Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

VOLKSMÄRCHEN DER KABYLEN

III. BAND

DAS FABELHAFTE

HERAUSGEGEBEN VON LEO FROBENIUS

1921

VERLEGT BEI EUGEN DIEDERICHS/JENA



Atlantis Bd_03-0004 Flip arpa

EIN BAND ZEICHNUNG VON F. H. EHMCKE


50. Die Fischjungfrau

Ein Agelith hatte einen Sohn, der hieß Akkarui (Kopf) — Buthluva (dessen Gedanken unruhig sind, theluva [unruhige]). Der Vater liebte ihn sehr. Akkarui-Buthluva war ein starker und tapferer (ithad resp. thätha) Bursche, der alle Tage auf die Jagd ging. Der Bursche wuchs heran. Eines Tages kam er zu seinem Vater und sagte: "Mein Vater, erlaube mir eine Wanderung zu machen." Der Agelith sagte: "Mein Sohn, du bist noch zu jung. Hier herum ist es schön. Weiter fort gibt es dann nur noch Kraut und Wald. Warte, bis du älter bist, dann wirst du selbst sehen, daß es hier am besten ist." Der Bursche sagte: "Mein Vater, laß mich gehen."

Nachdem der Bursche seinen Vater lange gebeten hatte, gab er endlich seine Zustimmung. Der Bursche rüstete sich, nahm Essen mit sich, kam zu seinem Vater, nahm von ihm Abschied und sagte: "Mein Vater, ich schwöre dir, daß ich nicht eher zurückkommen werde, ehe ich nicht eine gute Frau gefunden habe." Dann wanderte der Bursche fort.

Der Bursche wanderte weit weg. Er kam in ein wildes Land. Er



Atlantis Bd_03-267 Flip arpa

aß alle seine Vorräte auf und hatte nur noch eine Dattel. Nachdem er ein halbes Jahr gewandert war, kam er an eine Kreuzung des Weges. Auf der Kreuzung saß ein alter Mann. Der Bursche fragte den alten Mann: "Wohin führt dieser Weg und wohin führt jener Weg ?" Der alte Mann sagte: "Der Weg nach dieser Seite führt zu den sieben Meeren; der Weg nach jener Seite führt zu den wilden Tieren; ich rate dir, kehre auf dem Wege, den du gekommen bist, wieder zurück; der führt dich wieder heim." Der Bursche sagte: "Den Weg, den ich gekommen bin, will ich nicht wieder zurückkehren. Ich werde den Weg nach dem Meere zu einschlagen."

Der Bursche wanderte also auf dem Wege dem Meere zu. Am Meere angelangt, machte er aus seinen Kleidern einen Gürtel, warf ihn vor sich hinein und sprang hinterher. Der Gürtel trug ihn, und so trug ihn das Meer mit seinen Wellen weit fort, bis er in einen Hafen nahe einem großen Orte wieder an das Ufer getrieben wurde. Als er sich am Ufer umsah, fand er, daß neben ihm vorher schon eine Kiste ans Ufer getrieben war. Er öffnete sie und fand, daß sie mit Gold gefüllt war.

Der Bursche packte seine Kiste auf und ging in den Ort. Er suchte in dem Orte einen Kaffeewirt auf und mietete bei diesem ein Zimmer. Das Haus des Kaffeewirtes lag aber gerade gegenüber dem Hause des' Agelith, der eine wunderschöne Tochter hatte. Diese Tochter war schön wie der Mond (ajur; Sonne =etäisch). Diese hatte die Eigenart, daß sie immer einen Monat lang schlief und einen Monat lang wachte. Ihr Vater wußte aber, daß die Tochter ihre Zeit so lange in dieser Weise verbringen würde, bis sie heiratete; dann erst würde sie wie andere Menschen tagsüber wachen und nachts schlafen.

Eines Tages nun sah die Tochter des Agelith zum Fenster heraus. Sie sah Akkarui-Buthluva zum Bade gehen. Das Mädchen erschrak und sagte bei sich: "Dieser Mann ist so schön wie ein Stern. Diesen Mann will ich heiraten." Das Mädchen ließ ein Weizenkorn fallen. Der Bursche sah es. Er sah empor. Er sah das Mädchen und sagte bei sich: "Dieses Mädchen ist schön wie der Mond; dieses Mädchen muß ich heiraten." Der Bursche hob das Weizenkorn auf und steckte es in den Mund.

Die Tochter des Agelith rief ihre Negerin und sagte: "Gehe morgen sogleich zu dem jungen Manne, der bei dem Kaffeewirt wohnt und sage ihm, die Tochter des Agelith wolle ihn sprechen." Die Negerin machte sich auf den Weg. Inzwischen kam der Bursche wieder an



Atlantis Bd_03-268 Flip arpa

dem Hause des Agelith vorbei. Er sah die Tochter des Agelith am Fenster. Er nahm das Weizenkorn aus dem Mund und zeigte es ihr. r zeigte ihr, daß er das Weizenkorn nicht gegessen habe. Er sagte damit: "Ich habe das Weizenkorn nicht verschluckt, sondern trage es in mir; so sind dein Herz (ul) und mein Herz zusammen." Die Tochter des Agelith verstand ihn.

Die Negerin kam inzwischen über den Markt. Sie rief hinter dem burschen her. Der Bursche hörte nicht. Die Negerin rief wieder und Sagte, als sie dicht bei ihm war: "Ich muß mit dir sprechen." Der bursche fuhr auf. Er dachte an die schöne Tochter des Agelith. Er ärgerte sich über die Negerin. Er gab ihr eine Ohrfeige, daß sie zitterte. Die Negerin sagte: "Weshalb schlägst du mich, wo ich dir Nachricht von der schönen Tochter des Agelith bringe ?" Der Bursche erschrak nun auch und sagte: "Das wußte ich nicht. Komm mit mir." Der Bursche nahm die Negerin mit in seine Kammer, öffnete Seine Kiste und schenkte ihr eine Hand voll Gold. Die Negerin lief zurück zu ihrer Herrin und sagte: "Das Weizenkorn sagt: ,Mein Herz ist dein Herz. Ich werde dich heiraten."

Am andern Tage sandte die Tochter des Agelith ihrem Vater eine Granatfrucht (Plur. thermanin; Sing.: tharment); die war auf einer Seite noch gut, aber auf der andern schon eingetrocknet. Der Vater betrachtete die Frucht. Er wußte nicht, was das bedeuten solle. Er rief einen Amrar asemeni und fragte ihn. Der Amrar asemeni sagte: "Deine Tochter will mit der halbreifen, halbüberreifen Frucht sagen, daß es für sie Zeit sei, zu heiraten." Der Agelith ließ seine Tochter rufen. Er sagte zu seiner Tochter: "Du willst heiraten?" Die Tochter sagte: "Ja, ich möchte heiraten." Der Agelith sagte: "Meine Tochter, du weißt, was ich geschworen habe. Ich habe geschworen, dich nur dem zur Ehe zu geben, der mir hundert Sack Bohnen von den Juden jenseits des Meeres bringen würde. So schwor ich, und so werde ich es halten."

Die Tochter ging. Sie rief ihre Negerin und sagte: "Geh hinüber und sage zu dem Burschen im Kaffeehaus, mein Vater bestände darauf, mich nur dem zur Frau geben zu wollen, der ihm hundert Sack Bohnen von dem Juden jenseits des Meeres bringen würde." Die Negerin ging. Sie sprach mit dem Burschen. Der Bursche ward traurig.

Akkarui Buthluva ging an das Meer. Er ging am Meere hin und überlegte, wie er wohl in das Land des Juden jenseits des Meeres kommen könne, denn damals gab es noch keine Schiffe. Es fiel ihm



Atlantis Bd_03-269 Flip arpa

nichts ein. Er wurde schwer betrübt und setzte sich am Meere nieder. Er blieb am Ufer liegen, bis es Nacht wurde. In der Nacht kam die Tochter des Agelith der Jjenuen (Aledjeni der Sudaner) neben dem Burschen aus dem Wasser. Sie sah die Schönheit Akkarui Buthluvas und setzte sich neben ihn auf das Ufer.

Die Tochter des Agelith der Jjenuen sagte zu Akkarui Buthluva: "Was fehlt dir?" Der Bursche war aber so traurig, daß er auf die Frage nicht hörte und nicht antwortete. Die Tochter des Agelith der Jjenuen fragte zum zweiten Male: "Akkarui Buthluva, was fehlt dir?" Sie wiederholte die Frage zum dritten Male. Der Bursche antwortete nicht.

Die Tochter des Agelith der Jjenuen sagte endlich: "Akkarui Buthluva, ich schwöre dir, daß ich dir jeden Wunsch erfüllen werde, wenn du mir versprichst, mich nachher zu deiner Frau zu machen." Akkarui Buthluva wandte den Kopf zur Seite. Er sah, daß das Mädchen sehr schön war. Er sagte: "Der Agelith dieser Stadt will mir seine Tochter nur dann zur Frau geben, wenn ich ihm hundert Sack Bohnen des Juden jenseits des Meeres bringe. Wenn du mir behilflich bist, diese hundert Sack Bohnen von dem Juden jenseits des Meeres zu bringen, so werde ich dich zu meiner Frau machen. Das schwöre ich dir!"

Das Jjenuen-Mädchen sagte: "Ich werde dich zu dem Juden hinüberbringen. Steige auf meinen Rücken." Akkarui Buthluva stieg auf den Rücken des Jjenuen-Mädchens. Das Mädchen sagte: "Schließe die Augen." Akkarui Buthluva schloß die Augen. Nach einiger Zeit sagte das Mädchen: "Nun öffne die Augen wieder." Akkarui Buthluva öffnete die Augen und sah, daß er sich im Lande des Juden jenseits des Meeres befand.

Akkarui Buthluva ging mit dem schönen Mädchen in die Stadt des Juden. Er heiratete das schöne Mädchen. Er blieb mit ihr dort zwei Jahre und sie schenkte ihm zwei Knaben. Er war mit seiner jungen Frau sehr glücklich. Aber die Säcke mit den Bohnen wußte er zunächst nicht zu gewinnen. Der Jude bewachte diese Bohnen sehr ängstlich. Tagsüber blickte er selbst überall nach dem Rechten. Nachts über aber ging eine Katze umher, die trug ein Licht und huschte überall hin. Die Katze ließ das Licht nicht hinfallen und ausgehen. Auch wenn eine Ratte vorbeilief, kümmerte sie dies nicht. So konnte der Jude ruhig und unbesorgt schlafen.

Der Jude konnte sich auf seine Katze so bestimmt verlassen, daß er im ganzen Lande hatte ausrufen lassen: "Wem es gelingt, meine



Atlantis Bd_03-270 Flip arpa

tatze zu bewegen, ihr Licht fallen zu lassen, dem gebe ich alle meine Schätze. Wer es aber versucht und in einer Nacht nicht erreicht, den lasse ich töten und alles, was er besitzt, fällt mir zu." Viele Leute hatten es versucht. Aber niemand hatte es vermocht, die Katze in einer Nacht dazu zu bringen, ihr Licht fallen zu lassen. Sie hatten alle ihr Leben eingebüßt und ihre Besitztümer dem Juden geben müssen, der so der Herr über alle Menschen in diesem Lande geworden war und dem alles Land und alle Schätze des Landes gehörten.

Eines Tages sagte Akkarui Buthluva zu seiner jungen Frau: "Ich muß daran denken, die hundert Säcke Bohnen von dem Juden zu erhalten." Die junge Frau sagte: "Es ist wahr. Gehe also zu dem Juden und wette mit ihm, daß es dir in einer Nacht gelingen würde, die Katze zu bewegen, das Licht fallen zu lassen. Setze du deinerseits deinen Kopf zum Pfande. Verlierst du, möge er dich töten. Bedinge dir aber aus, daß, wenn du gewinnst, du von ihm nehmen kannst, was du willst."

Akkarui Buthluva ging zum Juden. Er sagte zu dem Juden: "Ich will mit dir wetten, daß es mir gelingt, deine Katze in einer Nacht zu bewegen, ihr Licht fallen zu lassen. Wenn es mir nicht gelingt, kannst du mich töten. Wenn es mir aber gelingt, werde ich von dir nehmen, was ich will." Der Jude sagte: "Die Wette ist mir recht. Du wirst sie, wie alle andern, verlieren; aber du hast eine junge, sehr schöne Frau, die werde ich so erhalten."

Als es Abend war, ging der Jude in sein Zimmer und legte sich nieder zum Schlafen. Im Vorzimmer saß die Katze und hielt ihr Licht. Um die Katze aber hockten die Zeugen nieder, die sich versammelt hatten, um zu sehen, wie die Sache diesmal wieder ablaufen würde. Akkarui Buthluva kam aber nicht in die Kammer, in der die Katze mit ihrem Licht war. Akkarui Buthluva stieg auf das Dach des Hauses, machte oben in die Decke ein Loch und ließ von dort aus eine an einen Strick angebundene Ratte (arrartha; Plur. irrathäjui; Katze =amschisch; Plur. imschäsch; Licht =thäschemath; Plur. thäschemahin) herab. Die zappelnde Ratte hielt er gerade der Katze vor den Kopf und den Mund.

Die Katze sah die Ratte. Die Katze roch die Ratte. Die Katze blieb unbeweglich sitzen. Um Mitternacht begann Akkarui Buthluva die Ratte am Strick ein wenig zappeln zu lassen. Die Katze blinzelte. Als es gegen morgen war, begann Akkarui Buthluva die Ratte an dem Strick allmählich in die Höhe zu ziehen. Die Katze verlor den



Atlantis Bd_03-271 Flip arpa

Geruch der Ratte ein wenig aus der Nase. Als die Ratte immer weiter weggezogen wurde, ließ sie plötzlich das Licht fallen, sprang in die Höhe und packte die Ratte. Das Licht verlosch.

Die Zeugen liefen sogleich zu dem Juden, weckten ihn und sagten "Die Katze hat das Licht fallen lassen. Das Licht ist ausgegangen; der Bursche Akkarui Buthluva hat die Wette gewonnen."Der Jude sprang entsetzt auf. Er lief herzu und sagte zu Akkarui Buthluva. "Du hast gewonnen. Nun suche dir aus meinen Reichtümern aus, was dir gefällt." Akkarui Buthluva sagte: "Du irrst dich, Jude! Ich will nicht nur alle deine Reichtümer; ich will auch dich selbst. DU hast unbarmherzig alle töten lassen. Nun werde ich dich töten lassen." Der Jude schrie und heulte. Die Leute aber liefen in der Stadt umher und riefen jubelnd: "Der Jude ist der Sklave Akkarui Buthluvas geworden. Akkarui Buthluva wird den Juden töten lassen. Akkarui Buthluva ist der Herr aller Lande und aller Schätze."

Akkarui Buthluva ließ den Juden töten. Er ließ dann hundert Säcke mit Bohnen an das Meer bringen. Er ging mit seiner jungen Frau und seinen zwei Knaben an das Meer. Die junge Frau rief Bretter herbei. Die Bretter kamen. Akkarui Buthluva stieg darauf. Er lud die hundert Sack Bohnen auf die Bretter. Die junge Frau nahm Abschied und sprang mit den beiden Knaben in das Wasser. Die Wellen des Meeres trugen Akkarui Buthluva und die hundert Sack Bohnen vom Lande des Juden weg. Akkarui Buthluva sah seine junge Frau und seine beiden Knaben nicht mehr.

Akkarui Buthluva kam auf den Brettern mit den hundert Sack Bohnen in das Land des Agelith, dessen Tochter so schön war, wie der Mond. Er ließ die hundert Sack Bohnen aus dem Lande des Juden dem Agelith bringen. Der Agelith gab dem Akkarui Buthluva seine Tochter zur Frau. Akkarui Buthluva war mit seiner Frau eine Woche lang verheiratet, da ertrug er die Sehnsucht nach seiner ersten Frau und seinen beiden Knaben nicht mehr. Als es Abend war, ging er an das Ufer und rief: "Meine Frau, komme mit unsern Kindern zurück! Meine Frau, ich halte es aus Sehnsucht nach dir nicht mehr aus! Meine Frau, wenn du bis Mitternacht nicht zurückgekommen bist, werde ich mich in das Meer stürzen." Akkarui Buthluva stand bis Mitternacht am Meere und wartete. Seine Frau kam nicht.

Als seine Frau bis Mitternacht nicht gekommen war, sprang er das Meer. Die Wellen des Meeres trugen Akkarui Buthluva fort. Sie führten ihn sechs Monate lang umher. Sie trugen ihn an das Ufer seiner jungen Frau zurück. Akkarui Buthluva sprang aber wieder.



Atlantis Bd_03-272 Flip arpa

in das Meer. Die Wellen trugen ihn wieder sechs Monate lang umher. Sie trugen ihn dann an das Ufer, wo die Stadt seines Vaters lag. Akkarui Buthluva sprang aber wieder in das Meer.

Die Tochter des Agelith der Jjenuen, die erste Frau Akkarui Buthluvas sagte: "Dieser Akkarui Buthluva liebt mich wirklich. Er läßt nicht von mir." Die Tochter des Agelith der Jjenuen trug Akkarui Euthluva und seine beiden Knaben an das Ufer. Akkarui Buthluva war glücklich.

Seine Frau fragte ihn: "Hast du noch eine Frau?" Akkarui Buthluva sagte: "Ja, ich habe noch eine Frau, ich will mich aber von ihr trennen. Ich will nur mit dir und unsern Kindern zusammen sein." Seine Frau sagte: "Tue das nicht, denn es ist eine gute Frau. Wir wollen sie mit uns nehmen." Die Tochter des Agelith der Jjenuen trug Akkarui Buthluva, die junge Frau, die so schön war, wie der Mond, und die beiden Knaben in das Land, in dem vorher der Jude gelebt hatte. Dort wurde Akkarui Buthluva der Agelith des Landes und lebte sehr glücklich.


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt