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Märchen aus Frankreich den Niederlanden und der Schweiz

Märchen europäischer Völker


Der Zaubervogel

Es war einmal ein braver Mann. Er war sehr arm. Er und seine gute Frau hatten all ihr Hab und Gut längst aufgezehrt und wußten nicht mehr, wie sie sich ernähren sollten. Das einzige, was sie noch besaßen, war ihr Sohn, der Ludwig hieß, genau wie sein Vater. Da ihnen kein anderer Weg mehr blieb, entschlossen sie sich, den Jungen anderswo als Lehrling unterzubringen. Also machten sich Vater und Sohn auf den Weg zum nächsten Marktflecken, um sich dort umzuschauen. Unterwegs begegneten sie einer alten Frau, die sie höflich begrüßten.

»Wohin des Wegs, Vater Ludwig?« wollte die Frau wissen.

»Ach, ich will für meinen Sohn eine passende Stelle suchen«, antwortete der Vater. »Wir wissen nicht mehr, wovon wir uns ernähren sollen. Der Junge ißt glatt für vier - und wir haben so gut wie nichts mehr im Hause.« —»Oh, armer Mann, nehmt meine besten Wünsche mit auf den Weg! Aber ich will Euch einen guten Rat noch dazugeben. Ihr werdet im Ort einen Mann finden, der Euren Jungen gern nehmen will. Bedenkt Euch nicht lange! Euer Sohn wird bei dem Herrn ein lustiges und sehr einträgliches Handwerk lernen. Vereinbart nur auch, daß Ihr dafür einen guten Lohn bekommt!«

Und sieh mal an! Kaum waren sie in der Ortschaft angelangt, der junge Ludwig mit einer Blume am Hut zum Zeichen, daß er einen Arbeitsplatz suche, als auch schon ein freundlich aussehender und vornehm gekleideter Herr auf sie zutrat und zu wissen begehrte, welchen Betrag der Herr Vater dafür verlange, wenn er seinen Sohn auf ein Jahr als Lehrling und Helfer zu sich nehme.



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»Hundert Franken in Gold, keinen Sou mehr und auch keinen weniger!« «

»Das ist viel Geld, guter Mann! Aber sei's drum, ich bin einverstanden. In einem Jahr, auf den Tag genau, könnt Ihr Euren Jungen zurückholen.«

Vater Ludwig ging in seine ärmliche Hütte zurück. Er sah gar nicht besonders zuversichtlich aus und sagte zu seiner Frau:

»Eine Stellung hat unser Junge gefunden, aber kein Wort habe ich von seinem Meister darüber erfahren, was er ihm beibringen wird. Ich wünschte nur, das Jahr ginge rasch vorüber.«

Indessen richtete sich der kleine Ludwig bei seinem Meister ein, und dieser brachte ihm nach und nach die erstaunlichsten Zauberkünste bei, denn er war ein großer Zauberer. Der Junge war gerade achtzehn Jahre alt und keineswegs auf den Kopf gefallen. Er lernte gut und mit Eifer. Er zeigte sich derart begabt, daß der Zauberer richtig beglückt war, einen solchen Schüler gefunden zu haben. Er beschloß, ihn bei sich zu behalten, und sann darüber nach, ihn nicht wieder zurückzugeben. Als das Jahr abgelaufen war, verwandelte er den jungen Ludwig in einen kleinen grauen Vogel und ließ ihn in seinem Garten frei. Dann wartete er auf die Rückkehr des Vaters Ludwig.

Der war bereits unterwegs, fand am selben Platz wie im Jahr vorher die alte Frau wieder und begrüßte sie mit der gleichen Höflichkeit. »Wohin soll's denn gehen, Vater Ludwig?«

»Heute will ich mir meinen Jungen wiederholen, den ich im vergangenen Jahr verdingt habe.«

»Dann hört gut zu! Ich habe einen guten Rat für Euch. Wenn Ihr zu dem Manne kommt, wird er Euch zum Essen und Trinken einladen. Lehnt ja ab, nehmt keinen Bissen und keinen Schluck an! Er wird Euch in sein Zimmer führen, darin ganze Haufen von Gold und Juwelen aufgestapelt sind. Er wird Euch auffordern, Euch nach Eurem Belieben zu bedienen. Seht Euch vor, nehmt ja nicht mehr, als damals vereinbart wurde, keinen Sou mehr! Und zum Schluß wird er Euch noch in seinen großen Garten führen. Ihr werdet staunen über die vielen und wunderbaren Vögel, die darin leben. Sie sitzen und fliegen da in vielerlei prächtigen Farben. Auf einem Baumwipfel ganz droben werdet Ihr ein unscheinbares, kleines, graues Vögelchen entdecken. Sagt dem Manne, daß Ihr dieses haben möchtet, kein anderes!«

»Vielen Dank, gute Frau, ich werde tun, wie Ihr mir geraten habt.« Und Vater Ludwig kam bald darauf beim Lehrmeister seines Sohnes an. Dieser empfing ihn sehr freundlich.



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»Willkommen, Vater Ludwig! Ihr wollt gewiß Euren Jungen wiederhaben?«

»Ganz recht, mein Herr, und bitte, ich hab's ziemlich eilig.«

»Aber Ihr werdet doch sicher Hunger haben nach dem langen Marsch.

Ich will Euch ein kleines Mahl richten.«

Tatsächlich knurrte dem alten Ludwig der Magen wie ein Wolf. Aber er gedachte des Rates, den ihm die alte Frau gegeben hatte:

»Ihr seid sehr liebenswürdig, aber ich habe nicht den geringsten Hunger. Ich möchte nur meinen Jungen holen. Wir müssen uns beeilen, um noch vor dem Dunkelwerden wieder heimzukommen.«

»Na schön, aber Ihr werdet doch ein Glas mit mir trinken! Ihr seid müde und erhitzt. Ein Gläschen Wein wird Euch aufmuntern.«

»Nein, schönen Dank auch, ich habe keinen Durst.«

»Ja, aber! Ihr werdet mir doch einen guten Schluck nicht verweigern?«

»Entschuldigt mich, bitte! Ich sagte bereits, daß ich's eilig habe!«

»Dann also nicht, bitte kommt ins Zimmer nebenan! Ich will Euch meine Schuldigkeit bezahlen.«

Und der Zauberer führte den Vater Ludwig in einen Raum, darin sich Berge von Geld, Kleinodien und Gold nur so türmten.

»Greift zu, mein Lieber! Bedient Euch ganz nach Belieben! Ich muß mich inzwischen rasch meinen Geschäften widmen.«

Er ließ Vater Ludwig allein. Der arme Mann überschlug mit raschem Blick, daß da für ihn mehr als genug lag, um bis zum Ende seiner Tage glücklich zu leben und aller Sorge ledig zu sein. Aber er erinnerte sich an das, was ihm die alte Frau gesagt hatte, und nahm nichts als die vereinbarten hundert Franken.

Bald darauf kam der Zauberer zurück und führte ihn, ohne seine Überraschung spüren zu lassen, in den Garten hinaus. In dessen Mitte stand ein riesiger Baum, und auf diesem Baume wimmelte es in allen Zweigen und Ästen von prächtigen Vögeln, die in allen Farben leuchteten. Es waren rubinrote darunter, blaue, die wie Türkise strahlten, und vielerlei andere.

»Wählt aus, welchen immer Ihr wollt, Vater Ludwig!«

»Den kleinen grauen dort oben, der auf der Spitze des Baumes sitzt, den möcht' ich wohl haben!« sagte der Mann, und schon war ihm der Vogel auf die Schulter geflogen. Beide machten sich sofort auf den Weg.

»Wie geht es daheim?«fragte unterwegs der kleine Ludwig den Vater. »Ach, schlechter und schlechter! Zum Glück haben wir nun die hundert Franken. Sie werden uns helfen, unsere Schulden zu tilgen.«



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»Sag, Vater, gibt es heute wohl einen Jahrmarkt hier in der Nähe?«

»Das schon, Junge, gerade heute ist Markt in Lezay.«

»Dann laß uns dorthin gehen! Ich werde mich rasch in ein fettes Schwein verwandeln. Du bindest mir einen Strick ans Bein und verkaufst mich so teuer wie möglich. Nur denke daran, den Strick ja bei dir zu halten; denn wenn du den Strick nicht bei dir behältst, kann ich nicht mehr zu dir zurück!«

Kurz bevor sie nach Lezay hineinkamen, verwandelte sich der kleine Ludwig, wie ihn das der Zauberer gelehrt hatte, in ein ansehnliches und wohlgenährtes Schwein. Der Vater führte ihn am Strick. Schon kamen Kauflustige herbei.

»Was verlangt Ihr für Euer Schwein?«

»Fünfundzwanzig Pistolen.«

»Was? Fünfundzwanzig! Das ist mir zu teuer, Alter! Ich biete dreiundzwanzig. Die zahle ich gern und sofort.«

»Mir soll's recht sein. Nur müßt Ihr mir dafür den Strick zurücklassen. Gehn wir ins Wirtshaus, den Handel abzuschließen!«

Also begaben sie sich zum nächsten Gasthof, tranken einen Schoppen, tauschten einen Händedruck, und Vater Ludwig bekam sein Geld. Den Strick steckte er in die Tasche, ließ dem andern das Schwein und zog davon.

Kurze Zeit später wurde das Schwein wieder zum Vogel, schwang sich in die Luft und landete alsbald wieder beim Vater.

»Gibt's wirklich keinen anderen Markt mehr?«

»Markt ist hier in die Gegend sonst nirgendwo. Aber in Melle ist heute gerade Pferderennen. «

»Ausgezeichnet! Ich werde mich in ein abgemagertes Pferd mit kümmerlichem Aussehen verwandeln. Du steigst auf meinen Rücken. Die Leute werden staunen, wie wir uns den ersten Preis holen!«

Als sie bei der Reitbahn ankamen, wurden sie von allen Leuten mit Hohn und Spott empfangen. Kaum ließ sich unterscheiden, ob das Gelächter mehr dem alten Reiter oder dem Roß galt, auf dem er saß —mit den wankenden Knien und dem gekrümmten Rücken. Ohne darauf zu achten, reihte sich der Vater Ludwig zwischen den anderen Reitern ein.

Die Fahne zum Start senkte sich. Ludwig ließ die anderen leicht vorausreiten, dann trieb er sein Pferd plötzlich an, das sofort an allen anderen vorbeischoß und als erstes durchs Ziel kam.

Höchst vergnügt war Vater Ludwig gerade dabei, das gewonnene Geld klimpernd in seine Tasche zuzählen, als der reichste Grundbesitzer der



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Gegend an ihn herantrat und ihn fragte, ob er nicht Lust habe, sein Tier zu verkaufen.

»Warum schließlich nicht? Das Pferd will ich Euch gern verkaufen. Nur das Halfter möchte ich behalten.«

»Oh, das macht mir nichts aus. Euer Halfter lockt mich in keiner Weise.«

»Einverstanden. Ihr zahlt mir also fünftausend Goldfranken.»

Der Mann zahlte, ohne jeden Versuch, etwas abzuhandeln, und führte das Pferd davon.

»He!«sagte er daheim zu seinem Knecht, »da bringe ich ein Pferd, das ich gerade gekauft habe! Behandle es gut und pflege es ordentlich!« Der Knecht knurrte vor sich hin: »Was für einen erbärmlichen Gaul hat er sich da andrehen lassen! Ich will ihn rasch auf den Hof bringen. Der läuft bestimmt nicht davon.«

Aber kaum wandte er sich zur Seite, da verwandelte sich der Gaul wieder in einen Vogel und flog zum Vater zurück. Und weil dieser nun reichlich müde war, verwandelte sich der Sohn in ein stattliches Maultier und ließ den Vater aufsitzen.

So setzten sie ihren Weg eine gute Weile fort. An einer Weggabelung stießen sie auf einen vornehm gekleideten Mann.

»Oh, was für ein famoses Maultier!«rief der Fremde. »Könnte man das wohl erwerben?«

»Ja, wenn Ihr es durchaus haben wollt! Das Tier schon - nur das Halfter nicht.«

»Mir recht, und was wollt Ihr dafür?«

»Zweitausend Franken.«

Das Geschäft wurde gemacht. Der neue Besitzer schwang sich auf das Maultier und ritt eilends davon. Aber dieser neue Besitzer war niemand anders als der Zauberer, der es nicht verwinden konnte, seinen Schüler so rasch verloren zu haben.

Er hatte seine Gestalt und sein Gesicht verändert, um ihn zurückzuholen, ohne daß Vater Ludwig in erkannte. So führte er nun das Maultier seinem Hause zu, während der gute Alte vergeblich auf die Rückkehr des Sohnes wartete und langsam unruhig wurde. Zugleich aber dämmerte ihm, daß sie diesen ständigen Betrug an gutgläubigen Leuten doch auf die Dauer nicht fortführen dürften.

Der verdrossene Zaubermeister aber spannte das Maultier an eine Zauberleine und sperrte es in seinen Stall. Dort verabreichte er ihm eine kräftige Tracht Prügel und ging davon.

Nur wenig später kam ein kleiner Bub vorbei, hörte klagende Rufe und



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schaute in den Stall. Da entdeckte er ein Maultier, dessen trauriger Blick ihn erbarmte.

»Du armes Tier!«sagte er, »du bist geschlagen worden, du tust mir leid, und ich will dich befreien.« Er kletterte in die Futterkrippe und zerschnitt das Zauberseil. Sogleich wurde der kleine Ludwig wieder zum Vogel und flog nach draußen. Der Zauberer, der in seinem Garten spazierenging, bemerkte, wie das Vögelchen den Stall verließ. Er begriff sofort, was da vor sich ging, verwandelte sich in einen Sperber und setzte zur Verfolgung an.

Schon pfiffen die Schwingen des Raubvogels über dem kleinen Ludwig. Da erkannte er gerade unter sich ein junges Mädchen. Rasch verwandelte er sich in einen goldenen Ring und fiel dem Mädchen vor die Füße. Das Mädchen hob staunend den Ring auf, steckte ihn an den Finger - und der Zauberer wagte es nicht, die Verfolgung fortzusetzen.

Als das Mädchen daheim sein Zimmer betreten hatte, nahm der junge Ludwig zum jähen Erschrecken des Mädchens seine wahre Gestalt an und sagte zu ihr: »Hab keine Angst! Ich habe mich in einen Ring verwandelt, um einem sehr gefährlichen Zauberer zu entkommen, der mich verfolgt. Er wird morgen kommen und dir anbieten, deinen Vater zu heilen, der schon so lange krank ist. Als Gegendienst wird er von dir den Ring erbitten. Du wirst ihm den Ring übergeben, aber wohl darauf achten, daß der Ring, bevor er ihm in die Hand kommt, zu Boden fällt.«

Tags darauf stellte sich der Herr tatsächlich bei dem jungen Mädchen ein:

»Guten Morgen, mein Fräulein!«

»Guten Tag, mein Herr!«

»Ich hörte, daß Euer Vater seit langer Zeit schwer krank ist .

»Ach, leider ja! Schon seit vielen Wochen, und die Ärzte können ihn nicht heilen.«

»Ich aber werde ihn von seiner Krankheit befreien, wenn Ihr mir Euren Ring dafür gebt.«

»Oh, sehr gern, aber heilt mir bitte zuerst den Vater!« Der Zauberer ließ seine Hände mit leichten Strichen über der Stirn des Schwerkranken kreisen. Alsbald lösten sich dessen verkrampfte Züge, und er atmete leicht und wie befreit in leisem Schlummer.

»Und nun bitte den Ring!«

Das Mädchen löste den Ring von seinem Finger und ließ ihn, wie aus Ungeschick, zu Boden fallen. Dort verwandelte sich der Ring in ein Weizenkorn. Der Zauberer wurde blitzschnell zu einem Hahn und



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stürzte sich darauf, um es zu verschlingen. Aber der kleine Ludwig war schneller als er; er verwandelte sich in einen Fuchs und erwürgte den Hahn.

Dann nahm er wieder seine menschliche Gestalt an und fragte das Mädchen, ob es wohl Lust habe, seine Frau zu werden. Sie hielten Hochzeit, wurden glücklich miteinander und hatten viele Kinder. Manchmal noch erzählte Vater Ludwig seinen Enkelkindern die Geschichte vom bösen Zauberer und berichtete ihnen davon, wie dieser überwunden wurde. Den Zaubervogel aber hat niemand mehr gesehn.


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