sich von Jugend auf im Müßiggange und in Vergnügungen bewegt hat, der nur Säbel und Schild zu tragen, mit stolzem Auge auf die Nachbarschaft herabzusehen und alle Welt zu verachten gewohnt ist - von einem solchen Menschen wissen sie recht gut, daß er sich wenig dazu eignet, den Spaten und den Karst zu handhaben und im Dienste eines armen Landmanns um geringen Lohn und karge Nahrung getreulich zu arbeiten.»

«Gerade diese Menschenklasse ist es», ließ sich mein Gegner hierauf vernehmen, «die der Staat mit der größten Sorgfalt unterhalten und vervielfältigen muß. Bei ihnen findet man mehr Mut und geistige Tüchtigkeit als beim Handwerker und Ackersmann. Sie sind größer und stärker, und gehen sie zum Heere ab, so darf man, wenn eine Schlacht geliefert werden soll, gerade von ihnen am meisten erwarten.»

«Mit anderen Worten», erwiderte ich, [...]

—also jetzt kommt wieder der gescheite Mann -

[...] «um den Waffen Ruhm und Erfolg zu sichern, muß man die Diebe vervielfältigen. Denn für die letzteren bilden jene Müßiggänger eine unerschöpfliche Schule, und beim Licht betrachtet, sind Spitzbuben nicht die schlechtesten Soldaten, und Soldaten sind nicht die furchtsamsten Spitzbuben; es gibt viel Analoges zwischen diesen beiden Metiers. Unglücklicherweise leidet nicht England allein an dieser gesellschaftlichen Wunde; sie haftet fast an allen Nationen.

Eine noch weit gefährlichere Pest nagt an dem inneren Leben Frankreichs. Jeder Fußbreit Landes ist dort mit Truppen wie besät, die vom Staat in Regimenter verteilt und besoldet werden. Und dies geschieht in Friedenszeiten - wenn man anders Pausen, in welchen der Krieg kaum mehr als Atem schöpft, so nennen darf. Dies traurige System rechtfertigt man mit dem nämlichen Grunde, nach welchem es Ihnen notwendig scheint, Myriaden untätiger Diener zu unterhalten. Gewisse furchtsame und finstere Politiker sind der Ansicht gewesen, als erfordere die Sicherheit des Staats eine zahlreiche, starke, beständig unter den Waffen stehende und aus Veteranen zusammengesetzte Armee. Neulingen wagen sie sich nicht anzuvertrauen. Man sollte fast meinen, daß sie den Krieg nur deshalb erregten, um dem Soldaten das Exerzitium beizubringen und, wie



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Sallust sagt, um durch diese große Menschenschlächterei zu verhindern, daß sein Herz und seine Hand einschlafen.

Frankreich lernt auf seine Unkosten die Gefahr kennen, diese Art fleischfressender Tiere zu ernähren. Gleichwohl dürfte es seine Augen nur auf die Römer, die Karthaginenser und eine Menge anderer Völker des Altertums werfen. Was ist ihnen aus diesen ungeheueren und immer schlagfertigen Armeen erwachsen? Die Verwüstung ihrer Länder, die Zerstörung ihrer Städte, der Untergang ihres Reichs. Ja, wenn es den Franzosen noch genützt hätte, ihre Soldaten gleichsam schon als Säuglinge einzuexerzieren! Aber Frankreichs Veteranen haben mit den Neugeworbenen Englands zu tun gehabt, und ich weiß nicht, ob sie sich rühmen können, häufig die Oberhand behalten zu haben. Ich will über dieses Kapitel schweigen; es möchte den Anschein haben, als suchte ich denjenigen, die mir zuhören, zu schmeicheln.»

So der Staatskanzler Thomas Morus. Man sieht, daß man eigentlich heute von diesem Staatskanzler nur das abzuschreiben braucht, was er dazumal mit Bezug auf die Armeen Frankreichs gesagt hat, und Sie könnten damit die allerschönsten Sätze fabrizieren und sie den englischen Ministern vorlegen, um gegen den «preußischen Militarismus» zu wettern. Nur sind wir am Beginne des fünften nachatlantischen Zeitraums, und vielleicht könnte die Zusammenstellung der heutigen Redereien mit dem, was dazumal am Ausgangspunkt der Dinge lag, unangenehm berühren nach gewissen Richtungen hin!

Nun, sehen Sie, Thomas Morus läßt einen Menschen reden -meinetwillen können Sie sagen, daß er ihn fingiert -, er läßt einen Menschen reden, der versucht, den Dingen auf den Grund zu kommen, und zwar in einer Weise versucht, den Dingen auf den Grund zu kommen, die manchen Leuten unangenehm ist, selbst wenn die Dinge überhaupt nur angetippt werden. Aber er geht nun weiter und sagt:

«Von welcher Seite ich die Frage betrachten mag, diese unzählige Masse von müßigen Menschen scheint mir für das Land, selbst für den Fall eines Krieges, der sich übrigens immer vermeiden läßt, ohne Nutzen. Dem Frieden gereicht sie außerdem zu einer wahren Plage; und der Friede



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verdient wohl, daß man sich mit ihm ebenso angelegentlich beschäftigt als mit dem Kriege.

Aber der Herren- und Bedientenstand sind nicht die einzigen Ursachen der Diebereien, von welchen Sie heimgesucht werden. Es gibt eine andere, die ausschließlich Ihrer Insel eigentümlich ist.»

So sagt der Mann, der aus Utopia kommt und der seinen Zuhörern etwas beibringen möchte über die Eigentümlichkeiten dieses Staates.

«Und worin besteht diese?», fragte der Kardinal.

Also auch einer, der sich an der Unterhaltung beteiligt.

«In den unzähligen Schafherden, die heutigen Tages ganz England bedecken. Diese überall anderswo so sanften und genügsamen Tiere sind bei Ihnen so gefräßig und grausam, daß sie sich selbst an den Menschen vergreifen und sie von den Feldern, aus den Häusern und Dörfern ver-Jagen.

In der Tat, nach allen Punkten des Königreichs, wo man die feinste und kostbarste Wolle einsammelt, sieht man die Vornehmen, die Reichen und sogar sehr ehrwürdige Abbés hinzueilen, um sich das Terrain streitig zu machen. Ihre Renten, ihre Privilegien, die Revenuen ihrer Ländereien genügen diesen armen Leuten nicht; sie sind nicht zufrieden damit, in Untätigkeit und Vergnügungen zu leben, der Öffentlichkeit zur Last und dem Staat ohne Nutzen. In Umkreisen von vielen Meilen entfremden sie den Boden der Kultur, sie verwandeln ihn in Weiden, sie reißen Häuser und Dörfer nieder und verschonen nur die Kirchen - um Stallungen für ihre Hammel zu erhalten. Die bewohntesten und am besten kultivierten Stellen schaffen sie in Einöden um. Ohne Zweifel fürchten sie, daß es zu viele Gärten und Holzungen geben und daß es den wilden Tieren an Boden fehlen möchte.

So umzieht ein habsüchtiger Nimmersatt mehrere tausend Morgen Landes mit einer einzigen Ringmauer; rechtschaffene Landleute werden aus ihren Häusern verjagt, die einen durch Betrug, die andern durch Gewalt, die Glücklichsten durch eine Kettenreihe von Bedrückungen und Plackereien,



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wodurch sie gezwungen werden, ihre Besitztümer zu verkaufen. Und dann wandern diese Familien, die weniger reich als zahlreich sind - denn der Ackerbau verlangt viele Hände -über die Felder davon, Männer und Frauen, Witwen und Waisen, Väter und Mütter mit kleinen Kindern. Weinend fliehen die Unglücklichen das Dach, unter welchem sie geboren wurden, den Boden, der sie ernährte, und wissen nicht, wo sie eine Zufluchtsstätte suchen sollen. Um einen niedrigen Preis veräußern sie dann dasjenige, was sie von ihren Effekten haben mitnehmen können - Gegenstände, die schon an und für sich nur einen geringen Wert haben. Ist diese schwache Quelle erschöpft, was bleibt ihnen übrig? Der Diebstahl und später ein regelrechtes Gehängtwerden.

Vielleicht ziehen sie es vor, ihr Elend als Bettler fortzuschleppen. Aber dann zögert man nicht, sie als Vagabunden und Menschen ohne Heimat ins Gefängnis zu werfen. Und worin besteht gleichwohl ihr Verbrechen? Es besteht in nichts anderem, als daß sie niemand finden können, der ihnen Arbeit gäbe, obgleich sie nur diese auf das Eifrigste suchen. Wer wird sie auch beschäftigen können? Sie verstehen nur das Feld zu bebauen; es gibt also da, wo weder an Saat noch Ernte mehr zu denken ist, für sie nichts zu tun. Ein einziger Schaf- oder Kuhhirt genügt jetzt, um Ländereien abweiden zu lassen, deren Bestellung früher mehrere Hundert Arme erheischte.

Eine andere Folge dieses verderblichen Systems ist der in mehreren Gegenden sehr hohe Preis der Lebensmittel.

Aber das ist nicht alles. Seit der Vervielfältigung der Weideplätze hat eine pestartige Viehseuche eine unermeßliche Anzahl von Schafen getötet. Es scheint fast, als hätte der Himmel die unersättliche Habsucht ihrer Zusammenraffer durch diese schreckliche Sterblichkeit bestrafen wollen, die er gerechter gegen ihre eigenen Köpfe gekehrt hätte. Der Preis der Wolle ist demgemäß so hoch gestiegen, daß die unbemittelten Tucharbeiter gegenwärtig keine mehr kaufen können. Und da haben Sie abermals eine Masse von arbeitslosen Leuten. Es ist nicht zu leugnen, daß die Zahl der Schafe täglich in außerordentlichen Verhältnissen wächst; der Preis derselben ist aber nichtsdestoweniger deshalb um Nichts gesunken, weil der Wollhandel, wenngleich er kein gesetzliches Monopol ist, sich in der Tat ausschließlich in den Händen einiger reichen Sammler befindet, die



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nichts zum Verkaufe drängt und die daher nur mit den größten Vorteilen verkaufen.»

Nun, ich will diese Stelle nicht weiter vorlesen, meine lieben Freunde; ich will nur bemerken, daß Sie hier den Staatskanzler Thomas Morus, den Gesinnungsgenossen des Pico della Mirandola, eine herbe Kritik ausüben sehen durch den -meinetwillen fingierten -Menschen, der aus Utopia kommt, aber eine Kritik an etwas, was dazumal da war, was wirklich geschehen ist, denn dieses ist wirklich geschehen: daß über weite Gebiete hin die Leute von ihren Ländereien vertrieben worden sind, daß man jene, die mit ihren Händen den Boden bebauten, ausgetrieben hat und ihre Ländereien zu Stätten für die Schafherden der Grundbesitzer gemacht hat, die auf diese Weise eben durchaus den Ertrag der Wolle haben wollten. Daß es notwendig ist, an dieser Stelle einzugreifen, daß es solche Menschen gibt, welche die Leute von Land und Boden vertreiben, um diesen für Schafherden zu verwenden -das fand Thomas Morus notwendig zu sagen.

Und jene Menschen, meine lieben Freunde, die in objektiver Weise die Wirkungen mit ihren Ursachen verknüpfen, können jetzt auf dem physischen Plan verfolgen, wie die heutige Gestalt des englischen Staates innig zusammenhängt mit dem, was dazumal geschehen ist und was von Thomas Morus in dieser Weise kritisiert wird. Und wenn man dem nachgeht mit den Mitteln, die es schon auch gibt, meine lieben Freunde, dann wird man finden: Das englische Volk ist für vieles nicht verantwortlich, wofür das politische England sehr wohl verantwortlich ist. Aber diejenigen, die für das politische England verantwortlich sind, die sind die Nachfolger und bis zu einem gewissen Grade sogar die Blutsnachfolger derer, die hier von Thomas Morus kritisiert werden. Da ist eine kontinuierliche Entwicklung, die bis dahin zurückreicht. Und wenn man solche Dinge ins Auge faßt, dann wird man wissen und finden können, daß in solchen Reden wie derjenigen von Lord Rosebery, die ich Ihnen neulich angeführt habe, mit drinnenstecken die Stimmen derer, welche sich dazumal auf diese Weise das Erträgnis aus der Wolle verschafften. Man muß überall nach den objektiven Zusammenhängen suchen.



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Vor allen Dingen aber muß man den Anspruch machen, nicht in einer beliebigen Weise mißverstanden zu werden. Was heißt es denn, wenn jemand einem vorwirft: Du solltest zartfühlender sein, denn der Engländer muß so und so denken! —Darum handelt es sich gar nicht, sondern es handelt sich darum, daß gewisse Dinge in unserem jetzigen Leben zurückgehen auf gewisse Ursachen und daß man diese Ursachen an den rechten Stellen suchen muß. Die wirklich echten Nachkommen, ja die Blutsnachkommen derjenigen, die dazumal die Leute von Haus und Hof, von Grund und Boden vertrieben haben, um Schafherden zu halten statt die Äcker zu belassen -diese Leute und ihre Impulse zu verteidigen, hat gewiß niemand aus dem Grunde eine Veranlassung, weil er Engländer ist. Es handelt sich also darum, meine lieben Freunde, sich ein wenig bekannt zu machen mit den Gesetzen, mit denen man es eigentlich zu tun hat, und auf das hinzuschauen, was real in der Welt ist, und nicht zu schwätzen, diese Nation habe dieses oder jenes verschuldet.

Ich werde jetzt, nachdem ich versucht habe, Ihnen einen charakteristischen Zusammenhang zwischen etwas, was in der Gegenwart ist, und etwas, was in der Vergangenheit war, vor Augen zu führen, ich werde jetzt an einen ganz andern Punkt gehen, um dann die einzelnen Punkte zusammenzuführen. Ich werde Ihnen einige Tatsachen vorlegen, weil es sich wirklich darum handelt, meine lieben Freunde, daß Sie Unterlagen bekommen sollen für Ihre Urteile; ich werde Ihnen jetzt einige mehr äußere Tatsachen vorlegen.

Wenn wir das gegenwärtige Europa überschauen, mit Ausnahme des von Slawen bewohnten östlichen Teiles, so finden wir, daß ein großer Teil dieses Europas hervorgegangen ist aus dem, was man für das 8. und 9. Jahrhundert das Reich Karls des Großen nennt. Dieses Reich Karls des Großen -wir wollen es nicht weiter charakterisieren, wir wollen auch nicht darauf Rücksicht nehmen, daß sich heute die verschiedensten Menschen um Karl den Großen streiten, denn dieses Streiten um Karl den Großen hat wirklich fast so viel Sinn, als wenn sich drei Söhne um ihren Vater streiten und dabei alle drei das Recht haben, den einen ihren Vater zu nennen. Es ist doch sehr häufig der Fall, daß sich drei Menschen nicht um etwas streiten würden, wenn



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sie nicht einen gemeinsamen Vater hätten, denn dann fiele das Streitobjekt wahrscheinlich weg -nämlich die Erbschaft!

Aus dem Reiche Karls des Großen sind im wesentlichen drei Teilgebiete hervorgegangen: der westliche Teil, der nach verschiedenen Wechselfällen zum heutigen Frankreich wurde, ein östlicher Teil, der im wesentlichen zum heutigen Deutschland und Österreich führte, mit Ausnahme der slawischen und magyarischen Gebiete, und ein mittlerer Teil, der im wesentlichen zu dem heutigen Italien wurde. Im Grunde genommen haben alle drei Teile absolut das gleiche Recht, sich auf Karl den Großen zurückzuführen. Und manchmal kann es ja sogar von merkwürdigen Empfindungen abhängen, ob die Menschen sich auf Karl den Großen zurückführen lassen wollen oder nicht - wenn jemandem einfällt, wie viele Sachsen Karl der Große hat abschlachten lassen, so könnte es sein, daß er gar kein besonderes Gewicht darauf legt, sich auf Karl den Großen zurückgeführt zu finden! Nun, diese drei Gebiete gingen also aus dem Reiche Karls des Großen hervor. Wenn wir vieles von dem verstehen wollen, was heute geschieht, so müssen wir auch ins Auge fassen, daß zwischen dem eigentlichen mittleren Gebiete und dem östlichen Gebiete durch das ganze Mittelalter hindurch gewisse Beziehungen bestanden, welche idealer Natur waren - solche Beziehungen, wie man sie heute auf diesem Felde, wenn man nicht gewisse Phrasen für ernst nehmen will, überhaupt nicht mehr kennt, denn was schließlich dem Heiligen Römischen Reich zugrunde lag, das waren schon zum großen Teil ideale Gründe. Und wer es nicht glauben will, daß es ideale Gründe waren, der lese einmal die Schrift über die Monarchie von Dante oder unterrichte sich sonst über die Art und Weise, wie Dante über diese Dinge dachte. Und er nehme nur einmal Rücksicht, daß Dante es war, der zum Beispiel dem Rudolf von Habsburg vorwarf, daß er sich zu wenig um Italien kümmere, den «schönsten Garten des Reiches». Dante war -wenigstens in dem Teil seines Lebens, auf den es vor allem ankommt -, ein absoluter Anhänger jener Idealgemeinschaft, welche sich da begründet hatte und die Deutschland-Italien hieß.

Nun sehen wir die Republik Venedig vom 13., 14. Jahrhundert an sich gewissermaßen auflehnen gegen das, was vom Norden kam.



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Zwar verschlang Venedig das Patriarchat Aquileia, vor allen Dingen aber war es der Republik Venedig darauf angekommen, festen Fuß an der Adria, in den Küstengegenden der Adria, zu fassen. Nun, die Republik Venedig hatte viel Erfolg dazumal, und wir sehen, wie in der Tat dasjenige, was vom Norden kam, gerade unter dem Einflusse der Republik Venedig zurückgedrängt wurde. Dann kommt - ich habe es bei einer anderen Gelegenheit hier erörtert -das, was als die Renaissance bekannt ist, die gewissermaßen unter dem Eindrucke des Aufblühens der freien Städte auch in Italien groß wird. Dann kommt aber die Gegenreformation, die Politik, die von päpstlich-spanischer Seite ausgeht. Und wir sehen, daß man im Grunde genommen erst wiederum vom 18. Jahrhundert ab in Italien daran denken kann, sich zu erholen von jahrhundertelangen Schmerzen und Leiden. Und ich brauche nun nicht auszuführen - es kann das in jedem Geschichtswerk nachgelesen werden -, wie dann der Zeitpunkt heranrückte, in dem Italien unter dem Beifall der ganzen Welt seine Einigkeit fand. Und wer die Verhältnisse kennt, der weiß, daß nirgends mehr als in deutschen Gebieten - nun, vielleicht nirgends mehr kann man nicht sagen, aber jedenfalls ebensoviel als irgendwo sonst an Begeisterung für die Einigkeit Italiens aufgebracht worden ist.

Aber nun kann die Frage aufgeworfen werden: Wie ist denn die moderne Einheit Italiens zustande gekommen? Und diese Vereinigung Italiens, meine lieben Freunde, müssen wir als Beispiel ins Auge fassen - als ein besonders wichtiges Beispiel, wie die Einheit von Staaten zustande kommt. Und auf der andern Seite müssen wir den Zusammenhang verstehen lernen zwischen dem, was ich Ihnen vor acht Tagen oder letzten Sonntag über die Vorgänge in Serbien erzählt habe, und den Vorgängen in Italien, denn da gibt es Zusammenhänge, die für ein Verständnis der Verhältnisse von ungeheurer Wichtigkeit sind. Aber man muß zuerst ein wenig ins Auge fassen, wie das Staatsgefüge Italiens, das gewiß neidlos anzuerkennende Staatsgefüge Italiens, zustande gekommen ist.

Nicht wahr, man braucht da ja nur zurückzugehen bis zur Schlacht von Solferino, wo Frankreich auf der Seite von Italien stand und wo der erste Schritt gemacht wurde zu der späteren Gestaltung des



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modernen italienischen Staates. Da stehen wir also in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Und wir dürfen uns fragen: Wodurch ist es denn dazumal möglich geworden - denn die Sache stand ja wirklich recht sehr auf dem Spiele -, wodurch ist es denn dazumal möglich geworden? Lesen Sie die Geschichte, Sie werden das voll bewahrheitet finden, was ich Ihnen jetzt sage. Wodurch ist es denn möglich geworden, daß eben der erste Schritt auf dem Pfade des modernen Italiens durch Italien und Frankreich getan werden konnte bei Solferino? Dadurch, daß sich dazumal Preußen und Österreich - Österreich hatte ja nur zu verlieren -nicht vereinigen konnten! Was dann später geschehen ist, ist dem zu verdanken, daß Italien in Camillo Cavour einen wirklich großen Staatsmann hatte, in dessen Seele die Idee aufging, in Italien, von diesem Anfang ausgehend, etwas zu bewirken, was wie zu einer Art Wiederaufleben alter römischer Größe führen könnte. Aber die Sache nahm einen andern Verlauf, und ich möchte sagen, etwas Ähnliches, wenn auch vielleicht mit einer ganz anderen Note, etwas Ähnliches, wie wir es gesehen haben bei dem Übergange von dem edlen Serbenfürsten Michael Obrenovi~ zu den späteren serbischen Herrschern, finden wir bei dem Übergang von der großen Seele Camillo Cavours zu den Seelen der späteren Staatsmänner -einen Übergang, könnte man sagen, von einem Idealismus zu einem zunächst ziemlich äußerlichen Realismus. Ich kann die Dinge ja nur skizzieren.

Italien ging von Etappe zu Etappe. Bereits im Sommer 1871 konnte Viktor Emanuel in Rom einziehen. Was hat es ihm möglich gemacht? Die deutschen Siege über Frankreich! Francesco Crispi, ein italienischer Staatsmann der späteren Zeit, hat es selber gesagt, denn von ihm rührt der folgende Satz her: Italien ging nach Rom dank der deutschen Siege. —Frankreich hatte bei Solferino den ersten Anstoß dazu gegeben; daß aber Rom die Hauptstadt des Königreichs Italien wurde, ist auf die deutschen Siege über Frankreich zurückzuführen. Und nun entwickelt sich ein merkwürdiges Verhältnis zwischen Italien und Frankreich. Es ist interessant zu sehen, wie Italien in dem Maße, in dem es seine Einheit konsolidierte, in ein merkwürdiges Verhältnis zu Frankreich kam: Es wurde zugleich Gegner und Verbündeter.



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Und nun kommt in Betracht, daß Italien Staatsmänner hatte, die -das ist die reine Wahrheit -sehr viel auf die Tatsache gaben, daß Italien als Staatsgefüge von außen zusammengefügt worden ist und daß der letzte große Schritt zur Einheit eigentlich Deutschland zu verdanken ist. Diese Staatsmänner, die waren da. Sie sahen auch, daß dazumal ein mögliches Zusammengehen mit Frankreich für Italien nicht fruchtbar sein konnte. Aber dieser einen Strömung widersprach eine andere -diejenige, welche allmählich heraufkam und namentlich vom Jahre 1876 an stark wurde; es widersprach dieser ersten Strömung diejenige der frankophilen demokratisch-linken Partei. Und nun schaukelte dieses Staatswesen sozusagen zwischen seinem gefühlsmäßigen Hinneigen zu Frankreich und seinem mehr praktischen Hinneigen zu Mitteleuropa. Aber das Merkwürdige war, daß in alldem, was sich da ausbildete, die Sache immer so lag, daß die praktische Ausrichtung nach Mitteleuropa zum Ausschlaggebenden wurde -dasjenige, was real vorlag.

Nun kam eine neue Wendung in die ganze Sache, als Frankreich sich nach Tunis hinüber ausbreitete -Tunis hatte man ja immer als einen Ort betrachtet, der selbstverständlich zu Italien gehört. Nun fing Frankreich an, sich dort auszubreiten. Und da bekam die praktische Richtung in Italien Oberwasser -jene Richtung, welche sich nunmehr an Mitteleuropa anlehnte. Es ist zum Beispiel interessant, daß bei dem Berliner Kongreß der italienische Unterhändler fragte, warum Bismarck Frankreich das Anerbieten mache, sich ruhig in Afrika auszubreiten, ob er denn durchaus Italien in einen Krieg mit Frankreich verwickeln wolle. Jedenfalls war Italien für die damaligen italienischen Staatsmänner dadurch auf Deutschland angewiesen, und wie Bismarck das berühmte Wort gesprochen hat: Der Weg zu Deutschland führt über Wien -, so war Italien auch auf Österreich verwiesen, weshalb die alte Erbfeindschaft ad acta gelegt werden mußte, die Österreich als sein tragisches Geschick, möchte ich sagen, übernommen hatte. Denn mit alldem, was die Republik Venedig gemacht hatte, war eigentlich im Grunde genommen dasjenige aus Italien hinausgedrängt worden, was dann zu Deutschland ging; Österreich aber mußte das dann eben übernehmen -den Zug, der von Norden



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kam. Unter dem Einflusse des französischen Vorgehens in Nordafrika mußte die frankophile Richtung zurückstehen, und der Anschluß an Mitteleuropa wurde damals für Italien eine Selbstverständlichkeit.

Sie wissen, der Dreibund kam zustande -ich erwähne diese Dinge nur skizzenhaft, weil es ja schließlich nicht meine Aufgabe ist, Politik zu betreiben, aber gewisse Dinge muß man schon wissen, und sie werden heute leider viel zu wenig gewußt -, Sie wissen, 1882 kam der sogenannte Dreibund zustande. Und gewisse Menschen werden diesen Dreibund immer falsch beurteilen, weil sie sich nicht daran gewöhnen können, gültige Begriffe bei diesen Dingen anzuwenden. Es gibt ja wirklich Leute, die zum Beispiel die heutigen schmerzlichen Kriegsereignisse dem Dreibund zuschreiben und nicht dem sogenannten Dreiverband, der «Entente cordiale» oder wie das auch immer genannt wird. Aber sehen Sie, in solchen Dingen verwendet man nicht immer gültige Begriffe; überall sonst fragt man bei einem Ding, das zu etwas führen soll, ob es wirklich dazu führt und wie lange es taugt. Nun ist von denen, die am Dreibund beteiligt waren, immer gesagt worden, er sei zur Erhaltung des Friedens gemacht worden. Und er hat viele Jahrzehnte dazu getaugt, den Frieden zu erhalten, das heißt, er hat durch Jahrzehnte hindurch das gebracht, was man behauptete, wozu er bestimmt sei. Dann ist der Dreiverband gegründet worden, von dem man auch sagte «zur Erhaltung des Friedens». Aber es hat kein Jahrzehnt gebraucht - und der Friede war weg! Jedes andere Ding in der Welt, meine lieben Freunde, würde man nach dem beurteilen, was es hervorbringt; nur just in diesen Dingen läßt man sich nicht dazu herbei, ein objektives Urteil zu fällen. Schon nach fünf Jahren wurde jene geheime Sache eingefädelt, die die Möglichkeit gibt, die Alchemie jener Kugeln und Bomben genauer zu studieren, die, wie ich Ihnen neulich in verschiedenen Zusammenhängen sagte, in Sarajevo gebraucht worden sind, um jenes Attentat zustande zu bringen. Denn jenes Attentat vom Juni 1914, das hat ja [fast]nicht mißglücken können -sollten die einen Kugeln versagen, so sollten andere treffen! Es war dazumal wirklich in reichlichstem Maße dafür gesorgt, daß, selbst wenn das eine hätte versagen sollen, das andere nicht mißlungen wäre. Es war ein so wohldurchdachtes,



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man möchte sagen großangelegtes Attentat, wie überhaupt noch keines in der Weltgeschichte da war. Wenn man gewissermaßen die Alchemie dieser Kugeln studiert, so kommt man dazu, diese Dinge, die wir jetzt auf Wunsch unserer Freunde eben anführen, ein wenig zu durchschauen. Darauf werde ich noch zurückkommen.

Es wurde nämlich schon nach fünf Jahren in das ganze Dreibundverhältnis von Mitteleuropa etwas hineingemischt, das man so bezeichnen kann: Es ist ein gewisser Zusammenhang geschaffen worden zwischen jedem Ereignis, das in Italien vorgeht, und jedem Ereignis, das auf dem Balkan vorgeht. Es wurde danach gestrebt, daß nichts auf dem Balkan vorgehen könne, ohne daß irgend etwas Entsprechendes in Italien geschehe. Und es sollten die Volksleidenschaften so zusammenspielen, daß niemals eine einseitige Handlung vorgehen könne da oder dort, sondern daß da immer parallel gefühlt und gedacht werde. Es war ein inniger Zusammenhang zwischen den verschiedenen Impulsen auf der apenninischen und auf der Balkanhalbinsel durch die ganzen Jahrzehnte hindurch. Manchmal tritt einem eine solche Sache ungemein symbolisch entgegen -symbolisch schön, in bezug auf die Theorie schön, so wie der Arzt einen besonders schweren Krankheitsfall, weil er ihm die Gelegenheit zu einer guten Operation gibt, einen «schönen Fall» nennt, aber dieser braucht deshalb überhaupt nicht schön zu sein.

Wir waren einmal in Italien und besuchten in Rom einen Mann, der wirklich ein sehr netter, lieber Mensch war und ein sehr freundlicher Herr - er ist jetzt schon tot. Er führte uns in seinen Salon, und wir fanden bei diesem Herrn im Salon an ganz hervorragender Stelle die beiden Bilder von Draga Masin und Alexander Obrenovic, groß, mit eigenhändigen Widmungen der betreffenden Persönlichkeiten. Dieser Mann, um den es sich da handelte, war nicht nur ein ganz berühmter Professor, sondern er war auch einer der Arrangeure der sogenannten lateinischen Liga, [der «Lega Nazionale»], die sich mit den Vorbereitungen für die Abtrennung Südtirols und Triests von Österreich und ihrer Angliederung an Italien befaßt. Nun, meine lieben Freunde, ich will selbstverständlich nicht aus einem so unbedeutenden Erlebnis große Schlüsse ziehen, aber ich muß doch sa-



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gen: Symbolisch bedeutsam ist es, daß jemand, der eine lateinische Liga arrangiert, der mit dieser lateinischen Liga vorzugsweise auch die Studenten der Universität Innsbruck revolutioniert -ich urteile nicht, ich kritisiere nicht, sondern ich erzähle nur -, daß dieser Mann in seinem Salon, also da, wo es jeder sehen soll, die Bilder von Alexander Obrenovic und Draga Masin mit eigenhändigen Widmungen hängen hat. Da dieses in der Zeit war, in der mir sehr wohl die geheimnisvollen Fäden bekannt waren, die zwischen Rom und Belgrad bestehen, machte es auf mich eben einen gewissen symptomatischen Eindruck, denn man wird schon durch sein Karma mit dem in der Welt zusammengeführt, was einem wichtig ist, und wenn man die Dinge anzuschauen vermag in der rechten Weise und sie zu durchschauen vermag, dann sieht man schon, daß einem das Karma an die Stelle hinführt, wo man dasjenige zu «riechen» hat, was man «riechen» soll für seine Erkenntnis.

Nun verhielt es sich so, daß im Jahr 1888 es war eines der Jahre, die ebensogut wie das Jahr 1914 zum Weltkrieg hätten führen können -, daß im Jahr 1888 dadurch, daß Crispi zum Dreibund hielt, diese Krise verhindert worden ist. Diese Krise ist also dadurch verhindert worden, daß Crispi, der italienische Ministerpräsident, zum Dreibund hielt. Aber er hielt zum Dreibund nur aus dem Grunde, weil Frankreich in Nordafrika vorrückte und sich dort ausbreitete. Nun betrieb Frankreich damals eine Politik, von der Frankreich selber sagte, man wolle Italien, das sich von Frankreich abzuwenden beginne, «durch Hunger wiedererobern», das heißt, man versuchte eine Art von Handelskrieg gegen Italien zu führen - den berühmten Handelskrieg, der ja dazumal wirklich eine große Rolle spielte. Und die Folge dieses war, daß die praktischen Bande gerade zu Mitteleuropa immer enger geknüpft wurden. Und ich tue vielleicht gut, wenn ich dabei nicht irgendein Urteil aus Deutschland anführe, sondern das Urteil eines Franzosen, der sagte, das moderne Italien sei eine wirtschaftliche Organisation Deutschlands.

Das heißt also -das ist ja oftmals betont worden, nicht nur von Deutschen, sondern auch von andern -, vor der Gefahr, von Frankreich durch Hunger erobert zu werden, was ja nicht gerade eine



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angenehme Sache ist, wurde Italien dadurch gerettet, daß es in innigere wirtschaftliche Beziehung zu Deutschland trat. Das alles wirkte zusammen, um die Krise am Ende der achtziger Jahre in friedlichem Sinne zu lösen. Diese Krise Ende der achtziger Jahre in ihren Einzelheiten zu studieren, ist außerordentlich interessant, und zwar aus dem Grunde interessant, weil das Studium dieser Einzelheiten gerade demjenigen etwas Besonderes gibt, der geneigt ist, auf Zusammenhänge zu schauen und sich nicht blenden zu lassen. Ich habe es gemacht, und es ist außerordentlich interessant, es zu machen. Es geschahen im Jahre 1888 Ereignisse, bei denen ich folgendes gemacht habe: Ich bin hergegangen und habe für alles dasjenige, was dazumal 1888 geschehen ist, skizzenhaft eingesetzt «1914» —anstelle von «1888». Es ist dasselbe, genau dasselbe, meine lieben Freunde! So wie 1914 die große Pressehetze losgegangen ist, die von Petersburg inspiriert war und nach Deutschland herübergriff, geradeso war es 1888. Sowie 1914 ein Konflikt hervorgerufen werden sollte zwischen Deutschland und Österreich, so dazumal 1888. Kurz, in allen Einzelheiten sind die Dinge dieselben. Und interessant ist es, daß ich verschiedenen Leuten eine Rede vorlesen konnte, die dazumal im Jahre 1888 gehalten worden ist, in der ich nur statt «1888» fingiert «1914» eingesetzt habe, und jeder hat geglaubt, das, was dazumal im Jahre 1888 gesagt worden ist, beziehe sich auf 1914! Meine lieben Freunde, wenn solche Dinge möglich sind, dann wird man doch nicht von Zufälligkeiten sprechen, sondern man wird davon sprechen, daß da treibende Kräfte am Werke sind und daß System darin ist.

Nun, 1888 ging die Sache vorüber aus den Gründen, die ich angeführt habe. Dann aber wurden die Verhältnisse noch schwieriger. Die Verhältnisse wurden insbesondere deshalb so schwierig, weil das ganze Verhältnis der apenninischen Halbinsel zu Mitteleuropa wirklich einen solchen Charakter annahm - es ist psychologisch interessant, gerade für den Geistesforscher ist es psychologisch interessant, diese Dinge zu studieren -, es nahm wirklich den Charakter an, daß Italien, das politische Italien, so behandelt werden mußte, wie manche Dame -verzeihen Sie, es sind nur die hysterischen gemeint. Es sind unglaubliche Dinge, die sich entwickelten, namentlich



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dadurch, daß immer mehr und mehr in Europa das Urteil aufkam und propagiert wurde: Österreich muß zerfallen. —Ich kritisiere diese Dinge nicht, ich erzähle nur.

In welcher Weise dieses Urteil in Europa propagiert wurde, davon können Sie sich ja überzeugen, wenn Sie Publikationen lesen wie jene von Loiseau, Chéradame und so weiter -Bücher, die durchaus davon handeln, wie Österreich in den nächsten Zeiten zerteilt werden wird. Und solche Urteile wie diejenigen von Loiseau und Chéradame wurden hineingeworfen in dasjenige, was da unten im Süden glimmte. Es war wirklich nicht leicht, unter diesen Umständen das zu treiben, was oftmals Politik genannt wird, denn sehen Sie, in Italien wurde zum Beispiel -ich will das nicht kritisieren, ich will gar nicht einmal im geringsten pro oder contra sprechen, sondern nur erzählen -sogar der Oberdank gefeiert, der ein Attentat auf den Kaiser Franz Joseph geplant hatte. Dagegen durfte in Wien in einer Ausstellung, die der Herzog der Abruzzen besuchen wollte, ein Bild nicht die «Seeschlacht bei Lissa» heißen -Österreich hatte sie nämlich gewonnen -, sondern es wurde einfach darauf geschrieben «Eine Seeschlacht», damit der Herzog der Abruzzen nicht beleidigt wurde, wenn er nach Wien in die Ausstellung kam. Das ist aber nur ein Beispiel für unzählige Beispiele - und das tat man tatsächlich. Ich kritisiere das nicht, aber ich frage nach der Gegenseitigkeit; ich frage, ob sich irgend jemand in Italien zu der Rücksicht herbeigelassen hätte, bei einer gewonnenen Seeschlacht den Namen wegzulassen -in Wien hat man es allerdings getan. Man mag das sogar falsch finden von einem gewissen Gesichtspunkte aus, aber ich frage nach der Gegenseitigkeit. Und das sei doch gesagt, um ein wenig die Stimmungen zu charakterisieren, denn auf solche Stimmungen kommt es an, wenn nun solch eine Strömung einzugreifen hat wie diejenige, die vom «Grand Orient de France» kam, wenn nun also okkulte Impulse ins Spiel gebracht werden.

Und es werden schon, meine lieben Freunde, gewisse Dinge, um die sich die Menschheit bisher nicht gekümmert hat, zu solchen werden müssen, um die sich die Menschheit kümmert, denn die «massoni» sind nicht so, daß sie nicht sehen, was da ist, sondern sie gehen - ebenso wie die anderen okkulten Bruderschaften - darauf aus, die



173a-178 Fünfter Vortrag, Dornach, 18. Dezember 1916 Flip  arpa

Kräfte, die da sind, ins Spiel zu bringen. Sie wissen, daß da und dort Impulse vorhanden sind und wie man sie so benützen muß. Und wenn man auf der einen Seite, auf der apenninischen, eine gewisse Strömung hat und auf dem Balkan eine andere, dann müssen diese Strömungen in der entsprechenden Weise benützt werden, und dann kann man schon im rechten Augenblick, das heißt in dem für diese Leute rechten Augenblick, dieses oder jenes tun.

Das also sei eine Vorbereitung für die alchimistische Betrachtung, von der ich Ihnen gesprochen habe und die uns dann etwas weiterführen wird. Ich bitte Sie, durchaus zu beachten, daß ich nicht anders kann, wenn ich den Wünschen unserer Freunde entsprechen soll, als einiges von dem, was in der Gegenwart spielt, zu erwähnen in Anknüpfung an Dinge, die es eben gibt, wenn auch vielleicht nicht jeder damit einverstanden ist, daß solche Dinge an die Oberfläche gebracht werden. Allein, es ist meine Überzeugung, meine lieben Freunde: Gerade darin, daß man vor diesen Dingen die Augen zudrückt und über das, was vorgeht, aus möglichst unsachlichen Untergründen heraus redet, liegt einer der Hauptgründe, daß solch Schmerzliches, wie es jetzt der Fall ist, über die Welt hinziehen kann, denn selbst diesen großen Dingen gegenüber sollte jeder mit der Selbsterkenntnis anfangen. Und ein Stück Selbsterkenntnis ist schon dies, daß man weiß: In dem Augenblicke, wo man sagt, solche Dinge gingen einen nichts an, man wolle nur von okkulten Dingen hören, fördert man, wenn auch zunächst nur im kleinen, jene Entwicklung, die, aus vielen einzelnen Gliedern [zu einer Kette]zusammengefügt und summiert, zu solchen Dingen führt, wie wir sie heute erleben. Denn okkult ist nicht nur das, was sich auf die höheren Welten bezieht -das ist ja gewiß zunächst für alle Menschen okkult -, aber okkult, meine lieben Freunde, ist für viele Menschen auch schon das, was auf dem physischen Plan geschieht. Und man möchte wünschen, daß manches Okkulte auf diesem Gebiet offenbar würde, denn daß so vieles für so viele, die dann doch urteilen, okkult bleibt, das bildet mit eine der Quellen für das Elend, das wir erleben.

Morgen werden wir uns, wenn niemand etwas dagegen hat, wieder um fünf Uhr treffen.