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Märchen aus Dänemark Norwegen und Schweden

Märchen europäischer Völker


Die Bergtrolle

Der Bergtroll ist ein riesengroßer Kerl. Wenn er durch die Wälder geht, überragt er auch die allerhöchsten Bäume. Oftmals hat er mehrere Köpfe. Die stärksten und größten werden immer Könige der Bergtrolle, und diese haben mitunter sogar sieben Köpfe oder noch mehr. Das Seltsamste an ihnen aber ist: sie besitzen nur ein Auge, das sie herausnehmen, putzen und polieren können, so daß sie wieder besser zu sehen vermögen.

Im allgemeinen sind nun diese Bergtrolle recht unangenehme Burschen. Früher hatten sie es an sich, daß sie menschliche Wesen wie dich und mich einfingen, ins Innere des Gebirges verschleppten und sie zwangen, dort für sie zu schrubben und zu waschen, zu putzen und zu schuften. Aber das war vor sehr langer Zeit. Heutzutage, da sind selbst die stärksten Trolle vor den Menschen bange, und selten wagen sie sich aus ihrem Wohnsitz im Gebirge weit fort. In alten Zeiten, als Menschen noch von den Trollen verschleppt wurden, fanden die Leute in den Dörfern schließlich ein Mittel, ihnen zu entkommen. Sie stellten fest, wenn sie eine Kirchenglocke ins Gebirge hinauftrugen und sie dort so laut läuteten, daß ihr Echo meilenweit rings in den Tälern widerhallte, dann vermochten die Trolle ihr Opfer nicht mehr festzuhalten und mußten es nach Hause zurückbringen. Denn seht, in den Kirchenglocken schwang eine Fülle von Frömmigkeit und Güte, vor der die Trolle erschraken, weil sie ihnen wie die Stimme eines Engels klang, eine machtvolle Stimme, so daß sie angstbebend ihre Gefangenen zurückgaben.

Etwas anderes, was sie nicht ertragen konnten, war das Licht der Sonne, denn wenn ein Troll der Sonne ins Gesicht sah, löste er sich augenblicklich in nichts auf, so wie Dunkelheit vergeht, sobald ein helles Licht aufleuchtet. Oft aber beobachtete man etwas Seltsames



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an solchen, die von Trollen erst eingefangen und dann wieder freigelassen wurden. Sie waren von dem Erlebten ganz verstört, sie wurden die Lieder der Trolle nicht wieder los, sie begannen zu Freunden und Nachbarn von merkwürdigen Dingen zu reden und saßen manchmal mit einem so gespannt lauschenden Gesichtsausdruck da, als horchten sie auf das Hämmern der Trolle tief drunten im Innern der Berge.

Das alles ließ sie ihren Freunden, die nicht wissen konnten, was sie erlebt hatten, recht sonderbar vorkommen und man hielt sich von ihnen fern, weil sie so anders als früher geworden waren. Man schüttelte den Kopf und flüsterte: »Armes Ding, etwas verrückt geworden, glaube ich.«Allgemein herrschte die Überzeugung, daß einer, der im Reich der Trolle gewesen war, selten als der gleiche zurückkam und immer so aussah, als sei er ein bißchen durchgedreht. Mit ganz besonderer Freude bemächtigten sich die Trolle der Schönsten unter den Sterblichen, und eine liebliche Prinzessin galt ihnen als höchster aller Gewinne.

Da gab es einmal einen König und eine Königin, die in dem schönen Lande Norwegen glücklich miteinander lebten. Doch eine große Sorge bedrückte sie: sie hatten keine Kinder, die später einmal das Volk regieren und für das Land sorgen würden, wenn sie selbst alt und grau geworden wären. An einem sonnigen Morgen wanderte der König durch seine Gärten, schaute trüben Auges auf die Blumen und war voller Leid, weil er keine Kinder hatte, die in dem schönen, stillen Schloß lachen, herumlaufen und spielen konnten. Plötzlich stand ein kleiner alter Mann mit einem weißen Bart, der bis zum Boden reichte, mitten auf dem Weg vor ihm.

»Guten Tag, Majestät«, sagte er und verbeugte sich tief, »seid nicht so traurig. Ich weiß, was euch bedrückt, doch verbannt euren Kummer, denn bald werdet ihr drei Töchter, die schönsten Mädchen auf der ganzen Welt, haben. Aber ich warne euch, sie dürfen nicht einen Schritt aus dem Palast heraus tun, bevor nicht die jüngste Tochter fünfzehn Jahre alt ist, denn wenn ihr das zulaßt, wird ein plötzlicher Sturm sie hinwegführen und ihr werdet sie niemals wiedersehen. Lebt wohl, Majestät, seid glücklich -doch vergißt meine Warnung nicht!«



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Und damit verschwand er.

Der König war derart froh und erstaunt, er wagte es kaum zu glauben, daß er den kleinen alten Mann wirklich gesehen und gehört hatte. Er eilte ins Schloß, um der Königin die gute Nachricht zu bringen, die vor Glück darüber in Weinen ausbrach.

Das Versprechen des kleinen alten Mannes ging in Erfüllung. Drei wunderschöne Töchter wurden dem König und der Königin geschenkt, und den stillen Palast erfüllte Lachen und Leben. Aber sorgfältig wurde des alten Mannes Warnung beachtet, und wenn auch die Fenster des Palastes weit offen standen, um Sonnenschein und Schmetterlinge einzulassen, so wurde es den drei Prinzessinen doch nie erlaubt, auch nur einen einzigen Schritt vor die Tore des Schlosses zu tun, weil sie sonst in einem Sturmesbrausen entführt werden sollten. Ein großer kräftiger freundlicher Wächter stand an jedem der Ausgänge.

An einem schönen Sommernachmittag, kurz vor dem fünfzehnten Geburtstag der jüngsten Prinzessin, war jeder im Palast müde von der Hitze und fast alle waren nahe am Einschlafen. Nur die drei Prinzessinnen und die Torhüter waren hellwach. Die Prinzessinnen fühlten sich so munter, daß sie nur den einen Wunsch hatten, hinaus in den sonnigen Garten zu kommen. Und schon eilten sie lautlos auf Zehenspitzen die Treppe hinunter. Unten angelangt, lief die älteste Prinzessin mit Namen Maria zum nächsten Wächter und sagte bittend:

»Es ist ein so schöner Tag, da kann es im Augenblick bestimmt keinen Sturm geben. Meinst du nicht, wir könnten nur für ein paar Minuten draußen sein? Bitte, laß uns hinaus!«

»Nein«, sagte der baumlange Wächter sehr freundlich, aber sehr fest und stellte sich mitten in den Türeingang, so daß sie nicht hinaus konnten.

Also gingen sie weiter bis zum nächsten Wächter und baten diesen. »Bitte«, sagte die zweitälteste Prinzessin mit Namen Elisabeth, »möchtest du uns nicht bis zum Goldfischteich laufen lassen - das ist doch nur ein so kurzer Weg, und wir würden bestimmt nicht lange bleiben? Der Garten sieht heute nachmittag so besonders schön aus.« — »Nein, das darf ich leider nicht«, antwortete der



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Wächter und lächelte sie an, denn er konnte sich gut vorstellen, wie schwer es sein mußte, an einem so herrlichen Nachmittag drinnen zu bleiben; aber er wagte es nicht, die Prinzessinnen herauszulassen.

Recht mutlos wandten sich diese wieder und schlichen betrübt durch den Gang. Gerade als sie den nächsten Wächter erreichten, wurde die Tür geöffnet, die in den Garten führte, und herein kam der alte Gärtner mit einem großen Blumenstrauß für das Zimmer der Prinzessinnen. Vor der offenen Tür lag ausgebreitet der Garten in sommerlicher Verzauberung. Die warme Luft, erfüllt vom Duft Hunderter Blumen, strömte in den Palast, indessen alle Wesen im Garten, die Vögel, die Bäume, die Blumen, die schläfrigen Bienen, die tanzenden Schmetterlinge, die kleinen Bäche, die Hasen, die Eichhörnchen, der Hirsch und alle die anderen Tiere, den drei jungen Prinzessinnen zuzurufen schienen, sie sollten doch herauseilen und draußen spielen.

»O seht nur, seht nur, seht nur!« rief Gerda, die jüngste Prinzessin und zeigte aufgeregt auf alles da draußen. »Bitte, bitte, bitte, laß uns hinaus - nur für zwei Minuten laß uns hinaus.«

»Es tut mir so leid, aber ich darf es nicht«, sagte der Wächter und schloß vorsichtig die Tür. Da brach die kleine Prinzessin in Tränen aus. Schließlich konnte der weichherzige Bewacher es nicht länger ansehen, wie bitterlich sie schluchzte, und er sagte:

»Also gut, wenn ihr alle drei versprecht, nicht eine Sekunde außer Sicht zu bleiben, will ich euch für ein paar Minuten hinauslassen.« Eifrig versprachen die drei, sich auch nicht für einen Augenblick aus dem Blickfeld des Wächters und aus der Nähe des Schlosses zu begeben - und dann spürten sie zum ersten Mal in ihrem Leben das frische weiche Gras unter ihren Füßen und warfen die Köpfe zurück, um, statt gegen die Decke des Saales, in den weiten blauen Himmel über sich zu schauen. Wie unendlich er sich ausbreitete! O wie glücklich sie sich fühlten! Sie tanzten, lachten und sprangen, pflückten sich die Arme voll Blumen, jauchzten und sangen vor Freude. Hin und wieder wandten sie sich um und winkten dem Wächter zu, um zu zeigen, daß sie ihn nicht aus den Augen verlören, und lächelnd winkte er dann zurück. Als sie ihre Arme so voll von Blumen hatten, daß sie keine mehr tragen konnten, sagte Prinzessin Maria:



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»Kommt jetzt, wir müssen zurück!«

Aber in diesem Augenblick entdeckte Prinzessin Gerda die schönste rote Rose, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte.

»Seht doch!«rief sie und zeigte auf einen schlanken Rosenstamm am Ende der Rasenfläche.

»Oh!« riefen Elisabeth und Maria gleichzeitig, »wie schön die ist! Die müssen wir noch haben!« und sie liefen um die Wette, wer von ihnen sie zuerst erreichen würde, und verloren dabei so manche der bisher gepflückten Blüten.

Plötzlich aber verdunkelte sich der Himmel, und bevor die Prinzessinnen Zeit hatten, umzukehren oder den Wächter zu rufen, war es schwarz wie die Nacht. Ein schreckliches Donnergetöse brach an und die Erde erbebte. Geradeso plötzlich, wie er gekommen war, legte sich aber der Sturm und der Garten ruhte wieder sonnenüberflutet. Doch die drei Prinzessinnen waren wie vom Erdboden verschwunden. Jeder Winkel und jede Ecke wurde durchsucht, jeder nur mögliche Teil des Gartens und des Schlosses. Tagelang wurde nichts als gesucht und gesucht, und durch Palast und Gärten hallte es: »Maria, Elisabeth, Gerda, wo seid ihr?«

Aber keine Antwort kam von den drei Mädchen. Der alte König wurde vor Kummer krank und die arme Königin so schwach und blaß, daß sie nicht mehr ihr Bett verlassen konnte.

Dann ließ der König eine Bekanntmachung aushändigen: wer die drei Prinzessinnen fände und sie heil nach Hause brächte, dürfe diejenige, die ihm am besten gefiele, heiraten und außerdem bekäme er noch das halbe Königreich.

Die drei Prinzessinnen waren im ganzen Land durch ihre Schönheit, Sanftmut und Freundlichkeit bekannt. Daher machte sich alles auf, junge und alte Männer, reiche und arme, große und kleine, dicke und dünne, kräftige und schwächliche, um sie zu suchen und zu finden. Aber obgleich sie monatelang suchten, konnte keiner entdecken, was mit den lieblichen Königstöchtern geschehen war . .

Nicht weit vom Schloß wohnte ein Jüngling namens Olaf. Er war ein verträumter Bursche, der den größten Teil der Sommertage damit verbrachte, ausgestreckt im frischen Gras zu liegen und in den blauen Himmel zu starren, während er im Winter die meisten



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Nächte damit zubrachte, lesend an der häuslichen Feuerstelle zu hocken. Seine Mutter hielt ihn für recht faul. Olaf hatte viele Geschichten von den goldhaarigen und blauäugigen Prinzessinnen gehört und viel darüber nachgedacht. Eines Tages sagte er zu seiner Mutter:

»Liebe Mutter, packe mir doch bitte etwas zu essen ein, denn ich will fortgehen und nachzuforschen versuchen, was aus den drei Prinzessinnen geworden ist.«

»Du, Olaf?«erwiderte seine Mutter, ganz erstaunt und zugleich sehr stolz und glücklich über ihren bisher so trägen Sohn. »Gut, ich wünsche dir viel Glück, mein Kind, und möge Gott dich segnen!«

Dann machte sie ihm ein Päckchen mit den besten Dingen zurecht, die sie im Hause hatte, und küßte ihn herzlich zum Abschied.

Mit seinen Eßwaren, die er in ein Tuch geknüpft am Ende eines Wanderstocks über der Schulter trug, machte sich Jung Olaf auf den Weg, seinen Vorsatz auszuführen. Kräftig ausschreitend, durchmaß er das heimatliche Tal und erreichte den nächsten Gebirgszug. Er kletterte hinauf und hinunter, kreuz und quer, hierherum und daherum, und dann abwärts, immer weiter abwärts bis ins nächste Tal. So ging das tage- und wochenlang. Manchmal wanderte er durch hohe schweigende Wälder, manchmal kam er an gewaltigen tosenden Wasserfällen vorbei, manchmal führte sein Weg am Strand eines lieblichen Fjords entlang, der halb im Schatten aufragender Berge lag. Hier und da mußte er einmal Pause machen, um sich an einem Gebirgsbach zu waschen und zu erfrischen; oder er mußte in einem einsamen Gehöft um ein Glas Milch oder etwas zu essen bitten, denn sein Bündel war längst schon leer. Aber wohin er auch kam, überall waren die Leute freundlich und hilfsbereit, denn jeder hatte von dem Aufruf des Königs gehört und alle wünschten Olaf Erfolg bei seinem Unternehmen.

An einem Abend, es war schon spät, kam Olaf zu einem großen alten Hof. Da es schon dunkel wurde, beschloß er, um ein Nachtlager zu bitten. Er trat ein und klopfte an die Haustür, aber niemand antwortete. Da keinerlei Geräusch zu hören war, klopfte er wieder und wieder. Schließlich drückte er die Klinke herunter und betrat den Raum. Niemand war drinnen.



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'Das ist drollig, dachte Olaf, >ich möchte bloß wissen, wo hier jemand ist?< Da hörte er sich nähernde Schritte, und ein kleiner alter Mann mit einem langen weißen Bart kam humpelnd heran. Er war so schwach und alt, daß er sich beim Vorwärtsbewegen auf zwei Stöcke stützen mußte.

>Guten Abend, Olaf«, sagte der Mann, als er eintrat.

»Guten Abend«, sagte Olaf, ganz erstaunt, daß der alte Mann seinen Namen wußte.

»Darf ich mich hier wohl etwas hinsetzen und meine müden Beine ausruhen?«fragte dieser.

»Aber gern«, erwiderte Olaf, »doch, weißt du, ich bin hier selber fremd.«

»Ja, ich weiß«, lächelte der alte Mann und steckte seine Hand in die Tasche, um eine kleine Pfeife herauszuholen. Nachdem er sie gestopft hatte, bewegte er seinen Finger in der Luft, von rechts nach links streichend, und zu Olafs Erstaunen tanzte sofort eine helle Flamme an der Fingerspitze, mit der die Pfeife angezündet werden konnte.

Nach einer kleinen Pause sagte das alte Männlein: »Junger Mann, bitte gib mir einen Silberschilling, damit ich mir etwas zu essen kaufen kann, denn ich bin sehr alt, sehr müde und sehr hungrig.«

»Ja.« erwiderte Olaf, der nun so ein Gefühl hatte, als wisse der kleine alte Mann mehr als gewöhnliche Leute, »Geld habe ich noch nie gehabt, aber Essen kann ich dir geben, wenn du mir helfen willst, etwas Holz zu hacken, so daß wir ein Feuer anmachen können, um darauf zu kochen.«

Der alte Mann sagte, er wisse nicht, wie man Holz hacke.

»Nun, du wirst es schon lernen«, sagte Olaf. »Komm mit, und ich will dir zeigen, wie das gemacht wird« — und er führte den alten Mann hinaus zum Holzschuppen. Dort suchte er einen langen dicken Klotz aus, nahm dann die Axt, die an der Wand lehnte, schwang sie im Kreis über seinen Kopf und schlug sie mit scharfem Schwung in das Holz.

»Nun«, sagte er zu dem alten Mann, »komm her und sieh, ob ich mit meiner Axt nicht fein hineingeschlagen habe und der Block richtig aufgespalten ist, denn das sollte er.«



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Der alte Mann humpelte durch den Schuppen hinzu, und da er ziemlich kurzsichtig war, beugte er sich tief über den Klotz, um ihn richtig betrachten zu können. Dabei hing sein langer weißer Bart in den Spalt hinein, den Olaf mit der Axt gehauen hatte. Schnell wie der Blitz, riß Olaf seine Axt heraus, der Spalt klappte zu und klemmte den Bart des alten Mannes ein.

»O,o,o,«, schrie dieser und stampfte auf vor Wut, »laß mich heraus, laß mich heraus!«

»Gewiß, gern«, antwortete Olaf, »wenn du mir sagst, was aus den drei Töchtern unseres Königs geworden ist, denn ich weiß genau, daß du es mir sagen kannst.«

Zuerst tobte und wütete der alte Mann und leugnete, daß er irgend etwas wisse. Aber schließlich zeigte es sich, wie richtig Olaf vermutet hatte. Und als das Männlein mit der Zeit zu müde wurde, um dauernd tief über den Haublock geneigt dazustehen, und weil es ihm trotz allem Ziehen und Zerren nicht gelang, seinen Bart freizubekommen, gab er nach und sagte: »Nun gut, ich will dir sagen, wo sie sind, wenn du mir fest versprichst, mich freizulassen. Wenn du drei Tage lang genau gen Osten gehst, kommst du auf den Gipfel eines hohen Berges. Dort wirst du einen flachen runden Stein sehen, den du von da, wo er steht, fortschieben mußt. Er ist sehr groß und sehr schwer. Wenn du ihn bewegt hast, wird vor dir eine tiefe, tiefe dunkle Höhle liegen, und durch diese mußt du hinunter. Aber du brauchst dich nicht zu fürchten. Der Weg abwärts führt durch Feuer und Wasser. Es ist ein schwerer und gefährlicher Weg; aber wenn du dich nicht fürchtest, wird dir auch nichts Böses geschehen.« Olaf wartete nicht einen Augenblick. Er befreite den alten Mann und ging ostwärts, ununterbrochen, so schnell ihn seine Beine nur tragen konnten.

Und richtig, nachdem er drei Tage und drei Nächte gewandert war, befand er sich auf dem Gipfel eines großen hohen Berges, genauso, wie es ihm der alte Mann gesagt hatte. Bald schon entdeckte er den gewaltigen runden Stein: er war wirklich sehr groß und sehr rund, aber Olaf ließ sich dadurch nicht abschrecken und machte sich gleich ans Werk. Er zerrte und zog, er zog und zerrte mit aller Kraft, bis er den Stein zuletzt mit einem plötzlichen Ruck bewegen und vom



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Eingang der Höhle, einer tiefen dunklen Höhle die abwärts führte, hinwegrollen konnte. Geduckt und auf Händen und Füßen kriechend, drang Olaf ein. Abwärts, abwärts, abwärts erstreckte sie sich. Es war so finster, daß alles ringsum schwarz zu sein schien. Da fiel Olaf das Wort des alten Mannes ein: »Fürchte dich nicht - und nichts Böses wird dir geschehen«, und er dachte an die drei Prinzessinnen mit Haaren wie Sonnenlicht und Augen wie blauer Sommerhimmel, und schon war er wieder guten Muts. Weiter ging es abwärts, abwärts, abwärts. Zuerst war nichts wie tiefste Finsternis, dann kam ein greller Lichtschein, und schon schwamm er in brennendem Feuer und lodernden Flammen, und dann, ganz plötzlich, stürzte er in schäumendes eiskaltes Wasser.

Das erste, was er wieder von sich wußte, war, daß er auf dem Boden einer riesengroßen dämmrigen Halle saß. Und, seltsam genug, obwohl er durch Feuer und Wasser gekommen war, sah er keine Spur davon an seiner Kleidung. Nachdem sich seine Augen an das trübe Dämmerlicht gewöhnt hatten, erkannte Olaf in einer Ecke der Halle etwas blinken und glänzen. Er stand langsam auf, ging darauf zu und war erstaunt, als er dort einen riesengroßen Pfahl aus Gold und Silber entdeckte, dreimal so groß wie er selber. Während er dieses Wunder noch bestaunte, fand er rechts daneben eine Tür. Er faßte sie vorsichtig an, sie ging auf, und man konnte einen großen düsteren Raum erkennen. Aber da begann sein Herz vor Erregung bis in den Hals hinauf zu schlagen, denn in der Mitte des Raumes saß Gerda, die jüngste der drei Prinzessinnen, und weinte still vor sich hin. Von ihren wunderschönen goldenen Haaren kam das einzige Leuchten in die Dunkelheit. Beim Aufgehen der Tür drehte sie sich ängstlich um. Wie groß war ihr Erstaunen, als sie Olaf erblickte!

»Oh!« brachte sie mühsam mit einer Stimme voll Freude und voll Furcht hervor. »Wer bist du? Wie bist du nur hierhergekommen? Haben auch dich die Trolle hergeschleppt?«

»Nein«, sagte Olaf, »ich komme, weil ich dich und deine Schwestern suchte. Ich heiße Olaf.«

Gerda sprang auf und lief zu ihm. »Du kamst uns suchen?« wiederholte sie völlig verwundert. »Also ist wirklich jemand so mutig, hier herunterzukommen? O wie herrlich ist das! Ich glaubte schon, wir



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würden nie, nie wieder aus diesem schrecklichen Ort befreit werden.« «

Plötzlich ergriff sie Olafs Arm und rief: »Aber nein, du darfst ja nicht hier bleiben<, du mußt sofort wieder gehen, denn wenn der riesige Troll dich bei seiner Rückkehr findet, frißt er dich auf. Fliehe, fliehe, schnell, ich bitte dich!«

Aber Olaf ergriff sanft ihre Hand und sagte:

»Prinzessin, ich bin gekommen, um dich und deine Schwestern zu befreien und euch wieder nach Hause zu bringen. Nachdem ich euch so lange gesucht und nun endlich gefunden habe, kann ich nicht weglaufen. Ich will den verruchten Troll töten, der dich so lange gefangenhielt.« «

Prinzessin Gerda wurde von Dank und Freude erfüllt. »Wie tapfer du bist«, sagte sie. »Was ich nur tun kann, um dir zu helfen, das will ich tun. Wir müssen nur sehr schnell sein, weil der Troll bald zurückkommen wird. Nimm das große Schwert, das du dort an der Wand hängen siehst, und, wenn du es vermagst, schwing es rund um deinen Kopf!«

Eifrig griff Olaf mit beiden Händen nach dem Schwert; doch zu seinem Schrecken konnte er es nicht einmal einen Fingerbreit von der Stelle bewegen noch gar über seinen Kopf herumschwingen. Er versuchte es wieder und wieder und strengte sich so sehr an wie nur möglich, aber das Schwert blieb unbeweglich dort, wo es war, ohne sich auch nur eine Kleinigkeit nach rechts oder nach links zu verschieben. Gerade als Olaf daran verzweifeln wollte, das Schwert von der Wand herunterreißen zu können, rief Gerda eifrig:

»Oh, nun fällt es mir ein, trink einen Schluck aus dem Horn, das neben dem Schwert hängt! Das wird dir Kraft geben, es zu ergreifen.« Olaf nahm einen großen Schluck, faßte dann das Schwert noch einmal und konnte es nun mit einer Hand halten. Glücklich schwang er es über seinen Kopf und rief:

»Sieh nur, Prinzessin, ich kann es, ich kann es!«

In diesem Augenblick war von draußen ein furchtbares Schnauben zu hören, so als ob drei Gewitter zu einem einzigen würden.

»Schnell, schnell!«, rief Gerda, »versteck dich hinter der Tür, Olaf!« Im nächsten Augenblick erzitterte die Tür und herein stampfte ein



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riesiger Troll mit drei Köpfen, jeder einzelne noch gräßlicher als der andere. Die Köpfe stießen an die Decke, und das ganze Haus schwankte unter seinem Schritt.

»Oh!«, brüllte er, »ich rieche einen Fremden hier.«

»Ja«, rief Olaf und sprang hinter der Tür hervor, »und nun sollst du ihn auch zu spüren bekommen.« Und damit sprang er auf den Tisch, und als der gewaltige Troll sich vorwärts bewegte, um ihn zu greifen, schwang Olaf das Schwert über seinem Haupt und schlug mit einem mächtigen Schlag dem Troll alle drei grausigen Köpfe ab.

Prinzessin Gerda war so glücklich, daß sie ihre Arme um Olafs Hals schlang und ihn küßte, und sie tanzten lachend vor Freude im Raum herum. Dann schauten sie einander an und sagten:

»Und nun zu den anderen.«

»Sage mir, wo kann ich deine beiden Schwestern finden, sind sie weit von hier?«

»Ach ja, das sind sie. Wenn du drei Tage und drei Nächte genau ostwärts gehst, kommst du zu dem Haus, in dem meine Schwester Elisabeth gefangengehalten wird -aber bitte, Olaf, kann ich nicht mit dir kommen?«

»Nein, Prinzessin«, sagte er und hoffte, sie würde verstehen, daß es sicherer für sie wäre, hier zu warten, bis er zurückkehrte, um sie abzuholen.

»Du mußt hierbleiben und uns erwarten. Inzwischen sammle alles Eßbare, dessen du habhaft werden kannst, zusammen und vergiß auch nicht Gold und Silber, denn wir haben eine lange Reise vor uns, bevor wir wieder zu Hause sind. Ich will mit deinen beiden Schwestern so schnell wie nur irgend möglich zu dir zurückkommen.«

»Nun gut«, sagte Gerda traurig, denn es war ihr gar nicht recht, Olaf fortzulassen. Doch dann fiel ihr ein, daß sie ja ihre lieben Schwestern wiedersehen sollte, und darüber wurde sie nun ganz aufgeregt und sehr froh. »Dann leb wohl, Olaf, leb wohl und guten Erfolg. Ich kann dir ja nie genug danken.« Und sie stand am Fenster und sah ihm nach und winkte, solange sie ihn noch sehen konnte.

Drei Tage und drei Nächte hindurch wanderte Olaf wieder ostwärts. Aber irgendwie verging ihm die Zeit schnell, denn er war glücklich, daß er die Prinzessin gefunden und daß er den Troll getötet hatte.



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Und er war ganz erregt, wenn er an die nächste Begegnung dachte. Auch war er begierig, recht bald zu der jungen Prinzessin zurückkehren zu können. Darum eilte er schnell dahin, voller Mut, Tatkraft und voll guter Gedanken.

Am Ende seiner Wanderschaft kam Olaf zu einer anderen hohen Tür, ähnlich der, die in den Raum führte, in dem er Prinzessin Gerda gefunden hatte, doch noch viel größer und gewaltiger. Er stieß kräftig dagegen, sie öffnete sich, und da lag ein sehr großer, sehr, sehr düsterer Raum. Diesmal war Olaf nicht erstaunt darüber, in der Mitte eine goldhaarige Prinzessin sitzen zu sehen, die still vor sich hin weinte. Es war Prinzessin Elisabeth. Als die Tür aufging, wandte sie sich mit einem Ruck um, und als sie Olaf sah, rief sie aus:

»Wer bist du? Was willst du hier?«

»Ich bin Olaf, und ich bin hergekommen, um dich zu befreien. Deine jüngste Schwester habe ich schon befreit.«

»Oh!« rief Elisabeth, sprang auf und lief ihm entgegen, »wie herrlich! Hast du den Troll totgeschlagen, der meine Schwester gefangenhielt?«

»Ja«, antwortete Olaf, »und nun will ich auch dich befreien.«

»Oh, du darfst aber nicht bleiben«, rief Elisabeth, »denn wenn dich der Troll bei der Heimkehr findet, frißt er dich auf. Schnell, schnell, geh, ich bitte dich!«

»Nein, ich kann und will nicht fliehen. Ich bin ja hier, weil ich den bösen Troll töten will, der dich schon so lange gefangenhält.«

»Wie tapfer du bist«, sagte die Prinzessin. »Ich will alles tun, was ich nur irgend vermag, um dir dabei zu helfen. Doch wir müssen uns beeilen, denn der Troll wird bald zurückkommen. Nimm das große Schwert, das du an der Wand hängen siehst, und versuche dann, es über deinem Kopf im Kreise zu schwingen.«

Eifrig griff Olaf mit beiden Händen nach dem Schwert. Er versuchte es wieder und wieder, er strengte alle Kräfte an, aber das Schwert blieb unbeweglich, wo es war, ohne sich auch nur eine Spur nach rechts oder links zu rühren.

Gerade als Olaf daran verzweifeln wollte, es je herunterholen zu können, rief Elisabeth plötzlich aus:

»Ach ja, jetzt fällt es mir ein, nimm einen Schluck aus dem Horn,



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das neben dem Schwert hängt. Das wird dir die Kraft geben, es aus der Scheide zu ziehen.«

Olaf nahm einen großen Schluck, und als er nun das Schwert mit beiden Händen faßte, konnte er es von der Wand herunterholen. Doch es war noch viel schwerer, als daß er es über seinem Kopf hätte herumschwingen können. Deswegen nahm er nochmals einen tiefen Schluck aus dem Horn, und nun konnte er gleich das Schwert so leicht bewegen, wie du einen Federhalter bewegen kannst. Aber schon erscholl von draußen ein so fürchterliches Toben, als ob die gewaltigsten Berge der Welt ineinanderkrachten.

»Schnell, schnell«, rief Elisabeth, »lauf hinter die Tür!«

Olaf hatte gerade noch Zeit, hinter die Tür zu schlüpfen, als sie auch schon aufsprang und ein füchterlicher Troll hereinstampfte, noch größer, als der erste gewesen war, und mit sechs statt nur mit drei Köpfen. Als er eintrat, mußte er diese Köpfe beugen, wenn er mit ihnen nicht an die Decke anstoßen wollte.

»Oho!«brüllte er, und sein Atem sprengte fast die Fenster, »ich rieche einen Fremden.«

»Ja«, schrie Olaf und sprang hinter der Tür vor, »aber nun sollst du ihn auch fühlen.« Und schon war er mit einem Satz auf dem Stuhl, von dort auf dem Kaminsims, schwang das gewaltige Schwert über seinem Kopf im Kreise herum, und mit diesem einen wuchtigen Schlag hieb er dem Troll alle sechs gräulichen Köpfe ab.

Nun war auch die zweite Prinzessin frei. Elisabeth war so glücklich, daß sie Olafs Hände ergriff und beide zusammen um den Tisch tanzten. Dann aber fragte Olaf: »Nun muß ich noch deine andere Schwester finden. Sag mir, Prinzessin, ist sie weit von hier?«

»Ach ja, das ist sie. Wenn du drei Tage und drei Nächte genau ostwärts gehst, kommst du zu dem Haus, in dem meine Schwester Maria gefangengehalten wird. Oh, schrecklich daran zu denken -doch du bist ja so tapfer!«

Olaf sagte der Prinzessin, daß er gar keine Furcht habe und so schnell wie möglich zu ihr zurückkommen werde. Voller Rührung dankte Elisabeth ihm immer wieder und wieder. Schließlich aber nahm er Abschied und ging fort, um auch die letzte Prinzessin zu befreien.



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Drei Tage und drei Nächte wanderte er ostwärts. Er beeilte sich, so sehr er konnte, denn die Erfüllung seiner Aufgabe rückte näher.

Endlich war Olaf am Ziel und kam wieder zu einer Tür, ähnlich denen, die zu den Räumen der beiden jüngeren Prinzessinnen geführt hatten. Aber diese hier drohte riesengroß. Olaf stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht dagegen, und es öffnete sich die Tür, die in einen unheimlich großen Raum führte, der unsagbar hoch und ganz unsagbar düster war. Es war so finster, daß Olaf erst nach einiger Zeit die älteste Prinzessin erkennen konnte, die still weinend in der Mitte des Raumes saß. Prinzessin Maria war ganz außer sich, als sie Olaf sah, und rief:

»Wer bist du? Und warum bist du an diesen schrecklichen Ort gekommen?«

»Ich heiße Olaf, und ich bin gekommen, um dich zu befreien. Deine zwei Schwestern habe ich schon befreit, und sie warten auf dich.«

»Oh«, rief Maria aus, »ist es denn wirklich wahr, daß jemand sich bis hierher getraut hat? Was ist mit den schrecklichen Trollen geschehen, die meine Schwestern gefangenhielten? Und wie geht es meinen armen Schwestern?«

»Die Trolle sind tot, ich habe sie getötet«, erwiderte Olaf. »Deinen Schwestern geht es gut, und sie warten sehnsüchtig auf dich.«

»Oh, was bist du für ein Held! Ich bewundere dich, aber höre mir nur ja gut zu! Ich darf dich hier nicht einen Augenblick länger dulden«, rief Maria dann völlig verstört, »denn wenn der grausige Troll dich bei seiner Heimkehr findet, frißt er dich mit Haut und Knochen auf. Ich bitte dich: fliehe, fliehe, schnell!«

»Nein«, sagte Olaf ruhig. »Ich verlasse dich nicht. Bin ich doch gekommen, um den Troll zu töten, der dich gefangenhält.«

»Wie unglaublich tapfer du bist«, sagte Maria, »ich will alles tun, was ich kann, nur um dir zu helfen.« Dann riet Prinzessin Maria dem Olaf, ebenso wie es ihre zwei Schwestern getan hatten, das an der Wand hängende Schwert zu nehmen. Maria war noch viel aufgeregter, als es ihre Schwestern gewesen waren. Vor lauter Verstörtheit und Erregung rang sie dauernd die Hände. Dieses Schwert aber war riesengroß. Es war zweimal so lang wie jenes, das Olaf zuletzt gehalten hatte, und das war schon wuchtig genug gewesen. Trotzdem



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ergriff er es voller Zuversicht, und jeder Muskel seines Körpers schwoll bis zum Platzen, als er es von der Wand zu reißen versuchte.

Aber das Schwert blieb unverrückt an seinem Platz. Olaf versuchte es wieder und wieder, und als er am Ende völlig verzweifelte, es je bewegen zu können, schrie mit einmal Maria auf:

»Oh, nun weiß ich es wieder! Trinke aus dem Horn, das neben dem Schwerte hängt. Dadurch wirst du die Kraft bekommen, es zu bewegen.«

Olaf tat einen ganz großen Zug, doch als er das Schwert erneut faßte, gelang es nur, es anzuheben, es war viel zu schwer, um es herunterzuholen. Deshalb nahm er noch einen großen Schluck und versuchte es erneut. Diesmal vermochte er es an sich zu nehmen, aber er mußte erst noch einen dritten Trunk tun, ehe er es über seinem Kopf konnte kreisen lassen. Gerade als Olaf das Schwert triumphierend hochschwang, kam ein furchtbares Tosen von draußen her. Olaf glaubte, die ganze Welt zerbräche. Prinzessin Maria sprang zu ihm, schob ihn hinter die Tür und schrie ihm dann ins Ohr, denn nur so konnte sie sich in dem Aufruhr verständlich machen:

»Bleib hier stehen, Olaf, und bewege dich nicht! Ich will dem Troll einen Schlaftrunk brauen, und dann kannst du ihm die Köpfe abschneiden.«

Sie lief schnell in die Mitte des Raumes zurück, und schon stampfte ein fürchterlicher Riese herein. Olaf hatte noch nie etwas so Grausiges gesehen. Es war ein Troll mit neun Köpfen, neun langen entsetzlichen Nasen, neun furchtbaren Mäulern und einem gespenstigen Auge. Als er sich hereinschob, zitterte und wankte der Raum so heftig, daß Olaf glaubte, die Decke wollte zusammenstürzen.

»Oho!«brüllte das Monstrum schnaufend, und Olaf klammerte sich an den Teppich, um nicht fortgefegt zu werden. »Ich rieche einen Fremden.«

»Ja«, sagte Maria so ruhig wie möglich, »ein kleiner Junge kam an diesem Nachmittag hierher, und ich koche ihn dir gerade als Abendsuppe. Aber du bist gewiß sehr müde, und deshalb ruhe dich erst etwas aus, während ich alles fertig mache.«

Der alte Troll grunzte Einverständnis, leckte sich im Gedanken an eine gute Suppe seine schrecklichen Lippen und legte sich auf sein



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Bett. Schnell war er fest eingeschlafen und schnarchte gewaltig durch alle neun Nasen. Maria winkte Olaf, und rasch sprang er aus seinem Versteck und ans Kopfende des Bettes, in dem der Troll lag. Dann hob er mit kühnem Schwung das unförmige Schwert und ließ es sausend auf die neun Köpfe des schnarchenden Giganten niederfallen. Acht Köpfe wurden durch diesen einen fürchterlichen Hieb abgeschlagen, aber ein unheimlicher Kopf lebte noch. Unter röhrendem Gebrüll wachte dieser letzte Kopf auf, und der Troll griff nach Olaf, gierig, ihn in seine riesige blutrote Kehle zu stecken. Aber mit Blitzesschnelle schwang Olaf das Schwert rundherum und tötete mit einem letzten Schlag auch noch den neunten Kopf.

Nun waren alle drei Prinzessinnen frei, Maria, Elisabeth und Gerda. Ohne jetzt auch nur noch einen Augenblick zu warten, ergriff Olaf die Hand der ältesten Prinzessin, und schnell wie der Wind rannten sie davon in Richtung des Hauses, in dem Elisabeth auf sie wartete. Als Elisabeth sie kommen sah, wollte sie ihren Augen kaum trauen, und vor Freude weinend und lachend fielen sich die Prinzessinnen in die Arme.

Es kann mit Worten gar nicht gesagt werden, wie dankbar sie Olaf waren. Dann machten sich alle drei auf den Weg zu Gerda, und Olaf fühlte sich seltsam glücklich. Als Gerda sie kommen sah, lief sie ihnen entgegen, und nachdem sie ihre beiden Schwestern umarmt hatte, umfaßte sie Olaf und schmiegte sich fest an ihn an. Dann zeigte Gerda ihnen alles Gold und Silber, das sie gesammelt hatte, und sie stopften sich die Taschen voll, ehe sie sich auf den Weg nach Hause begaben. Olaf erzählte ihnen, daß sie bei ihrer Wanderung durch Feuer und Wasser hindurch müßten, und widerholte ihnen die Worte des kleinen alten Mannes mit dem langen weißen Bart: »Habe keine Furcht, dann wird dir nichts Böses geschehen!«

Die drei Prinzessinnen waren bei dem Gedanken, ihre geliebten Eltern bald wiederzusehen, so glücklich, daß sie fest glaubten, jeder Gefahr mutig ins Angesicht sehen zu können. Olaf führte sie in die Halle, in der er sich zuerst befunden hatte, und dort entdeckten sie im Hintergrund eine schmale gewundene Stiege. Sich an den Händen haltend und von Olaf geführt, kletterten sie aufwärts und immer weiter aufwärts. Um sie war pechschwarze Nacht, sie aber lachten



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furchtlos. Dann stürzten sie plötzlich in eiskaltes Wasser. Im nächsten Augenblick trieben sie durch loderndes Feuer und züngelnde Flammen; danach folgte wieder völlige Dunkelheit, und das Nächste, wovon sie wußten, war, daß sie sich Hand in Hand auf dem Gipfel eines hohen Berges befanden. Olaf schrie vor Feude auf, denn er erkannte den Platz, und gleich fand er auch den großen runden Stein, den er auf seine alte Stelle zurückrollte und so die schreckliche finstere Höhle verschloß.

Nun hatte all ihr Leid ein Ende, und singend und springend ging es heimwärts, dem väterlichen Schlosse zu.

Ein Wächter auf dem Wachtturm der Königsburg war der erste, der vier winzige Gestalten am fernen Horizont auftauchen sah. Als sie näher und näher kamen, erkannte er die drei Prinzessinnen, und als diese das Schloß erreichten, da läuteten die Glocken, da wehten die Fahnen, schmetterten die Trompeten, und jedermann im Palast war außer sich vor Freude. Der alte König und die Königin, die schon alle Hoffnung aufgegeben hatten, jemals ihre geliebten Töchter wiederzusehen, weinten vor Glück und zitterten vor Erregung.

Volle drei Wochen lang wurde im ganzen Lande getafelt und getanzt und voller Freude gejubelt. Olafs Name war in aller Munde, und bis heute kannst du in ganz Norwegen Geschichten von seiner Tapferkeit erzählen hören. Seine alte Mutter war so stolz auf ihn, daß sie vor lauter Glück kaum zu sprechen vermochte. Aber ganz sicher war niemand so stolz auf ihn wie die Prinzessin Gerda. Und nichts, nicht das halbe Königreich, nicht alle ihm zu Ehren veranstalteten Banketts und Feiern, nicht die lauten Lobpreisungen haben Olaf so glücklich gemacht wie seine Heirat mit der jüngsten Prinzessin. Von nun ab lebten Olaf und Gerda in ungetrübter Herrlichkeit.


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