Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

ERZÄHLUNGEN AUS DEM WESTSUDAN

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1922

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



Atlantis Bd_08-0004 Flip arpa

TITEL- UND EINBANDZEICHNUNG VON F.H. EHMCKE

MIT DREI TAFELN

120. Das fleißige und das faule Mädchen

Ein Mädchen hatte Vater und Mutter verloren, als es noch ganz klein war, und wurde von einer fremden Frau aufgezogen. Die fremde Frau hatte ein eigenes Kind, das war auch ein Mädchen. Die Frau ließ nun alle Arbeit im Hause durch das fremde Mädchen verrichten, die eigene Tochter brauchte nichts zu arbeiten. Alles aber, was das arme Waisenmädchen verrichtete, genügte der Frau nicht. Wenn



Atlantis Bd_08-275 Flip arpa

sie Mehl stampfte, war das Mehl schlecht gestampft; wenn sie wusch, War schlecht gewaschen. Es war der Frau nichts gut genug, was das Waisenkind tat. Dafür bekam das Waisenmädchen nur das allerschlechteste Essen und mußte in einem schmutzigen Winkel schlafen, während die eigene Tochter, die nichts tat, das beste Essen bekam und in einer ausgezeichneten Hütte schlief.

Eines Tages wusch das Waisenmädchen. Dabei zerbrach sie eine alte Kalebasse. Als die Frau die zerbrochene Kalebasse sah, ward Sie wütend und sagte: "Stelle sofort meine Kalebasse im Topf des Abaga (Leoparden) wieder her!" Das Mädchen wußte nicht, was es machen sollte. Es nahm die zerbrochene Kalebasse und ging in den Busch. Im Busch suchte es das Haus Abagas auf. Abaga war gerade ausgegangen, aber alle seine Sachen, eine Schale mit Mehl Und vieles andere, standen im Freien. Nach einiger Zeit begann es zu regnen. Das Mädchen sagte: "Es ist Abaga sicher nicht recht, wenn alle seine Sachen naß werden." Und sie räumte alles in das Haus.

Nach einiger Zeit kam Abaga nach Hause. Abaga fragte: "Wer hat denn mein Geschirr in die Hütte geräumt?" Das Mädchen Sagte: "Ich tat es, weil es zu regnen begann." Abaga sagte: "Du hast mir einen Gefallen getan. Nun sage mir, was du willst." Das Mädchen sagte: "Ich habe als kleines Kind meine Eltern verloren und werde nun von einer fremden Frau aufgezogen, die ein eigenes Mädchen hat. Aber ich muß alles machen. Und nichts ist der Frau recht. Nun habe ich gar auch noch beim Waschen eine Kalebasse zerbrochen. Darauf hat die Frau zu mir gesagt, ich solle hingehen und die Kalebasse sogleich im Topf des Abaga wiederherstellen." Abaga sagte: "Zeig' die Scherben her!" Das Mädchen gab die Kalebassenscherben hin. Abaga nahm die Scherben, zerstampfte sie im Mörser, warf das Pulver in einen Topf und kochte die Masse auf. Nach einiger Zeit sagte Abaga zu dem Mädchen: "Nun nimm den Deckel vom Topf." Das Mädchen nahm den Deckel ab. Innen war die Kalebasse wiederhergestellt und schöner als zuvor.

Nachher fragte Abaga das Waisenmädchen: "Willst du lieber Baninga- oder lieber Karaga-Kuchen?" Das Mädchen sagte: "Ich bin für alles dankbar, was du mir gibst, denn ich bin gewöhnt, das allerschlechteste Essen zu bekommen." Darauf bereitete Abaga einen ausgezeichneten Brei und setzte ihn dem Mädchen vor. — Nachher fragte Abaga das Waisenmädchen: "Willst du in einer schlechten Hütte oder in einer guten Hütte schlafen?" Das Mädchen antwortete: "Für mich ist jeder Winkel recht. Ich bin es gewohnt,



Atlantis Bd_08-276 Flip arpa

an einem schlechten Orte schlafen zu müssen." Darauf richtete Abaga für das Mädchen die allerbeste Hütte her und brachte es dahinein.

Am anderen Morgen nahm das Waisenmädchen Abschied von Abaga und bedankte sich. Abaga sagte: "Ich will dir noch einige Eier zum Abschied geben. Willst du lieber rote oder willst du lieber weiße?" Das Waisenmädchen sagte: "Du bist sehr freundlich. Aber gib mir doch, was du am leichtesten entbehren kannst." Darauf gab Abaga dem Mädchen drei weiße und drei rote Eier und sagte: "Wenn du in der Umgebung eures Dorfes ankommst, so wirf ein weißes Ei zu Boden, so daß es zerbricht. Vor dem Eintritt in das Dorf wirf ein weißes Ei zu Boden, so daß es zerbricht. Innerhalb des Eingangs in das Dorf wirf ein weißes Ei zu Boden, daß es zerbricht. Wenn du in der Mitte des Dorfes angekommen bist, wirf ein rotes Ei zu Boden, so daß es zerbricht. Dicht daneben wirf noch ein rotes Ei zu Boden, so daß es zerbricht. Dann wirf noch ein Ei zu Boden, so daß es zerbricht. Erst nachher geh zu der Frau hinüber und gib ihre Kalebasse zurück." Das Waisenmädchen bedankte sich, nahm Abschied und machte sich auf den Heimweg.

Als das Waisenmädchen in der Umgebung des Dorfes angekommen war, nahm es eins von Abagas weißen Eiern und warf es zu Boden. Das Ei zerbrach, und eine große Rinderherde kam heraus. Als das Mädchen vor dem Eingange in das Dorf angekommen war, nahm es ein zweites von Abagas Eiern und warf es auf den Boden. Da kam aus dem zerbrochenen Ei eine große Schafherde heraus. Als das Mädchen durch den Eingang des Dorfes geschritten war, nahm es ein drittes von Abagas weißen Eiern hervor und warf es auf den Boden. Das Ei zerbrach, und es kam eine große Menge von Ziegen aus den Schalen hervor.

Als das Waisenmädchen dann mitten im Dorfe angekommen war, warf es eines der roten Eier Abagas zu Boden, so daß es zerbarst. Da entstand an der Stelle ein großer Teich, der genug Wasser hatte, um alles Rindvieh, die Schafe und Ziegen des Waisenmädchens ZU tränken. Dicht daneben warf das Mädchen das zweite der roten Eier Abagas zu Boden. Es zerbrach, und sogleich entstand aus der Erde ein weitläufiges Gehöft mit schönen Häusern. In dem Gehöft zerbrach das Mädchen das dritte der roten Eier Abagas. Es zerbrach, und heraus kam eine Menge von Leibeigenen und Sklaven, die sich sogleich in dem Gehöft zu schaffen machten.

Das Mädchen nahm die Kalebasse der Frau und brachte sie hin-



Atlantis Bd_08-277 Flip arpa

über. Sie sagte: "Hier ist die zerbrochene Kalebasse, die ich im Topf Abagas wiederherstellen sollte." Die Frau sagte: "Nun, lange genug bist du ja weggeblieben. Nun verrichte einmal gleich und schnell eine andere Arbeit. Der Pfahl an meiner Hüttentür ist schlecht; grabe ihn mit den Händen aus und setze einen anderen Pfahl an seine Stelle." Das Waisenmädchen kniete sogleich nieder und begann die Erde mit den Händen aufzukratzen. Als sie die erste Handvoll in den Schoß warf, war es reines Gold. Als es die zweite Handvoll in den Schoß warf, war es Silber. Die Frau sah das und ward sogleich auf das Mädchen eifersüchtig. Sie sagte: "Mach, daß du von meinem Hofe wegkommst. Meine Tochter kann auch arbeiten." Sie jagte das Waisenmädchen fort, weil sie glaubte, ihre eigene Tochter könne das Gold und Silber auch heben. Das Waisenmädchen nahm das so gefundene Gold und Silber im Lendenschurz zusammen und lief in ihr Gehöft.

Die Frau ließ nun ihre eigene Tochter die Erde an dem Pfahl auf.- kratzen. Als die aber die erste Handvoll aufwarf, ward es nicht Gold, sondern die Erde ward zu Schlangen. Als sie die zweite Handvoll Erde auswarf, ward die Erde nicht zu Gold, sondern zu kleinen Skorpionen. Und so ging das fort. Da wurde die Mutter sehr böse. Sie schlug ihre eigene Tochter und sagte: "Das andere Mädchen, für das niemand gesorgt hat, hat jetzt Gehöft, Sklaven, Herden, wirft mit den Händen Gold auf und ist wie ein König. Du aber, von der ich nicht eine Arbeit verlangt habe, für die ich immer aufs ausgezeichneteste sorgte, du kannst nichts, gar nichts." Dann zerbrach die Frau eine Kalebasse, gab sie ihrer Tochter und sagte: "Stelle sofort meine Kalebasse im Topf Abagas her!" Damit jagte sie die eigene Tochter fort.

Das Mädchen ging mit den Kalebassescherben in den Busch und suchte das Haus Abagas auf. Abaga war nicht zu Hause. All sein Gerät stand aber im Freien. Nach einiger Zeit begann es zu regnen. Das Mädchen ging in das Haus, ließ aber das Gerät Abagas draußen stehen. Als Abaga nach Hause kam, war sein Geschirr und alles naß. Abaga sagte: "Konntest du das nicht in die Hütte nehmen, als es anfing zu regnen?" Das Mädchen sagte nur: "Meine Mutter hat mich geschickt, die Kalebasse in deinem Topf wiederherzustellen, so wie du die Kalebasse des anderen Mädchens wieder zurechtgekocht hast." Abaga nahm die Kalebasse und tat es so. Er gab die wiederhergestellte Kalebasse dem Mädchen. Nachher fragte Abaga das Mädchen: "Willst du lieber Baninga- oder lieber Karaga



Atlantis Bd_08-278 Flip arpa

Kuchen haben?" Das Mädchen sagte: "Ich bin gewöhnt, gute Kassiaspeise zu genießen." Abaga setzte ihr gutes Essen vor. Nachher fragte Abaga: "Willst du in einer neuen oder in einer alten Hütte schlafen?" Das Mädchen sagte: "Glaubst du vielleicht, daß ich gewöhnt bin, in schmutzigen Winkeln zu hausen, wie das andere Mädchen? Gib mir nur ein gutes Lager!" Abaga gab ihr ein gutes Bett.

Am anderen Morgen wollte das Mädchen mit seiner Kalebasse gehen. Abaga sagte: "Nimm zum Abschied ein paar Eier mit. Willst du weiße Eier haben oder rote ?" Das Mädchen sagte: "Rote Eier mag ich nicht, gib mir nur weiße!" Darauf gab Abaga ihr drei weiße Eier und sagte: "Wirf sie, ehe du in das Dorf kommst, zu Boden, so daß sie zerbrechen." Das Mädchen sagte: "Es ist gut." Sie ging.

Als das Mädchen ein Stück weit gegangen war, warf es ein Ei Abagas zu Boden, so daß es zerbrach. Sogleich kam ein Löwe daraus hervor. Das Mädchen lief fort und warf ein zweites Ei zu Boden. Da kam eine große Boaschlange hervor. Das Mädchen lief noch schneller. Das dritte Ei fiel zu Boden und ein Schakal kam heraus. Die Tiere verfolgten das Mädchen. Das Mädchen lief, so schnell es konnte, auf das Dorf zu. Als es aber an das Dorf kam, riefen die Leute: "Wirst du wohl mit deinen Tieren draußen bleiben? Wir wollen nichts von dir wissen!"

Die Leute ließen das Mädchen mit seinen Tiere nicht hinein, und es mußte in den Busch zurücklaufen. So kommt es aber, daß Löwe, Boaschlange und Schakal noch heute im Busch leben.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt