Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[345]

Ambrosius Blarer an
Bullinger
[Konstanz],
31. März 1534

Autograph a : Zürich ZB, Ms F 62, 38r.-v. (Siegelspur) Zusammenfassende Übersetzung und Teildruck: Blarer BW I 480f

Freut sich über Leo [Juds]Entscheidung [gegen Schwenckfeld]. Hat Bullingers Brief an Gervasius [Schuler] gesandt, der sich nicht verführen ließ. Schwenckfeld ist von vielen entlarvt worden und zürnt deswegen Blarer sehr. In Augsburg hat Musculus nichts mit Schwenckfeld zu tun, während Bonifacius [Wolfhart] ihn zu sehr begünstigt und beherbergt. Blarer dankt für Bullingers Kommentar [zu beiden Petrus-Briefen] und berichtet aus einem Brief des Ulmer Bürgermeisters [Georg Besserer]über einen Städtetag in Ulm und ein Bündnis von Augsburg, Nürnberg und Ulm. Grüße, besonders auch von der kranken Tante [Elisabeth Blarer], die Bullinger und Pellikan [1533]besucht hatten. Bittet, sich bei Bürgermeister Röist über Bernhard Sapidus, den Pfarrer im Sindelfinger Kloster, zu erkundigen.

Gratia Christi tecum.

Gratulor totis animis Leonem 1 adeo totum nostrum esse 2 ac dominum precor, ut velit id eum esse nobis perpetuo. Gervasio 3 misi tuas literas 4 per quendam 5 , qui suas 6 mihi reddiderat, quibus satis indicat, quam non sit captus picturatis istis verborum lenociniis. Schwenckfeldus non puto diutius fictam hanc personam substinuerit. Apertus prodire cogetur tot semel impellentibus et larvam detrahentibus 7 . Mihi iratissimus est, quod se apud tot ecclesias traduxerim. Mihi sat est, si propicium habeam Christum. Praestat certe unum S[chwenckfeldum]vel totum perire quam tot fratres ipsius ludificationibus decipi, quamquam et ipsum servatum cupio, si possum. Augustae dignam se sedem invenit 8 , quando illic cuivis quidlibet licet. Musculo 9 nihil

20 Hans Leemann und Jakob Graf; ausführlicher s. unten S. 1261, 2-20.
a Mit Randbemerkungen von J. H. Hottinger.
1 Leo Jud.
2 Anspielung auf Juds Abwendung von Schwenckfeld, vgl. oben S. 35, 24-26. 44, 9f und 82, 21f.
3 Gervasius Schuler.
4 Nicht erhalten.
5 Unbekannt.
6 Ein Brief Schulers an Blarer ist aus dieser Zeit nicht mehr erhalten.
7 Vgl. Warnungen Blarers und anderer vor
Schwenckfeld, z. B. HBBW III 219f. 238f. 255-258 und oben S. 81, Anm. 8 sowie CSch IV 847. V Preface S. XIlIf. 2. 143.
8 Schwenckfeld hielt sich, abgesehen von einer Reise nach Mindelheim und Memmingen (oben S. 81, Anm. 4), vom 2. Oktober 1533 bis Anfang Juni 1534 in Augsburg auf, s. CSch IV 847. V 103. 111.
9 Wolfgang Musculus (Müsli[n], Mäußli, Meusel, Dusanus, Eutyches Myon), 1497-1563, aus Dieuze (Lothringen), besuchte die Schulen in Rappoltsweiler, Colmar und Schlettstadt, wurde 1512


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rei est cum viro. Unus Bonifacius 10 impensius favet communicato etiam hospicio, qua re multum etiam autoritatis illi conciliat apud multos, maxime vulgus.
Sängerknabe im Benediktinerkloster Lixheim (Lothringen). Als Organist und Prediger studierte er dort von 1518 an Luthers Schriften. 1527 lehnte er die Wahl zum Prior ab, verließ Lixheim, heiratete und brachte sich als Weber durch, wurde Hilfsprediger in Dorlisheim (Elsaß), 1529 Helfer am Straßburger Münster, studierte Griechisch, Hebräisch und Theologie, reformierte Dossenheim (Elsaß). 1531-1548 wirkte er als Pfarrer in Augsburg. Er unterzeichnete zusammen mit Wolfhart 1536 für Augsburg die Wittenberger Konkordie, näherte sich wieder der zwinglischen Theologie, nahm an den Religionsgesprächen von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41 teil und geriet in eine literarische Fehde mit Cochläus. Ende 1544 reformierte er Donauwörth. Als Augsburg sich am 26. Juni 1548 dem Interim beugte, floh er nach Zürich. Er hielt sich kurz auch in Basel, Konstanz und St. Gallen auf und wurde am 9. Februar 1549 zum Theologieprofessor in Bern gewählt, wo er trotz Berufungen nach England und Deutschland als hervorragender, eine naturrechtliche Bibelexegese und Soziallehre pflegender Lehrer blieb und zum Begründer einer 1821 ausgestorbenen Berner Pfarrerdynastie wurde. Er vermittelte zwischen Bern und Calvin. Durch seine Bibelkommentare und seine Loci Communes (1560) gewann er Einfluß auf die Pfalz, Polen, Ungarn und über Thomas Erastus auf das englische und schwedische Staatskirchentum. Er übersetzte Werke griechischer Kirchenväter ins Latein; auch dichtete er Epigramme und Epitaphe und veröffentlichte Cosmas Alders Hymnenvertonung. Die ihm (in der unten angeführten Literatur) zugeschriebenen Kirchenlieder stammen jedoch von Wolfgang Mösel (s. unten S. 206, Anm. 5 und Nr. 423). Bullinger und Musculus führten von 1544 an einen regen Briefwechsel, von welchem über hundert Briefe von Musculus und einige von Bullinger erhalten sind. - Lit.: Wilhelm Theodor Streuber, Wolfgang Musculus oder Müslin. Ein Lebensbild aus der Reformationszeit, in: Berner Taschenbuch auf das Jahr 1860, 9. Jg., hg. von Ludwig Lauterburg, Bern 1860, S. 1-79; Z XI 335f, Anm. 26; Helmut Kreßner, Schweizer Ursprünge des anglikanischen Staatskirchentums, Gütersloh 1953. - SVRG 170, S. 45-72 (Die Weiterbildung des Zwinglischen Systems durch Wolfgang Musculus); Guggisberg 172-174 und Reg.; Richard Bäumlin, Naturrecht und obrigkeitliches Kirchenregiment bei Wolfgang Musculus, in: Für Kirche und Recht, Festschrift für Johannes Heckel zum 70. Geburtstag, hg. von Siegfried Grundmann, Köln-Graz 1959, S. 120-143; Paul Romane-Musculus, Catalogue des oeuvres imprimées du théologien Wolfgang Musculus, in: Revue d'Histoire et de Philosophie Religieuses, publiée par la Faculté de Théologie protestante de l'Université de Strasbourg, Bd. 43, Paris 1963, S. 260-278 und Bd. 46, 1966, S. 212; Robert B. Ives, The Theology of Wolfgang Musculus, Ph. D. Diss. University of Manchester 1965 (Maschinenschrift: S. 3-106 Biographie, S. 107-278 Theologie, S. 279-310 Brief- und Werkverzeichnis); Bopp 388, Nr. 3703; Hans Wiedemann, Augsburger Pfarrerbuch. Die Evangelischen Geistlichen der Reichsstadt Augsburg 1524-1806, Nürnberg 1962. - Einzelarbeiten aus der Kirchengeschichte Bayerns, Bd. 38, S. 30; [Emil] Blösch, in: ADB XXIII 95-97; [Wilhelm] Hadorn, in: RE XIII 581-585; O[tto] E[rich] Straßer, in: RGG IV 1194; HBLS V 204. 10 Bonifacius Wolfhart (Lycosthenes), um 1485-1543. Gebürtig aus Buchen (Baden, damals zum Bistum Würzburg gehörend), wurde er 1513 Lehrer in Friedberg (Wetterau), 1517 Student in Basel, 1520 Magister. Obwohl er verheiratet war, stellte ihn der Basler Rat 1522 als Kaplan zu St. Martin an. Am Palmsonntag dieses Jahres nahm er an einem Ferkelschmaus, einer Demonstration gegen die Fastengebote, teil. Er schloß sich eng an Oekolampad und Zwingli an und predigte auf Einladung Farels einige Tage in Mömpelgard. Wegen seines Sympathisierens mit Stephan Stör und den Bauern 1525 aus Basel ausgewiesen, begab er sich nach Straßburg, wo er Bucers Helfer zu St. Aurelien wurde, in Dettweiler predigte und von 1528 an Hebräisch lehrte. Mit Capito und Schwenckfeld schloß er Freundschaft. 1529 lehnte er eine Berufung nach Basel ab, folgte 1531 einer solchen nach Augsburg, wo er zu St. Anna und St. Stephan, ab 1534 zu St. Moritz predigte. Er beherbergte Schwenckfeld während dessen Augsburger Aufenthalt (s. oben Anm. 8). Obwohl Wolfhart eher zwinglisch gesinnt war, vertrat er Augsburg beim Abschluß der Wittenberger Konkordie 1536


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Pro luculentissimis ac prorsum eruditis commentariis tuis 11 gratiam, quam possum, tibi habeo miratus tuam illam divinam foecunditatem, qua alia super alia magno ecclesiarum dei fructu divulgas. Nos steriles hac quidem in re 12 molestissimis ac odiosissimis negociis perpetuo distringimur, et sequendum tamen, quo vocat dominus, cuius me voluntati totum permitto.

Consul Ulmensis 13 nudius tertius in haec verba inter caetera ad me scripsit: «Die püntischen stett 14 sind die tag hie gewesen, haben ain tag gehalten 15 und sich freuntlich mitt ainander bereddt, doch nichts beschlossen. Es will nitt yederman gelegen sein, sich mitt den päpstischen stetten und sonder mit denen, die brieff und sigel nitt halten b 16 , einzulassen in anichen 17 verstand 18 . || 38v. Man soll mehr uff gott und ehr sechen dann auff ain flaischliche che hand 19 . Gott geb gnad in dem und andern. Augspurg, Nürenberg und wir haben unßer pundtnuss volstreckt 20 . Hoff, es solle für unß und all ander erber 21 stett sein, das man dest minder etwas gegen in 22 fürnemen sölle.» Hactenus ille.

Tu, mi charissime et optime frater in Christo Iesu, cum castissima coniuge 23 ac tuis omnibus feliciter vale. Commenda me omnibus fratribus, inprimis Pellicano, pientissimo pectori, Leoni 24 , Theodoro 25 , comitibus tuis et reliquis. Salutant vos et commendari vobis cupiunt nostri omnes, praecipue

b Randbemerkung von Ambrosius Blarer: Uberlingenses intelligit.
und 1537 in Schmalkalden, von wo er Bucer zu Luther in Gotha begleitete. Auf dem Weg dorthin schrieb er seinen einzigen Brief an Bullinger. Im Alter war er oft kränklich. Er starb 1543 auf dem Weg zu einer Badekur in Weil der Stadt. - Lit.: K[arl] Wolfart, Beiträge zur Augsburger Reformationsgeschichte, in: Beiträge zur bayerischen Kirchengeschichte, hg. von Theodor Kolde, Bd. VII, Erlangen 1901, S. 167-180. VIII, 1902, S. 97-114. 145-161; Z VII 509. VIII 127 und Reg.; QGT VIII Reg.; CSch IV 847. V 103f; Johannes Ficker und Otto Winckelmann, Handschriftenproben des sechzehnten Jahrhunderts nach Straßburger Originalen, Bd. II, Straßburg 1905, S. 64; Bopp 598, Nr. 5734; Wiedemann, aaO, S. 46. 50. 58f; Friedrich Roth, Augsburgs Reformationsgeschichte, 4 Bde., München 1901-1911, Nachdruck: München 1974, Reg.; Pollet, Bucer II 254-266 und Reg.; HBLS VII 587.
11 In Bullingers «Commentarius in Petri epistolam utramque» (HBBibl I 52) ist die Widmungsvorrede auf März 1534 datiert.
12 Blarer veröffentlichte keine theologischen Schriften, s. Bernd Moeller, Ambrosius Blarer, 1492-1564, in: Blarer-Gedenkschrift 19f.
13 Bürgermeister von Ulm war 1534 Georg Besserer (s. oben S. 44, Anm. 7). Sein Brief ist nur im nachfolgenden Zitat teilweise erhalten.
14 Städte des ehemaligen Schwäbischen Bundes.
15 Vom 21. bis 24. März 1534 fand ein Städtetag des gewesenen Schwäbischen Bundes in Ulm statt, s. Fabian, Städtetage III 119-130.
16 Von den 23 in Ulm erschienenen Städten waren nur Überlingen und Schwäbisch Gmünd eindeutig katholisch, s. Fabian, Städtetage III 123, Anm.*; vgl. 30f, Anm. 54 und 129f.
17 irgendein (SI I 280). 18 Abkommen, Vertrag (SI XI 987f).
19 menschliche Macht. Vgl. 2Chr 32, 8.
20 Das bereits im Mai 1533 geschlossene, zunächst geheimgehaltene Dreistädtebündnis wurde weitergeführt und gestärkt (vgl. Grimm XII/II 716f; ferner SI XI 2171f), s. Karl Wolfart, Die Augsburger Reformation in den Jahren 1533/34, Leipzig 1911. - Studien zur Geschichte der Theologie und der Kirche, Bd. VII/2, S. 36f. 73f. 79f. 84.
21 ehrbare (hier als Titulatur verwendet).
22 gegen den Bund von Augsburg, Nürnberg und Ulm.
23 Anna Bullinger, geb. Adlischwyler.
24 Leo Jud.
25 Theodor Bibliander


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uxor 26 , frater 27 , soror 28 , patruelis 29 et aegrota illa amita 30 , apud quam cum Pellicano fuisti 31 , quae inter acerbissimos dolores vestras sacras precationes anxia flagitat, ne tanta cruciatuum pertinacia frangatur tandem, quod absit christiana tolerantia. Mirum defectae iam aetatis mulierem tot malis perferendis sufficere posse.

Iterum iterumque vale.

Ultima martii 1534.

Fac, roges ex consule Röstio, num secum iam sit aut fuerit hisce diebus Bernhardus quidam Sapidus 32 , parochus apud Syndelfingenum canonicorum regularium coenobium 33 . Nam scire istuc vehementer aveo. Caussam suo tempore cognosces. Affirmavit hic vocatum se a Röstio Tigurum, quod consobrinus illi sit 34 etc.

T. Ambrosius Blaurerus.

[Adresse auf f. 39v.:] Clarissimo viro d. Heinricho Bullingero, Tiguricensi episcopo, observando fratri in Christo.