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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Das Waldkind

Sylvio, der Sohn des Köhlers, war im Walde groß geworden. Die Vögel waren seine Freunde; denn er hatte sie schon zu der Zeit, als sie noch unter der Eierschale im Nest gelegen hatten, vor den gierigen Schlangen gerettet. Er kannte sie alle und antwortete ihnen, pfeifend wie sie. Die Ameisen, der Hase -der doch so ängstlich ist - und auch das Eichhörnchen liefen vor ihm keineswegs davon; denn er liebte sie alle und war freundlich und gut zu ihnen.

Er lebte sehr glücklich in ihrer Mitte, als eines Tages die königliche Jagd vorüberbrauste.

Auf einem feurigen weißen Pferd erschien wie ein strahlender Blitz die goldblonde Prinzessin, und ihr Anblick hinterließ im Herzen des Waldkindes ein beseligendes und zugleich sehr qualvolles Begehren. Voller Sehnsucht durchstreifte Sylvio die Wälder, und eines Tages begegnete ihm ein Unbekannter, der Äste zurechtstutzte, um neue Holzzinken für seinen Rechen zu schneiden.

»Warum bist du so traurig, Sylvio?«fragte er. »Es wäre besser, du gingest in die Stadt, um zu schauen, was sich alles dort zuträgt. Die Tochter des Königs wird von mehr als hundert Freiem umworben, und um sie loszuwerden, hat jetzt der König ausrufen lassen, daß nur der die Prinzessin bekommen soll, der drei vom König selbst ausgewählte Worte erraten kann. Hast du keine Lust, dein Glück zu versuchen?«



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»Ach«, sagte Sylvio verwirrt, »ich bin nur ein armer Junge, ein Kind der Wälder, das sich auf die Sprache der Vögel sehr viel besser versteht als auf die der Menschen. Wie soll ich diese drei Worte erraten? Und würde wohl der König seine Tochter einem so groben Flegel anvertrauen, wie ich es bin?«

»Du bist doch gar kein Flegel und auch nicht grob, Sylvio! Hör gut zu, ich will dir was ins Ohr flüstern. Das sind die drei Worte, die es zu erraten gilt. Und da hast du noch meine Mütze. Sie wird dir bestimmt gute Dienste tun!«

Und der Mann sagte Sylvio ins Ohr, was er tun solle. Dann verschwand er.

Sylvio machte sich auf und ging geradewegs zum königlichen Palast. Als er sich in seinen ärmlichen Kleidern, die Mütze in der Hand, ganz schüchtern und bescheiden als Bewerber vorstellte, blickten der König und die Prinzessin einander höchst überrascht und auch ein wenig unwillig an. Aber ein königliches Wort ist ein königliches Wort. So wurde ihm das Rätsel vorgelegt, das bisher niemand hatte erraten können. In aller Ruhe antwortete Sylvio:

»Das erste Wort ist: Feuer; das zweite ist: Holz; das dritte heißt: Pfanne. Gebt mir, was diese Worte besagen, und ich werde sogleich in dieser Mütze hier den prächtigen Eierkuchen bereiten!«

Und hurtig, im Handumdrehen, reichte er der völlig verdutzten Gesellschaft einen köstlichen, goldgelben Eierkuchen hin.

»Ausgezeichnet«, sagte der König, »du hast's richtig erraten; ich kann mein Wort nicht zurücknehmen. Aber du wirst zugeben, daß die Prinzessin gut drei Prüfungen wert ist! Hier gleich die zweite: Bist du imstande, binnen einer Stunde einen Sack Hirsekörner fein sauber auszulesen?«

»Ich will's versuchen«, antwortete Sylvio und war sehr betroffen.

»Nun gut, der Sack steht da drüben auf dem Feld!«

Um zu dem Feld zu gelangen, mußte man über einen kleinen Steg den Bach überschreiten. Wenn das Waldkind nun auch noch so in Gedanken versunken und voller Sorgen war, wie es die schwere Aufgabe lösen sollte, so gewahrte es doch zu seinen Füßen einen großen Zug Ameisen, der gerade den Steg überquerte. Rasch hielt es seinen Fuß an, der drauf und dran war, sie zu zertreten, und ging vorsichtig zur Seite, um seine kleinen Freunde nicht zu verletzen. Dann setzte er sich auf das Feld, öffnete den Sack Hirsekörner und leerte ihn aus. Diesen Berg sollte er nach guten und schlechten trennen? Er verlor allen Mut.

Aber schau einer bloß an, was sieht er da? Da kommt der ganze Ameisenschwarm



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schnellschnell herbei und fängt mit dem Auslesen an. Das wimmelt und arbeitet emsig und voller Eifer. In weniger als einer Stunde liegen alle die Hirsekörner ganz sauber auf zwei Haufen beisammen, und die guten warten nur darauf, wieder in den Sack eingefüllt zu werden. Überglücklich bringt Sylvio den Sack dem König.

»Aber wie hast du diese feine Arbeit nur in so kurzer Zeit schaffen können?« fragte der König ganz überrascht.

»Herr König, meine Freundinnen aus dem Walde haben mir dafür gedankt, daß ich ihnen nie ein Leid angetan habe!«

»Nun gut!« sagte der König, »laß schauen, ob du auch die dritte Prüfung bestehen wirst! Man wird dir jetzt einen Sack bringen, in dem die Samenkörner von Steckrüben und Kohl völlig durcheinandergemischt sind. Du weißt sicher, wie sehr sie einander ähneln. Deine Aufgabe wird sein, sie genau voneinander zu trennen. Geh und zeige, was du kannst!«

Und Sylvio geht, nimmt die zwei Säcke auf seinen Rücken, kehrt in seinen Wald zurück und ruft laut:

»Liebe Buchfinken, Grasmücken, Stieglitze, Zeisige, Rotkehlchen, alle meine kleinen Freunde, kommt mir zu Hilfe, damit ich die Prinzessin mit den goldenen Haaren heiraten kann!«

Alsbald stürzen von allen Zweigen ringsum ganze Wolken von Vögeln herunter, die im Handumdrehen die Rübensamen von den Kohlsamen trennen, dann fortfliegen und zwitschern:

»Es gelingt, Sylvio! Sylvio, du schaffst es!«

Und überglücklich bringt Sylvio dem König die zwei Säcke, den einen mit Rübensamen, den andern mit Kohlsamen fein säuberlich gefüllt.

»Aber wie hast du das nur in so kurzer Zeit zuwege gebracht?«fragte der König.

»O Herr König, meine kleinen Freunde aus dem Walde haben mir dafür gedankt, daß ich ihnen nie ein Leid angetan habe.«

Da senkte der König schweigend den Kopf. Er mußte sein Wort halten. Es war nichts mehr dagegen zu tun. Aber da sagte die Prinzessin, die bisher den Sylvio nur wortlos angeschaut hatte, sehr laut und vernehmlich: »Mein Vater, dieses Waldkind ist weder reich noch mächtig, aber er ist ein guter Mensch, und ich will ihn heiraten!«

Sie ist denn auch mit dem sanften, gütigen Sylvio glücklicher geworden, als sie es mit irgendeinem der hundert Freier hätte werden können. So ist es gewesen. Und nun geht nach Haus -die Geschichte ist aus.


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