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Hans Friedrich Blunck

Märchen


Mit 100 Bildern nach Aquarellen von Ruth Koser-Michaels

Th. Knaur Nachf. Verlag Berlin


Bei den Tieren

Am nächsten Abend war Lütte Lünk sehr müde, er hatte Mühe, die Augen offenzuhalten und auf die Ellerfrau zu warten. Es ist doch gar nicht so leicht, eine große Verwandtschaft zu haben, dachte er seufzend, ich will diesmal besser aufpassen und nichts tun, ohne meine Braut um Rat zu fragen.

"Wo geht es heute denn hin? "flüsterte er, als die, husch, neben ihm saß.

Die Ellerfrau legte nur den Finger auf den Mund, die beiden alten Leute schliefen schon, gewiß war die Stunde nahe, wo die Mahrfrau ins Zimmer kommen durfte. Leise und eilig nahm das Mädchen deshalb Lütte .k an der Hand und versuchte, sich mit ihm durchs Fenster zu stehlen. Es wäre fast zu spät geworden! fuhr gerade jemand durchs Schlüsselloch herein. Schnell ist die Ellerfrau mit Lütte Lünk zu einem greisen Raben geflogen, der im großen Birnbaum vorm Haus saß.



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"Hilf Himmel", gähnte der erschrocken und lüftete die Flügel, "gut, daß du mich weckst, es ist ja Mittsommer heut.

"Dann fahr uns nur rasch zu deinen Freunden", drängte die Ellerfrau und setzte sich dem Raben auf den Kicken, den Jungen dicht hinter sich. "Deshalb bringe ich dich nämlich heute zu den Tieren", flüsterte sie Lütte Lünk zu, "mittsommers versammeln die sich und feiern und reden in der gleichen Sprache wie die Menschen untereinander.

"Du weißt aber, daß sie nur ihresgleichen dulden", warnte der Rabe im Fliegen.

"Das laß mich nur machen, verraten wirst du mich doch nicht", sagte die Ellerfrau und blickte sich besorgt um, ob die Mahrfrau auch folgte.

"Was geht's mich an, was ihr vorhabt", knarrte der Schwarzrock und stach wie ein Pfeil durch die grüne halbhelle Mitternacht auf einen alten Holzturm zu.

Es ist aber wirklich so, daß um Neujahr wie auch im Mittsommer alle Wesen in unserer Zunge reden. Grade die Stunde hatte die Ellerfrau sich ausgesucht, um ihren Vertrauten mit der Nachbarschaft bekannt zu machen.

"Eigentlich habe ich Angst klagte Lütte Lünk noch, "was werden die Tiere sagen, wenn ich plötzlich dazwischenkomme."

"Aber Frau Holle hat verlangt, wir müßten überall gewesen sein", drängte die Ellerfrau. "Und wer soll uns beiden wohl etwas tun!" Blitzschnell zauberte sie dem Jungen eine rindige Jacke über; er sah aus wie einer aus den Eichstubben.

Was war das für eine wunderwarme Nacht rund um den alten Holzturm im Wald! Viele Pferde und Rehe und Füsse liefen durcheinander, dazu Hühner, Marder und Hasen, Sunde und Ziegenböcke, aber keiner tat heut dein andern etwas zuleide. Alle sagen freundschaftlich zusammen, hatten Essen und Trinken mitgebracht und erzählten einander von Bauer und Jäger, von Förster und Wilddieb, von Fischer und Imker. Auch die Eichelhäher, Hohltauben und Spechte huschten friedlich durch die Luft; kleine Nachtigallen und Finken schlugen, die Bienen und Wasserjungfern summten, und die Glühwürmer tanzten von Zweig zu Zweig.



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Am schönsten aber war es, bei den Alten zu äsen, die sich's um den Turm selbst bequem gemacht hatten. Da war ein berühmter Schimmel, der, hieß es, weiser als die ältesten menschen war; da gab es einen greisen Hund, der schon mit dem Wilden Jäger hatte jagen dürfen, da waren Hirsche, deren Geweihkronen voller Blüten standen, da waren borstige Eber und gute Schildkröten mit ihrem Gefolge. So ehrwürdig waren alle anzusehen, leise und bescheiden nahmen die Ellerfrau und Lütte Lünk hinter ihnen Platz, um etwas von ihrer Klugheit zu erfahren und, sobald sie nur Mut hätten, sich auch vorzustellen.

Grade in dem Augenblick kam aber schon wie ein Schatten die böse Wahrfrau und huschte den Tieren von Kopf zu Kopf. Zu zeigen wagte sie sich nicht, sie ist ja überall schlecht angeschrieben; die Leute hörten nur, daß jemand ihnen etwas ins Ohr flüsterte.

"Wenn man mir eben recht berichtet hat", fragte der Älteste der Hirsche auf einmal, "soll ein Mensch in unserem Kreis sein?" Oh, wie klopfte Lütte Lünk da das Herz.

"Ach", meinte der Schimmel, "es wird der alte Schäfer sein, der gehört ja zu uns."

Hier ist aber ein anderer", witterte der Hund, "wir wollten doch eine Stunde Ruhe vor den Zweibeinigen haben.

"Wer kann das sein?"fragte der Eber drohend.

Lütte Lünk zupfte die Ellerfrau am Arm, er wäre am liebsten gleich auf und davon gegangen. Glücklicherweise stelzte just in dem Augenblick ein kleiner Wicht, der Muckerpucker, die Hände frech in den Taschen und die Ledermütze schief auf dem Kopf, mitten in den Kreis hinein. Solch ein Muckerpucker hat nicht viel Erziehung, er ist einer der Knirpse aus den großen Lastwagen, die im Gutsschuppen stehen. Grade war es ihm langweilig geworden, er wollte sich einmal umsehen.

"Guten Tag", grüßte er, ohne die Mütze abzunehmen.

"Guten Tag", antworteten die Tiere streng, "was willst du hier, Nachbar Muckerpucker?"

Nun leben diese Wichte ja fast nur noch bei den Menschen und bilden



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sich viel darauf ein. "Was ich will? Na, mal so gucken, da habt ihr wohl nichts dagegen", sagte der Knirps hochmütig und zog Pfeife und Beutel aus der Tasche.

Schwupp, hatte ihm der Rehbock den Tabak aus der Hand gefegt.

Es schien ihm nicht viel anzutun, er hob ihn gleich wieder auf und putzte die Tannennadeln aus dem Pfeifenkopf. "Das ist aber eine Behandlung", schimpfte er, "hat hier denn nicht jeder ein Recht wie der andere?

In dem Augenblick flog die kleine Mahrfrau auch an des Muckerpuckers Ohr entlang. Lütte Lünk sah deutlich, sie sprach ihm vor, was er zu antworten hatte.

"Überhaupt, wo hier Gott weiß welche ungebetenen Leute herumlaufen, könnt ihr einem Nachbarn wohl Platz anbieten", schnarrte er.

"Damit meint er mich!" Lütte Lünk trat vor und nahm all seinen Mut zusammen.

"Sososo", sagte der alte Schimmel und blickte streng herüber, "gut, daß du dich meldest. Wer bist du denn?

"Ich bin Lütte Lünk", fuhr der Junge fort und zog seine Wollmütze ab, "und ich mache mit meiner Braut Nachbarbesuche.

Es war höchste Zeit, daß er sich zu erkennen gab, die Tiere sahen mißtrauisch von ihm zu dem weisen Schimmel. Alder ehe der sich die Antwort überlegen konnte, polterte der Muckerpucker los. Was denn?" schrie er, was heißt Nachbarbesuche, wo's ein richtiger Menschenjunge ist, und dazu was für einer! Eben ist da ein Mädchen gewesen, das hat mir eine Menge von ihm erzählt.

"Er ist nämlich mein Bräutigam", flüsterte die kleine Ellerfrau jetzt und hüpfte zu Lütte Link in den Kreis der alten Herren, "und wir sollten uns überall vorstellen, sonst könnten wir nicht heiraten, sagte Frau Holle.

"Sollt ihr ja auch gar nicht", kreischte die Mahrte bitterböse dazwischen und riß den Jungen an der anderen Hand. "Das ist nämlich mein Bräutigam, und die Ellerfrau hat ihn mir gestohlen!

Lütte Lünk war wirklich sehr verlegen. "Ich will aber das Erlfräulein haben!" bat er die Leute.



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Da streckte der Schimmel den Kopf vor: "Sehe ich recht", rief er entrüstet, "so ist es die böse Traumfrau, die vor mir steht. Wie wagt die sich zwischen uns?" Alle Tiere und Bäume bewegten sich zornig, als er das sagte; sie werden ja genau wie die Menschen geplagt.

Nur der Muckerpucker hatte noch nie geträumt. "Ich möchte wissen, was die Herren gegen dies Fräulein haben?"fragte er und stellte sich vor die Dunkle. Und die hüpfte ihm auch gleich auf den Nacken. "Ich möchte mal wissen —" Aber da hatte der Hirsch ihn schon aufs Geweih genommen und warf ihn und was er trug im Bogen zum Wald hinaus.

Lütte Lünk stand indes noch immer, die Mütze in der Hand, zwischen den hohen Herren. Niemand sagte etwas, sie waren alle sehr erzürnt über die Störung. Endlich nickte der Schimmel dem verzagten Ellerfräulein zu und blickte von einem zum andern.

"Ich schlage vor, wir lassen die beiden heute unter uns", meinte er. Lütte Lünk muß aber versprechen, ein guter Mensch zu werden und sein Leben lang Mitleid mit allen Tieren zu haben.

"Das will ich gewiß versprechen", antwortete der. Da ließen die Finken wieder ihr Liedlein schallen, die Leuchtkäfer schwirrten durchs Holz, die Grillen stimmten ihre Geigen, und die Tiere redeten weise von vergangenen und kommenden Zeiten, — ach, es war schade, daß Lütte Lünk von allem erst so wenig verstand und schon so bald nach Haus mußte.


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