Projektseite Volksmärchen Sagen Geschichten Etnologie Beriche © Arpa data
Textbreite
Schriftgröße
Kapitel 

Hauffs Werke

Fünfter Teil Novellen

Herausgegeben von

Max Drescher

Berlin Leipzig — Wien — Stuttgart

Deutsches Verlagshaus Sang & Co.



Hauff_Vol_5-005 Flip arpa

Seite

Einleitung des Herausgebers . . . . . . . . , , , , , , {7}

Novellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . {21}

Vertrauliches Schreiben an Herrn W. A. Spöttlich . . {23}

Die Bettlerin vom Pont des Arts. . . . . . . . . . {28}

Othello . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . {116}

Jud Süß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . {154}

Die Sängerin . . . . . . . . . . . . . . . . . . {213}

Die letzten Ritter hon Marienburg . . . . . . . . . {254}

Das Bild des Kaisers . , , . . . . . . . . . . . {306}

11. Gagné? — Perdu!

Elise saß zu derselben Stunde vor der Toilette. Gedankenvoll sah sie vor sich hin, indem das Kammermädchen ihre Haare ordnete. Vielleicht hatte der tägliche Anblick dieser Zofe den Stachel entheiligter Liebe nur immer noch tiefer in das Herz gedrückt; und dennoch vermochte sie nicht über sich, das Mädchen wegzuschicken. Es war der Stolz einer erhabenen Seele, was sie von diesem Schritt abhielt, der vielleicht auch von ihren Eltern getadelt worden wäre; denn das Mädchen diente treu und geschickt. Doch so tief diese Wunde sein mochte, Elise suchte in diesem Augenblick ihren Schmerz zu übertäuben . Wenn nach den Gesetzen der Natur das Wesen in uns zu derselben Zeit verschiedentlich beschäftigt sein könnte, wenn es möglich wäre, in dem nämlichen Moment in dem Herzen so ganz anders zu fühlen, als man oben hinter den Augen denkt, so müßte Elisens Seele in dieser Stunde nach verschiedenen Richtungen sich geteilt haben. Im Hintergrunde ihres Herzens flüsterten tiefe, wehmütige Töne die Erinnerung einer schönen Zeit, sie sangen in klagenden Weisen jene Tage, wo Elise auf der ersten Stufe der Jugend das Auge de:, Geliebten verstand. In volleren Akkorden rauschten diese Erinnerungen, als sie von Stunden seliger Liebe, von Trennung und der Wonne des Wiedersehens sprachen. "Verloren, verloren durch seine eigene Schuld!" weinte dann ihre Seele. "Untergegangen ein so großer, schöner Geist in Leichtsinn und Niedrigkeit!" Doch diese Gefühle schlichen nur gleich Schatten vorbei. Sie suchte mit aller Gewalt des Geistes den Blick von diesen Erscheinungen abzuwenden, sie dachte sich das ruhige, klare Wesen ihres zukünftigen Gatten, sein bescheidenes und doch so würdiges Betragen, seine reine Herzensgüte — sie rief sich alles dies hervor, ja, sie versuchte zu lächeln und freundlichere Gefühle dadurch zu erringen, aber — es gelang ihr, ruhig, doch nicht heiter zu werden.

Der Putz war vollendet, sie richtete sich vor dem hohen Spiegel auf, und die ire ude an ihrer eigenen hübschen Gestalt verdrängte auf Augenblicke jene düsteren, wehmütigen Bilder.

"Nein, und wenn er noch so Proper angetan wäre," sagte in diesem Augenblick da:, Kammermädchen am Fenster, "mich soll er nicht mehr anreden dürfen!"

"Ich habe dir gesagt, du sollst nicht mehr von solchen Dingen reden," rief Elise mit der Röte des Unmutes auf den Wangen.

"Ach Gott! Gnädiges Fräulein, ich will ja auch gar nichts mehr von dem schlechten Menschen wissen aber ich sagte nur so, weil er wieder in Herrn Kapers Laden steht.

Elise zitterte, sie wollte von dem Spiegel hinwegeilen; aber



Hauff_Vol_5-304 Flip arpa

unwiderstehlich zog es sie an das Fenster. Sie warf einen Blick hinüber, und unter jener Tür stand — Doktor Zündler.

"Wie!" rief sie, kaum ihrer Worte mächtig, der Zofe zu, "ist es denn dieser?"

J, freilich! Swer werden Sie mir nur nicht böse!"

"Und dieser ist derselbe, den du damals meintest ?" fuhr sie mit bebenden Lippen fort.

"Wer denn anders?" entgegnete jene ruhig; "aber ich weiß jetzt, er ist ein schlechter Mensch, und jetzt weiß ich auch, wie er heißt: Doktor Zündler."

"Geh, geh, bringe die Kleider weg," flüsterte Elise, indem sie ihr glühendes Gesicht halb bewußtlos in die Kissen des Sofas drückte; das Mädchen eilte erschrocken hinweg, und die unglückliche Braut war mit ihrem Gram allein. Welche Gefühle stimmten auf sie ein! Beschämung, Liebe, Unmut über sich selbst. Sie sprang auf; ein Gang durch das Zimmer machte sie mutiger. Sie wollte Rempen alles gestehen; sie war einen Augenblick überzeugt, er werde so edel sein, zurückzutreten, Palvi werde leicht zu versöhnen sein. Aber die Stadt wußte, daß heute ihre Verlobung sei. Ihr Vater hat dem Geliebten sogar das Haus verboten; wurde er jemals einwilligen, sie glücklich zu machen? Nein! —Scham vor der Welt, Reue, Angst warfen sie nieder. Bleich, erschöpft und zitternd fand sie der Stallmeister, als er bald darauf ernster, als zu diesem fröhlichen Tag sich schickte, in Elisens Zimmer trat.

"Ich muß Ihnen eine sonderbare Nachricht geben," sagte er bewegt, indem er sich zu ihr setzte und, beschäftigt mit seinen Gedanken , ihre Verwirrung nicht bemerkte. "Palvi ist weggereist, und zwar auf immer."

"Er ist tot!" rief sie. "Gewiß, schnell, sagen Sie es nur heraus, er hat sich getötet!"

Nein," erwiderte Rempen, " er hat mir einen Brief zurückgelassen, worin er Sie und mich zum letztenmal begrüßt. Er ist nach Frankreich gegangen. Dorthin lautet auch sein Paß, wie mir soeben mein Onkel erzählte."

Elise schwieg. Sie fühlte, daß sie ihn erst in diesem Augenblick ganz verloren habe; aber sie hatte Kraft genug, jeden Laut des Kummers zu unterdrücken.

"Doch, was Sie noch mehr befremden wird," fuhr er fort, "jenen Roman, den Sie uns letzthin erzählt haben, hat uns der Autor selbst vorgelesen."

"Palvi!" rief sie in so eigenem Ton, daß der Stallmeister erschrak "Er wäre —"

"Hüon, der Autor der .Letzten Ritter von Marienburg'. Es steht



Hauff_Vol_5-305 Flip arpa

schon in öffentlichen Blättern, und hier schickt er mir und Ihnen dieses Werk." Der Stallmeister öffnete ein Paket und gab Elisen die Bücher. Sie öffnete eines derselben. Ihr Blick fiel auf das Märchen, woraus Palvi mit so sonderbarem Akzent einige Reime gelesen, und jetzt erst stieg eine längst erbleichte Erinnerung in ihr auf. Es war ja ein Märchen, das Palvis Vater den Kindern oft erzählt hatte.

Eine große Träne schwamm in ihrem schönen Auge und fiel herab auf diese Zeilen.

In diesem Augenblick öffneten sich die Flügeltüren. Mit feierlichem Gesicht und überladen mit seinen Orden, trat der Geheime Rat von Rempen herein. Mit Anstand trat er vor da: Fräulein ihr den Arm zu bieten. "Die Familien sind im Salon versammelt," sprach er. "Ist es gefällig, jetzt die Ringe zu wechselns Doch wie? Sind Sie so sehr in unsere Literatur verliebt, daß Sie sogar gerade vor der Verlobung Lesestunden mit meinem Neffen halten? Was lesen Sie denn, wenn man fragen darfs"

Mit einem schmerzlichen Lächeln stand Elise auf und nahm seinen Arm. "Etwas Altes in neuer Form," erwiderte sie, "ein Märchen von unteraegangener Liebe!"

"Ei, ei," setzte der Oheim lächelnd und mit dem Finger drohend hinzu, "etwa: Solches vor der Verlobung? Und wie heißt denn der Titel?" fragte er, indem er sie in den Saal führte.

"Er heißt; ,Die letzten Ritter von Marienburg."'


Copyright: arpa, 2015.

Der Text wurde aus der Märchen-, Geschichten- und Ethnien-Datenback von arpa exportiert. Diese Datenbank wurde dank Sponsoren ermöglicht. Es würde uns freuen, wenn wir mit Ihrer Hilfe weitere Dokumente hinzufügen können.
Auch bitten wir Sie um weitere Anregungen in Bezug auf Erweiterungen und Verbesserungen.
Im voraus Dank für die Mithilfe. Spenden können Sie unter In eigener Sache

Ihr arpa team: www.arpa.ch Kontakt