Heinrich-Bullinger-Briefwechseledition, Universität Zürich © Heinrich Bullinger-Stiftung Arpa Bibliothek Textbreite Schriftgröße

[2193]

Johannes Gast an
Bullinger
Basel,
9. Juli 1545

Autograph: Zürich StA, E II 366, 226 (Siegelspur) Ungedruckt

Dass Gast auf zwei Briefe Bullingers nicht antwortete, lag nicht an [Capilupis "De vita monachorum"], ein Werk, das Gast sehr erheiterte, wofür er auch Zeugen anführen könnte. Gast hat indes bereits drei Briefe [an Bullinger] gesandt, ohne eine Antwort zu erhalten. Schuld sind die Boten und Bullingers Amtspflichten. Einem Bruder [...] aus dem Bernbiet zufolge kursiert dort ein von [Martin] Bucer (vermutlich an [Simon] Sulzer) geschriebener Brief gegen Bullingers [,,Warhafftes Bekanntnuß"], in dem viele von Bullinger angeblich falsch behandelte Stellen erhellt werden und [in dem außerdem stehe], dass Bullinger bzw. die Zürcher Luther auf kindische Weise antworteten; dadurch verlieren (so Sulzer) die Zürcher und ihre Lehre an Autorität und Glaubwürdigkeit. Falls Bullinger diesen oder einen [anderen] Brief von Bucer hat, soll er ihn Gast zukommen lassen; anderenfalls soll Bullinger sich heimlich nach Bucers Brief erkundigen. Gast vernimmt mit Schmerz die Uneinigkeit zwischen den [Zürchern] und [Theodor]Bibliander, hat aber dieser Tage gehört, dass die Sache beigelegt worden sei. Bullinger soll die Seuche [der Zwietracht] nicht zulassen! Gast erwartet Nachrichten aus Straßburg. [P.S.:]Bullinger möge auch etwas von seiner derzeitigen Arbeit über die Heilige Schrift mitteilen.

S. in domino.

Conquestus es binis literis 1 , quod ne greek 2 responderim, et merito quidem, nam timebas me exacerbatum esse propter carmen transmissum 3 quod non modo me summe exhilararet, sed etiam summa voluptate afficeret. Testes possem adducere, quibus communicaram carmen; sed valeant haec Verum iam ternas 4 ego misi et ne verbulum absque te extorquere possum; sed omnem culpam in a tabelliones reiicio et in tua negotia.

Habeo autem aliquid, quod te celare non possum; tua enim praecipue res agitur, et nomen tuum denigratur. Quidam 5 ex agro Bernatum, syncerus frater, ad me dixit epistolam 6 quandam spargi apud illos, quam scripsisse aiunt b Bucerum contra tuum libellum 7 in qua multi loci perperam a te tractati

a in über der Zeile nachgetragen.
b aiunt über der Zeile nachgetragen.
1 Nicht erhalten.
2 Adagia, 1, 8, 3 (ASD 11/2 234, Nr. 703).
3 Zu Capilupi, De vita monachorum, und zu Gasts Reaktion darauf s. zuletzt oben Nr. 2183, 2-6 und Anm. 1.
4 Entweder oben Nr. 2148 vom 27. April 1545 oder ein nicht erhaltener Brief, sowie die beiden letzten Briefe Gasts an Bullinger vom 18. und 25. Juni, oben Nr. 2183 und 2188.
5 Unbekannt.
6 Unbekannter Brief Bucers. Vielleicht kommt aber auch Bucers Brief an Bullinger vom 13. Dezember 1544 (HBBW XIV, Nr. 2049) in Frage, wenn in Betracht gezogen wird, dass Bullinger auf die vorliegende Anfrage hin Gast den erwähnten Brief Bucers zukommen ließ (s. unten Nr. 2214, 2-9), und dass ausgerechnet dieser Brief Bucers mit ausgebrochenem Siegel nach Zürich gelangte (s. oben Nr. 2096,3). Demzufolge könnte davon heimlich eine Abschrift angefertigt und nach Bern gesandt worden sein.
7 Das "Warhaffte Bekanntnuß" bzw. dessen


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elucidantur, dein te aut Tigurinos pueriliter Luthero respondisse et alia huiusmodi dicteria habet epistola; quam aiunt Sulcero missam et a Sulcero spargi, quo Tigurini et illorum doctrina autoritatem amittant, et apud illos, qui bene volunt ecclesiis Christi, dubitatio de vestra doctrina oriatur. Novi enim satane in hac re consilia, etsi Sulcerum illius rei autorem non facio, cum certi nihil habeam; sed ita coniicio. Si eam epistolam habes aut a Bucero ad te scripta est, 8 oro, eam mihi communices; brevi reddam et nemini ostendam. Si c autem eam nondum vidisti, expiscare clam de illa epistola; absque dubio illam tibi communicabunt.

Praeterea d audio et cum summo dolore percipio dissensionem vobis esse cum Theodoro 9 nostro! 10 Qui hoc fiat, divinare non possim, sed, [deo]e sit laus, iterum iis diebus audivi rem omnem esse inter vos composi[tam] optime et felicissime. Domino sit laus in perpetuum. O charissime frater, ne sinas pestem hanc vos invadere! Tu, qui potiores partes habes, qui antecellis doctrina et prudentia reliquos, resiste totis viribus. Satan vos turbare vult et cribrare, 11 et dominus probare vos conatur f . an constantes esse velitis in opere domini.

c Von Si bis communicabunt am Rande nachgetragen.
d Inder Vorlage Praepterea.
e Text hier und im Folgenden durch Ausschnitt des Siegels verloren. Fehlende Stellen ergänzt aus der Abschrift von Johann Jakob Simler (Zürich ZB, Ms S 57, 156). f vos conatur über der Zeile nachgetragen. lateinische
Fassung, die "Orthodoxa Tigurinae ecclesiae confessio"; s. oben Nr. 2061, Anm. 9. — Handelt es sich aber bei dem hier erwähnten Brief Bucers um den vom 13. Dezember 1544 (s. Anm. 6), dann war derselbe Brief nicht gegen die bereits gedruckten Fassungen der Zürcher Antwort gerichtet, sondern gegen das Vorhaben, eine solche zu verfassen. Ferner müsste angenommen werden, dass Gast beim Lesen des an ihn gerichteten, oben erwähnten Briefs eines Bruders (s. Z. 9f) die dort ebenfalls vorhandenen Angaben zu Bucers Meinung über die Antwort der Zürcher, die hier unten Z. il-13 wiedergegeben sind (zu vergleichen mit Bucers Aussagen in oben Nr. 2131), durch ein Missverständnis mit Bucers zirkulierendem Brief vom 13. Dezember 1544 in Zusammenhang brachte.
8 Über das "Warhaffte Bekanntnuß", die Haltung der Zürcher gegenüber Luther
und andere damit verbundene Themen äußerte sich Bucer in seinem Brief an Bullinger vom 9. April 1545; s. oben Nr. 2131. Ob Bullinger den Brief an Gast weiterleitete oder ihm Mitteilung davon machte, ist nicht bekannt.
9 Theodor Bibliander.
10 Hier wird erneut ein Dissens zwischen Bibliander und den Zürchern angesprochen, der im Sommer 1545 ausbrach und bis ins Jahr 1546 andauerte. Bibliander wich angeblich in Hinsicht auf die Vorsehung und die Prädestination von seinen Kollegen ab und wurde von einem nicht bekannten Kollegen (vermutet wird Otto Werdmüller) angegriffen, woraufhin er entschlossen war, Zürich zu verlassen. Doch Bullinger konnte Bibliander zum Verbleib in Zürich bewegen; Bibliander erlangte am 8. November 1546 das Bürgerrecht der Stadt. Zur Angelegenheit s. oben Nr. 2189 und Egli, Analecta II 75-78. Später polemisierte Bibliander gegen Peter Martyr Vermigli, "der seit 1556 als Professor der Theologie und Philosophie in Zürich das Präsdestinationsdogma in der streng calvinischen Fassung vortrug". Bibliander wurde deshalb 1560 pensioniert bzw. abgesetzt, musste Zürich aber nicht verlassen; s. BBKL 1577.
11 Lk 22. 31.


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Vale in domino et rescribe omnibus de rebus. Novi nihildum ab Argentina accepi, sed in singulos dies literas expecto. 12 Hiis lectis si quid dignum scitu et veritatem habent g, te non celabo.

Basileae, 9. iulii 1545.

Tuus Gastius ex animo.

Rescribe etiam, quid iam in sacras scripturas mediteris sub prelumque daturus sis. 13

[Adresse auf der Rückseite:] Doctissimo ac humanissimo viro d. Heynricho Bullingero, ecclesiae Tigurinae pastori vigilantissimo et fratri suo charissimo. Zurich.