Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

19

LEO JUD AN
BULLINGER
[Zürich,
Mai / Juni 1526]2

Autograph: Zürich ZB, Msc F 62, Nr. 344a 1/2 fol. S., sehr gut erhalten, mit Siegelabdruck Gedruckt: Salomon Heß, Erasmus von Roterdam nach seinem Leben und Schriften. Zweyte Hälfte, Zürich 1790, S. 600f

Lobt Bullingers Fleiß in der literarischen Bekämpfung der Katholiken, schickt sein Büchlein «Des ... Erasmi von Roterdam und Doctor Luthers maynung vom Nachtmal ... 1526» und bittet um Ergänzungen für eine geplante erweiterte lateinische Auflage.

Gratiam ac pacem a deo per Christum.

Diligentiam a tuam in veterum scriptis vehementer laudo, optime frater (sic adpellari volo, nam quod me praeceptorem tuum vocas, minime agnosco), fortia enim sunt contra papistas iacula, nimirum quibus ipsi ut columnis nituntur 3 . Sed non video, quid contra insensatos illos ac plane stipites satis forte sit, qui ita omnem humanitatis sensum exuerunt, ita toti ad omnem veritatem obriguerunt, ut non beluas eos ac feras, sed truncos potius dicere possis. Quedam ferro, quedam sanguine molliuntur, ut de adamante ferunt 4 , neque beneficiis ducuntur neque poenis tenentur 5 .

Iam quoniam te video totum huc spectare, ut gloria Christi quam latissime propagetur, rogo te, ut, si quid ex lectione Erasmica 6 aut Lutherana 7 collegeris

a darüber und weiter unten am Rande Inhaltsnotizen von J. H. Hottinger.
1 Siehe oben S. 55, Anm. 1.
2 Die Datierung wird vor allem durch die Erwähnung der Übersendung von Juds Schrift «Des ... Erasmi von Roterdam und Doctor Luthers maynung vom Nachtmal unsers Herren . . . » vom 18. April 1526 an Bullinger ermöglicht. Auch scheint der Brief vor der Veröffentlichung der Gegenschrift des Erasmus (im Juni) entstanden zu sein, oder zumindest bevor Jud davon Kenntnis erhielt (zur Geschichte der Auseinandersetzung s. unten Anm. 8). Außerdem bezieht sich der Anfang des Briefes sehr wahrscheinlich auf Bullingers Ende April 1526 erschienene Schrift «Vergleichung der uralten und unserer Zeiten Ketzereien» (s. unten Anm. 3). Demnach fällt die Entstehung dieses Briefes zweifellos auf Mai oder Juni 1526, wobei man vielleicht eher Mai bzw. erste Hälfte Juni annehmen könnte (s. noch unten Anm. 8).
3 Der Satz bezieht sich wahrscheinlich auf die kurz vorher erschienene Schrift Bullingers «Vergleichung der uralten und unserer Zeiten Ketzereien» (s. HBBibl 1). Das Manuskript hatte Bullinger am 23. April dem Drucker übergeben. Schon am 2. Mai konnte er ein gedrucktes Exemplar seinem Schulfreund Peter Homphäus zuschicken (s. oben S. 113,1ff). Das Werk gab er unter dem Pseudonym Octavius Florens in deutlicher Anlehnung an Q. Septimius Florens Tertullianus heraus (s. Staedtke 280). Juds Anerkennung betrifft offenbar die Tendenz dieser Schrift, die Autorität des Kirchenvaters von den Katholiken nicht mehr für sich in Anspruch nehmen zu lassen, sondern vielmehr die Übereinstimmung Tertullians mit der reformatorischen Lehre nachzuweisen.
4 Vgl. Otto 4, Nr. 17.
5 Gemeint sind die Katholiken; der Ausbruch Juds gegen sie wird aus der Atmosphäre um die Badener Disputation (19. Mai bis 8. Juni 1526) verständlich. — Ein Zusammenhang zwischen diesem Brief Juds und dem kurzen Schreiben Bullingers vom 11. Mai 1526 (s. oben Nr. 18) besteht nicht. Wohl schreibt Bullinger dort in ähnlicher Weise vom Fanatismus der Katholiken, besonders des «blutrünstigen» Generalvikars Johannes Fabri, doch läßt sich diese Ähnlichkeit aus der allgemeinen Stimmung unter den Evangelischen hinlänglich erklären, s. oben S. 115, Anm. 2-3.
6 Zu Bullingers Einstellung zu Erasmus s. oben S. 86,25ff und S. 88, Anm. 45.
7 Zu Luthers Einfluß auf Bullinger s. Staedtke 46-48 u. ö.; Hausammann 23f. 192-198. 203ff. 211ff.


Briefe_Vol_01-118arpa

atque memorie (qua plurimum vales) mandaveris, quod b ad eucharistiam adtinet, ocyssime ad me mittas. Nam illorum de eucharistia sententiam hoc libellulo, quem ad te mitto, christianis proposui, ut omnes videant quid ambo de hac re olim apud se senserint, ac si sapere velint, nobis accedant 8 . Volo enim quae hic breviter congessi et quasi gustanda praebui, diligentius ac fusius tractare, idque latine 9 , ut sic vel hypocritis tandem persona detrahatur aut certe infirmitas sanetur.

Vale, charissime Henrice.

Leo Jud tuus.

Que tibi scripsi, lapidi dixerim 10 .

[Adresse auf der Rückseite:]Heimr[ycho] fratri suo c .

b vor quod gestrichen ut me.
c in der oberen Ecke rechts z. T. unlesbare Notizen Juds; der Anfang ist abgeschnitten bzw. durch die buchbinderische Einfassung unzugänglich: — — — meß [?] sye testamentum et signum dei ad vestrum [s. Lk 22,20f; 1 Kor 11,24f u. a.], das ist nitt [?] unser wort noch werk, sondern gottes wort, durch welche er das allein machet, wenn wir sy sprechend [?]. Item dat [?], quod missa non sine [?] — — — bonum opus est [?], edere coenam Christi in fide est bonum opus. Solte er allemal herab vom himmel kommen [?], inen selbs [?]segnen 11 ?
8 Es handelt sich hier um das unter dem Pseudonym «Ludovicus Leopoldi, Pfarrer von Leberau» herausgegebene Büchlein Juds: «Des Hochgelerten Erasmi von Roterdam / und Doctor Luthers maynung vom Nachtmal unsers Herren Jesu Christi / neuwlich außgangen auff den XVIII. tag Aprellens», 1526 (2. Aufl. 1543). Jud wollte mit dieser Schrift den Beweis einer Übereinstimmung des Erasmus mit Luther und auch Zwingli in der Abendmahlslehre erbringen. Er versuchte dies auf Grund von Äußerungen in den Frühschriften des Erasmus, wobei er freilich der Gedankenwelt des Humanisten nicht immer gerecht wurde. Der empörte Erasmus, der sich nicht einmal über die Identität des Autors im klaren war und Pellikan (s. unten S. 201f, Anm. 11) in Verdacht hatte, antwortete im Juni mit der Schrift: «Praestigiarum libelli cuiusdam detectio» (LB X 1557-1572). Sie erschien bald auch in deutscher Übersetzung. Erasmus beteuerte, daß er mit seinen Äußerungen den Boden der katholischen Lehre über die Realpräsenz nie verlassen habe. Jud antwortete in seinem Büchlein: «Uf entdeckung Doctor Erasmi von Roterdam / der dückischen arglisten / eynes tütschen büchlins / antwurt und entschuldigung Leonis Jud», 1526. Er wies die Beschuldigungen wegen der anonym herausgegebenen Schrift zurück und suchte die Gegenargumente des Erasmus zu entkräften. Er würde auf diese Antwort verzichtet haben, hätte man nicht mit einer deutschen Übersetzung, die ungenau und tendenziös verschärft sei, eine Massenwirkung erzielen wollen (Bl. a iij r. - v.). Erasmus antwortete nicht mehr, so daß die Kontroverse damit ein Ende nahm. Obwohl die Schriften Juds bei Erasmus nichts fruchteten, hatte seine Aktion ihr heimliches Ziel erreicht: Die Autorität des großen Gelehrten konnte auf der Badener Disputation nicht gegen die Evangelischen ausgenützt werden. Kurz nach Erscheinen der ersten Schrift Juds lehnte Erasmus die Teilnahme an der Disputation mit Berufung auf seine schlechte Gesundheit ab, s. Köhler, ZL 1143-150; Willehad Paul Ecken, Erasmus von Rotterdam, Werk und Wirkung, Bd. II, Köln (1967). — Zeugnisse der Buchkunst, 4. Buch, S. 385 f; Schriften und Gegenschriften ausführlicher zitiert bei Salomon Heß, Erasmus von Roterdam nach seinem Leben und Schriften, Zweyte Hälfte, Zürich 1790, S. 271-293. — Auf Grund von Juds Bitte (s. Brieftext) ist anzunehmen, daß Bullinger zu seiner Antwort an Erasmus theologisches Material beigesteuert hat, s. Köhler, ZL I 149. Diese Bitte erfolgte aber nicht im Hinblick auf die Gegenschrift des Erasmus vom Juni 1526, da Jud hier offenbar noch nichts von deren Erscheinen wußte und sogar seine Anonymität gewahrt haben wollte (s. unten), was ja nachher in seiner Antwort nicht mehr der Fall war. Eine Datierung auf Juni (Köhler, ZL 1149, Anm. 3) erscheint also schon aus diesem Grunde nicht zwingend.
9 Dazu hatte Jud keinen Anlaß mehr, da Erasmus schwieg und im Abendmahlsstreit keine Rolle mehr spielte (s. oben Anm. 8; auch Köhler, ZL 1150).
10 Vgl. Otto 185f, Nr. 911. Dieser Wunsch betrifft zweifellos die Geheimhaltung seines Namens als Verfasser.
11 Diese fragmentarischen Notizen Juds waren nicht für Bullinger bestimmt und befanden sich nur zufällig auf der Rückseite des Briefes. Sie sind nicht den vier gedruckten Schriften dieser Kontroverse (s. oben Anm. 8) entnommen und stehen auch in keiner direkten Beziehung zu diesen.